Überleben als Verpflichtung. Inge Deutchkron

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Название Überleben als Verpflichtung
Автор произведения Inge Deutchkron
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783766641328



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unterhielt. Diese waren im Jüdischen Krankenhaus in der Iranischen Straße eingerichtet worden zu einer Zeit, als Berlin als „judenrein“ galt. Am 27. Februar 1943 waren alle noch in Berlin verbliebenen Juden in der sogenannten „Fabrikaktion“[1] abgeholt und wenig später zu Tausenden „in den Osten“ deportiert worden. Im Jüdischen Krankenhaus blieben Kranke zurück, die auch dort behandelt wurden, bis man sie nach ihrer Gesundung, als transportfähig erklärt, deportieren konnte. Im Gefängnis waren hauptsächlich „Untergetauchte“ untergebracht, die sich der Deportation hatten entziehen wollen, aufgespürt worden waren und bis zur Abfahrt eines Deportationszuges dort blieben. Juden aus „Mischehen“, die durch Heirat mit einem Nichtjuden vor Deportationen geschützt waren, wurden sofort nach dem Tode des nichtjüdischen Partners ins Gefängnis des Krankenhauses gebracht, um ebenfalls bei nächster Gelegenheit „in den Osten“ deportiert zu werden. Noch in den letzten Kriegstagen des Monats März 1945 gingen von dort Züge ab. Nun allerdings nur noch in die KZs innerhalb Deutschlands. Die Vernichtungslager in Polen waren für die Deutschen nicht mehr erreichbar.

      Die beiden Jungen waren mutterseelenallein in diesem Gefängnis, aus dem es keinen Weg nach draußen gab. Jeder, der dort Dienst tun mußte – Ärzte oder Schwestern oder anderes Hilfspersonal der Gestapo mit irgendeinem „arischen“ Vorteil –, kannte die Kinder. Sie hatten selber wenig zu essen. Aber das Mitleid für die beiden Jungen war groß, und man opferte ihnen schon mal eine Kartoffel oder ein Stück Brot. Sie hatten niemanden mehr auf dieser Welt – das war bekannt – außer ihrem Vater, der sich im KZ natürlich nicht um seine Kinder kümmern konnte. Aus Gründen, die nicht mehr geklärt werden können, hatte die Mutter die beiden Jungen Anfang der vierziger Jahre, als die Verfolgung der Juden immer stärkere Formen annahm, in die Obhut ihrer Eltern gegeben.

      Berichten zufolge, die die jüdische Großmutter, also meine Tante, in Berlin erreichten, sei die Mutter eines Tages an einer Lungenentzündung gestorben. Und schließlich starben auch die Großeltern, bei denen die Jungen eine Bleibe gefunden hatten. Die Jungen galten als „Mischlinge ersten Grades“ und waren nach den Nazigesetzen nicht zur Deportation bestimmt. Das spätere Vorhaben, Mischlinge oder Juden aus Mischehen dennoch zu deportieren, mußte aufgegeben werden. Im Zuge der sogenannten „Fabrikaktion“ Ende Februar/März 1943 waren auch sie bereits verhaftet worden. Aber mehr als 200 „arische“ Ehefrauen und Angehörige demonstrierten über eine Woche lang vor dem Sammellager in der Rosenstraße und erwirkten die Freilassung ihrer jüdischen Angehörigen. Ein Aufbegehren gegen das Naziregime, das in Deutschland einmalig blieb.

      Nach der Befreiung am 8. Mai 1945 suchte meine Mutter die beiden Jungen und fand ihre Spuren in dem ehemaligen jüdischen Waisenhaus in Berlin-Niederschönhausen. Ihr Vater, von dessen Überleben wir auf diese Weise erfuhren, hatte sie einen Tag zuvor von dort abgeholt. Willy hatte sieben Jahre im KZ Buchenwald zubringen müssen, wo er neben schwerster Arbeit auch noch medizinischen Experimenten ausgesetzt war. Dennoch ließ er sich in Weimar, nur wenige Kilometer von seiner Folterstätte entfernt, nieder. Seine Jungen, die nie ein Familienleben kennengelernt hatten, schickte er nach kurzer Zeit nach Palästina mit der Begründung, sie würden in Deutschland keine Zukunft haben. Dort wuchsen sie in einem Heim auf. Die Sehnsucht nach einer Familie ließ vor allem den Jüngsten nie los. Er war einer der ersten, mit einem israelischen Paß, der eine Einreiseerlaubnis in die DDR erhielt, um den Vater wiederzusehen. Er suchte aber auch nach seiner Mutter, an deren Tod er nicht glauben wollte. Und tatsächlich, so sein Bericht, fand er sie in Westdeutschland. Sie aber wollte ihn nicht wiedersehen, wohl auch nicht an ihn erinnert werden. Sie empfing ihn nicht. Es ist heute nicht mehr feststellbar, ob die Mutter damals ihren Tod vorgetäuscht hatte, um sich aus Angst der Kinder mit dem jüdischen Makel zu entledigen, oder ob die Information über ihren Tod nur der jüdischen Großmutter galt, um alle Kontakte abzubrechen, oder ob der Sohn einer Halluzination erlag.

      Trotzdem dieser Sohn in Israel eine eigene Familie gegründet und auch schon Enkelkinder hat – ähnlich wie sein älterer Bruder –, hat er nie wieder seine Ruhe gefunden. Mal wollte er wieder in Deutschland zu Hause sein. Dann wieder zog es ihn nach Israel zurück. Vor einigen Jahren starb er in Israel.

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