Название | Überleben als Verpflichtung |
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Автор произведения | Inge Deutchkron |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783766641328 |
Es war der 6. Oktober 1972. Der schrille Ton einer Sirene weckte mich aus tiefem Schlaf. Ich glaubte mich in Berlin im Zweiten Weltkrieg. Die Nachbarin riß mich aus meiner Verwirrung. Die Ägypter hätten den Suezkanal überschritten. Es sei Krieg. Ihr Mann stand bereits in Uniform vor mir. Er ergriff sein Gewehr, küßte seine Frau zum Abschied, so als ob er auf irgendeine Reise ginge. In der Redaktion übernahmen wir Frauen Aufgaben von unseren Kollegen, die bereits an der Front waren. Redakteure, das Gewehr über der Schulter, kamen auf dem Weg zum Krieg noch kurz vorbei, um letzte Anweisungen zu geben. Natürlich wurden Fragen gestellt, wie Israel vom Krieg überrascht werden konnte. Doch das war zunächst nebensächlich. Es gab keinen Streit, keinen Aufschrei, keine Empörung, solange der Krieg dauerte. Man fügte sich in die Situation, die zunächst für Israel keineswegs rosig schien. Die Zeitung erschien oft mit weißen Flecken. Die Zensur hatte noch in letzter Minute Streichungen vorgenommen. Mütter saßen stundenlang neben dem Telefon und warteten auf ein Gespräch mit ihrem Sohn oder ihrem Mann irgendwo an der Front. Freiwillige, meist Frauen und alte Männer, halfen aus, um die Wirtschaft des Landes in Gang zu halten. Nach 19 Tagen stimmte Israel dem vom Sicherheitsrat der UNO ausgehandelten Waffenstillstand zu. Erleichterung war spürbar. Israel hatte 2700 Tote zu beklagen. Man ahnte, daß es nicht die letzten sein würden.
Aber dann, im November 1977, als der ägyptische Präsident Sadat sich entschloß, nach Jerusalem zu kommen, schien der Frieden näher als jemals zuvor. Er käme, so sagte er, „mit der ehrlichen Absicht, neues Leben zu gestalten und Frieden herzustellen“. Noch heute sehne ich mich nach dem Bild zurück, als Anwar Sadat die Gangway seines Flugzeuges herunterschritt und mit ausgestreckten Händen auf die ihn erwartenden israelischen Staatsmänner zuging. Die Mehrheit der Israelis glaubte diesem Mann. Ja, es würde Frieden geben. Sie wiederholten es immer wieder, so als wollten sie es sich selbst suggerieren. Menschen tanzten in den Straßen von Jerusalem. Andere drückten ihre Nasen an den Glaswänden des Theaters von Jerusalem platt, um etwas zu sehen, etwas zu spüren von dieser revolutionären Entwicklung, die sich da drinnen abspielte. Ich probierte die provisorisch für diesen Tag gelegte Telefonleitung nach Kairo aus. Ich wollte der Ehefrau des ägyptischen Präsidenten ein paar Worte der Freude über diese Entwicklung entlocken. Es machte mir nichts aus, daß die Verbindung nicht zustande kam. Mir genügte das Gespräch der beiden Telefonistinnen, dessen Zeugin ich wurde. „Ist heute nicht ein herrlicher Tag? Wir haben Frieden!“, rief die eine aus Jerusalem ihrer Kollegin in Kairo zu. „Kein Krieg mehr, keine Toten, wie wunderbar!“, pflichtete ihr die Kollegin aus Kairo bei. Zu dem globalen Frieden, den Präsident Sadat damals anstrebte, kam es nicht. Zwar hörte das Morden zwischen Ägyptern und Israelis auf. Ein kalter Frieden blieb zurück. Anwar Sadat wurde 1981 von moslemischen Fundamentalisten ermordet.
Im Juni 1973 wurde der erste Besuch eines deutschen Bundeskanzlers in Israel erwartet. Schon Tage zuvor herrschte eine gespannte Atmosphäre im Land. Der Anblick der deutschen neben den israelischen Fahnen, die in den Straßen von Jerusalem und um den Flughafen Lod aufgezogen waren, waren die Ursache dafür. Zwar bestanden seit 1965 diplomatische Beziehungen zwischen Israel und der Bundesrepublik. Doch die spielten sich auf diplomatischem Parkett ab, entfernt von Zuschauern, den Überlebenden, den Zweiflern, den Gegnern auch dieses neuen Deutschlands. Gewiß, hier kam Willy Brandt, ein Mann, dem man eigentlich Vertrauen entgegenbringen konnte. Er hatte gegen die Nazis gekämpft und später in der Emigration gelebt. Im Dezember 1970 hatte er in Warschau am Mahnmal vor dem ehemaligen Getto einen Kranz niedergelegt und in Demut vor den jüdischen Opfern niedergekniet. Das war mehr, als man von einem deutschen Kanzler erwarten konnte. Dieser Mann kam nach Israel und sprach im Namen Deutschlands, eines neuen Deutschlands, wie so oft vorgegeben wurde, und das dennoch seine Vergangenheit nicht abstreifen konnte.
