Название | Werd ich noch jung sein, wenn ich älter bin |
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Автор произведения | Reiner Schöne |
Жанр | Философия |
Серия | |
Издательство | Философия |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783862870554 |
Mir bleiben jetzt weniger als zwei Wochen, mein Leben zu regeln. Verabschieden geht nicht, von keinem; wenn die Polizei kommt und Freunde und Familie befragt, dann sollten die aus allen Wolken fallen und echt geschockt sein. Mitwisser werden bestraft, ergo kann ich von keinem die oscarreife Schauspielkunst verlangen.
Wie lange wird es dauern, bis ich dann meine Eltern wiedersehe, meinen Bruder und seine Familie, meine Freunde? Zehn Jahre? Länger? Können wir uns in Prag treffen? Ist das jetzt die Trennung von meiner Freundin, die drei Jahre lang über uns hing wie das Damoklesschwert? Die Trennung.
Ich muss irgendwas mitbringen ins neue Leben, irgendwas, das mir einen Kick-Start ermöglicht.
Im Februar soll ich mit dem Orchester Walter Eichenberg diese Wahnsinnsproduktion machen in Leipzig. Vier Titel aus meinem Musicalerfolg »Der Musicman«. Vier Songs in englisch und deutsch. Scheiß Timing. Zu spät. Oder?
Was ist, wenn ich mir so einen Status erarbeiten könnte wie Gisela May zum Beispiel, mit der ich »Orpheus steigt herab« gemacht hab, mein erstes Fernsehspiel. Sie darf im ,neutralen Ausland’ singen. Warum kann ich das nicht und könnte dann in Schweden bleiben, oder in Österreich?! Mit längerer Vorbereitung. Dann muss ich nicht so Hals über Kopf weg. Das ist meine erste Republikflucht, da brauch ich Zeit dafür.
Am 29. Januar bin ich am Kudamm. Laufe wie auf einer Wolke. Sieben Jahre nach dem Mauerbau bin ich endlich wieder in Westberlin. Der Abend geht irgendwie an mir vorbei, das ist alles so unwichtig, und ist es doch nicht. Denn gleich nach meinem Auftritt krieg ich eine Einladung für einen weiteren Gig in Westberlin, im März. Aha, die berühmte zweite Chance. Werd ich also im März abhauen.
Kurz vor null Uhr fahr ich zurück nach Ostberlin.
Das erste, was mir auffällt, als ich aus dem Bahnhof Friedrichstraße komme ist: es ist stockdunkel hier. Die haben das Licht ausgemacht in der DDR. Westberlin war so hell. Auf dem sibirischen Parkplatz des Metropoltheaters steht einsam mein Wartburg zwischen den tausend Pfützen. Bevor ich den Schlüssel im Zündschloss drehe, bleib ich fünf Minuten still sitzen. Die Angst überfährt mich wie ein D-Zug. Was hab ich gemacht? Was ist, wenn die mich nicht wieder rauslassen, im März. Das Gefühl, soeben den größten Fehler meines Lebens gemacht zu haben, würgt meine Seele. Ich friere und fahre heim.
Am nächsten Morgen im Theater ist das Erstaunen groß. »Wieso bist’n du zurückgekommen? Das hätt ich ja nie gedacht, wir haben eigentlich erwartet, dass du abhaust.«
Na wunderbar, das wird helfen, wieder eine Unbedenklichkeitserklärung von meinem Intedanten zu kriegen. Ein schönes Image hab ich da. Die Garderobiere E. sagt bitter: »Sie dürfen in Westberlin singen, und mich haben die noch nicht mal zur Beerdigung meiner Mutter rüber gelassen.« Jetzt fühl ich mich so richtig beschissen.
Zwei Wochen später sing ich mir im Leipziger Tonstudio die Seele aus’m Leibe. Die Rundfunk Big Band ist in Hochform, die Musicman-Arrangements klingen fett und rund, da hab ich was zum Einstieg im Westen. Noch vier Wochen bis zum 15. März.
Ich telefoniere vorsichtig rum, frage, wann kann ich denn die Kopien der Aufnahmen haben, bitte? Es dauert. Die haben’s ja nicht so eilig wie ich. Der Tag X rückt immer näher. Im Theater fangen die Proben an. Zu einem alten Broadwaymusical, »Can Can«. Wen soll das denn vom Hocker reißen!?
Ich bitte den Regisseur, mir nur eine kleine Rolle zu geben, dann ist der Hassel mit der Umbesetzung nicht so groß, wenn ich weg bin. Ich erfinde irgendeine Erklärung, ich hätte so viele Auftritte oder irgendwas. Die Kollegen wundern sich, als der Besetzungszettel am Schwarzen Brett hängt.
Ich werde immer hibbeliger, ich krieg diese fucking Music-Man-Bänder nicht. Der Auftrittstag kommt, wieder die alte Routine, ich hole meinen Tagespassierschein ab, fahre mit der S-Bahn nach Westberlin, null Uhr muss ich wieder zurück sein in Ostberlin - und 23 Uhr 30 bin ich zurück. Vor drei Tagen kam nämlich der dritte Gig in Westberlin, am 26. Mai. Die Notbremse.