Vom ersten Moment an ließ Brandt keine Zweifel darüber aufkommen, welche Art der Beziehungen er für beide Länder voraussah. Er sagte: „Sie haben den Kanzler deutscher Staatlichkeit eingeladen. Das heißt, Sie stellen der Macht der Vergangenheit den Anspruch der Gegenwart gegenüber. Ich glaube, die Menschen wären in der Tat verloren, wenn es nicht diesen Mut zum neuen Anfang gäbe.“ In ihrer Antwort gab die israelische Regierungschefin Golda Meir zu verstehen, daß auch sie den Besuch Brandts als die Einleitung zu einem neuen Anfang der Beziehungen beider Länder ansehe: „Sie haben als einer der ersten gesagt, daß Geschehenes nicht ungeschehen gemacht werden kann, aber daß man auch nicht vergessen kann. Dieses Wort hat Wunder gewirkt und es uns und Ihnen ermöglicht, uns zu erinnern. Wir können nur im Bewußtsein der vergangenen Ereignisse aus der Gegenwart in eine hoffnungsvolle und bessere Zukunft blicken.“
In der nationalen Gedenkstätte Israels, Yad Vashem, in der das ewige Feuer brennt und Urnen mit Asche von Opfern aus verschiedenen Konzentrationslagern in den Fußboden eingelassen sind, war zum ersten Mal die deutsche Sprache zu hören. Hunderte von Journalisten aus aller Welt wurden Zeugen dieses historischen Ereignisses, als der deutsche Kanzler Verse aus einem Psalm vorlas. Zwar sprach der Kanzler mit fester Stimme, doch die Erregung war ihm anzumerken. Eine Erregung, die sich auch auf mich übertrug. Ja, ich glaubte an die Ehrlichkeit dieses Mannes. Und dennoch hatte ich Mühe, mich in meiner Berichterstattung nicht von meinen Erfahrungen im Nachkriegs-Deutschland leiten zu lassen. Nahe der Erinnerungsstätte, in der die Zeremonie ablief, wußte ich die Bäume, die einige meiner Retter als Dank für ihr Opfer im „Hain der Gerechten“ hatten pflanzen dürfen. Das half mir.
Es war Volker Ludwig, der Leiter des Berliner „Grips Theaters“, der mit seinem Entschluß, aus meinem Buch „Ich trug den gelben Stern“ ein Theaterstück zu machen, mein viertes Leben einläutete. Im Februar 1989 hatte „Ab heute heißt du Sara“ Premiere. Inzwischen ist es von 37 deutschen Bühnen gespielt worden, im „Grips Theater“ selbst steht jetzt die 300. Vorstellung auf dem Programm. In mehr als dreißig Schulen der Bundesrepublik führten Schüler bisher das Stück oder Szenen daraus auf, eine Zahl, die ständig steigt. Ich erinnere mich an die ersten Proben, an denen ich teilnahm. Als ich meine Mutter auf der Bühne sagen hörte: „Wir sind Juden, Inge. Für die Nazis sind wir ihre Feinde“, da glaubte ich, es nicht mehr aushalten zu können. Ich mußte wieder einmal begreifen, wie tief die Erfahrungen der Verfolgung, der Flucht, der Verlust lieber und liebster Menschen sitzen, wie wenig sie zu verarbeiten sind. Auch wenn man annimmt, nach über 50 Jahren davon frei zu sein. Im stillen haderte ich mit mir, schalt mich einen Feigling, der nicht begriffen hatte, daß Volker Ludwig mit seinem Stück das Gleiche bewirken wollte wie ich, nämlich der Jugend zu zeigen, was damals geschah und was Menschen anderen Menschen angetan haben, nur weil sie angeblich anders waren als die Deutschen, und daß diese Denkweise zu den bestialischsten aller Morde führte. Langsam wich mein anfänglicher Schock und machte einem Gefühl des Vertrauens Platz, das durch den Kontakt zu den meist jungen Schauspielern entstand und wuchs. „Ab heute heißt du Sara“ ist in Berlin immer noch ständig ausverkauft. 80 % des Publikums sind junge Leute. Ich gehe öfter ins Theater, um die Reaktion dieses Publikums zu beobachten. Es fasziniert mich noch heute, mitzuerleben, wie sie mit Spannung der Handlung auf der Bühne folgen, wie sie mitgehen, wie sie mitleiden und wie sie am Schluß begeistert applaudieren – Ausdruck ihres Verständnisses für das, was das Stück ihnen sagen will.
Das blieb nicht ohne Folgen für mich. Schulen wandten sich an mich, baten, daß ich ihren Schülern über mein Leben als Verfolgte in der Nazizeit berichte, ihre Fragen beantworte, die sich hauptsächlich darum drehen, wie es zu dem Schrecklichen kommen konnte. Meist finde ich junge Menschen vor, die – anders als ihre Eltern und Großeltern – geradezu begierig sind, etwas darüber zu erfahren, die ohne Scheu ihre Fragen stellen. Es handelt sich um eine Generation, deren Eltern den Nationalsozialismus nicht mehr erlebten und in einer Zeit aufwuchsen, in der in den Schulen der alten Bundesrepublik die schlimme Vergangenheit nur selten zum Lehrstoff gehörte. Sie haben ihren Kindern nur wenig oder gar nichts über jene schreckliche Zeit zu sagen.
[…]
Das Theaterstück hat mich wieder nach Berlin gebracht. Dabei habe ich feststellen müssen, wie viel mich mit dieser Stadt verbindet, wie sehr ihre Atmosphäre meinem Wesen entspricht und daß das Berlinern die einzige