Langsam wundert sich keiner mehr, ich gelte als sicher. Aber als ich im Funkhaus in der Nalepastraße über den Hof gehe, kommt mir Karl-Heinz O. entgegen. Der Musikredakteur.
Er kuckt mich an und spricht’s aus: »Du bist jetzt schon zweimal aus Westberlin zurückgekommen; ich trau dir nicht, du bereitest doch irgendwas vor.«
Da fällt’s einem schon schwer, cool zu bleiben. Ich sehe die Schrift an der Wand. Time to go! Time to say good-bye.
30. April. Nachts. Ich bremse auf den Basalt-Pflastersteinen im Berliner Norden; Lindenblütenstaub und Nieselregen machen die Straße glatt wie Schmierseife, der Wartburg bricht aus, schlingert, sägt eine junge Linde um, donnert in ein Gemüsegeschäft, schräg wieder raus und steht wie ‘ne Eins. Totalschaden.
Ich komme langsam zu mir. Vor drei Sekunden hab ich den berühmten Flash erlebt. Das war’s dann, this is the end, my friend. Und mir schoß durch’s Hirn: »Scheiße, jetzt krieg ich nie einen roten Mustang.«
5. Mai. Ich kriege eine Einladung vom Folksong-Festival auf der Burg Waldeck. Irgendwo an der Mosel, jedenfalls im Westen. Im Juni. Das ist ein internationales Liedermachertreffen, die wollen, dass ich meine Protestsongs singe, einen Workshop mache, das ist ein großes politisches Festival mit vielen Größen der Folkszene. Ich bin begeistert und stelle mein Konzept zusammen, schicke es dem Ministerium für Kultur - Klaus Gysi ist da der Chefminister - und kriege die lakonische Absage: »Wir sind an solchen Kontakten nicht interessiert.« Das war denen zu unkontrollierbar links.
19. Mai. Nach der Vorstellung »Der Musicman« (meine beste Rolle am Metropoltheater) steht ein Gentleman am Bühneneingang, ein eleganter Herr mit einem gepflegten Oberlippenbart. Er sieht aus wie ein Filmstar der UFA und spricht mich an: »Mein Name ist Kutschera, ich bin der Direktor des ‚Theaters an der Wien’.« Sein Wiener Akzent begeistert mich. Very charming.
»Ich hab Sie eben auf der Bühne gesehen, ich möchte Ihnen anbieten, ein Musical von Udo Jürgens in Wien zu spielen, ,Helden’, nach George Bernard Shaw. Glauben Sie, dass Sie nach Wien kommen dürfen?«
Halleluja, das isses! Da kann ich ja bisschen testen, ob’s mir im Westen überhaupt gefällt.
Der Wiener Theatermann gibt mir seine Telefonnummer, und am nächsten Morgen sitze ich meinem Chef im Büro gegenüber.
»Chef, ich hab da ‘n Angebot aus Wien, das würd ich gerne machen.«
Und was sagt mein Chef, der mich seit Jahren gefördert hat, zu dem ich ein richtiges Vater-Sohn-Verhältnis habe? Er sagt den Satz, der die letzte Entscheidung nach sich zieht, der die Lawine auslöst, the Final Countdown. Er sagt: »In Wien spielen sie schlechtes Theater, bleib mal lieber hier, wir haben bessere Sachen mit dir vor.«
Über meinem Kopf wächst jetzt eine kleine Sprechblase, wie in einem Comic. »So, das wars. Dosvidanya DDR, jetzt hau ich ab!« Ich hoffe nur, dass sich mein Chef nicht noch an die Unbedenklichkeitserklärung erinnert, die er unterschrieben hat für meinen Gig in Westberlin. Nächsten Sonntag.
In einer Nacht- und Nebelaktion werden mir von einer Tonassistentin alle meine Rundfunkproduktionen überspielt. Auch die Leipziger Musicman-Produktion. Ich habe meine Bänder! Und sage Good-bye zu den zwei Freunden, denen ich traue.
Und dann kommt der härteste Abschied. Von meiner Freundin. Wir haben es drei Jahre lang gewusst, gefürchtet, hinausgezögert.
Zehn vor zwölf, am 26. Mai 1968, stehe ich in meiner Theater-Garderobe und lege meine Versicherungspapiere in meinen Schminktisch. Ich werde morgen meinem Chef aus Westberlin schreiben, er soll sich die zwölftausend Mark Vollkaskoversicherung abholen für meinen Autocrash und damit die Umbesetzungsproben bezahlen, die meine Flucht nach sich ziehen wird. (Wieso bin ich in dieser Situation so preußisch korrekt und bestelle mein Haus, bevor ich es verlasse?!)
Dann sag ich dem Pförtner ein langes Auf Wiedersehen - sonst ist kein Mensch im Theater an diesem Sonntag - und gehe zum Grenzübergang im