Название | Überleben als Verpflichtung |
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Автор произведения | Inge Deutchkron |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783766641328 |
Die vorliegende Sammlung enthält Auszüge aus einigen meiner Bücher, etlichen Buchbeiträgen, Reden und Zeitungsartikeln. Sie entstanden aus meinen Erfahrungen als Verfolgte in der Zeit eines verbrecherischen Regimes in Deutschland und als Überlebende in der Nachkriegszeit. In diesem Buch ist das Erlebte und Beobachtete nach thematischen Schwerpunkten geordnet: Den Anfang macht eine Kurzbiographie „Ein Todesurteil und vier Leben“ zu meiner Person, Beiträge zu meiner Kindheit und Jugend im Zeichen des „gelben Sterns“ schließen sich an. Es folgen verschiedene Aufzeichnungen zur Stimmungslage im Nachkriegsdeutschland bis in die siebziger Jahre hinein. Weitere Themenschwerpunkte sind die Komplexität der Aufarbeitung deutscher Geschichte und das schwierige Verhältnis zwischen Deutschland und Israel sowie meine Rückkehr nach Deutschland. Einen zusammenfassenden Rückblick, der zugleich als Ausblick gelesen werden kann, bieten schließlich verschiedene Reden zu unterschiedlichen Anlässen. Das Niederschreiben meiner Erlebnisse ist mir zur Verpflichtung geworden – mir als einer, die dank mutiger Berliner das grausame Schicksal von Millionen anderen nicht teilen mußte.
Inge Deutschkron
Kurzbiographie – Ein Todesurteil und vier Leben
Sie sagte es schnell und sehr bestimmt: „Frau Deutschkron. Sie und Inge dürfen sich nicht deportieren lassen!“ Dabei hielt Emma Gumz die Hände meiner Mutter fest umklammert, so als wollte sie ihrer Forderung mehr Nachdruck verleihen. Meine Mutter sah sie verstört an, fragte schließlich erregt, wie dies denn zu verstehen sei. Da antwortete die kleine Frau, die jahrelang unsere Wäsche gewaschen hatte: „Der Fritz, unser Nachbarsjunge, ist als Soldat in Polen gewesen. Er hat gesehen, was sie dort mit den Juden machen.“ Und rasch fügte sie hinzu, daß ihr Mann und sie uns davor bewahren wollten. Das war im November 1942 gewesen. Ich war gerade 20 Jahre alt, als diese Frau die Vollstreckung des mir zugedachten Todesurteils auf ihre Weise zu verhindern suchte.
Dabei hatte alles so normal angefangen. Ich war 1922 in der kleinen Stadt Finsterwalde geboren worden. Als mein Vater meiner Mutter seine Versetzung an das dortige Gymnasium mitteilte, suchte sie den Ort vergebens auf ihrem Schulatlas. Finsterwalde würde nur eine Station in seiner Beamtenlaufbahn sein, beruhigte sie mein Vater, die mit einer Pension am Ende seiner Karriere so viel Sicherheit versprach. Auch für das Kind Inge schien der Weg vorgezeichnet zu sein – höhere Schulbildung, Universität, möglicherweise Doktortitel. Als ich vier oder fünf Jahre alt war, wurde mein Vater nach Berlin versetzt, wo er als Studienrat in einem Gymnasium im Wedding lehrte.
Ich mußte mich nun an die Großstadt gewöhnen. Mit der Kleinstadtidylle war es vorbei. Ich durfte nicht mehr auf der Straße mit anderen Kindern spielen. In den Straßen der Großstadt lauerten zu viele Gefahren für ein kleines Mädchen, meinten meine Eltern. Sie erlaubten mir auch nicht, Rad fahren zu lernen. Der Großstadtverkehr sei dafür zu rasant. Doch Berlin hatte für mich manches andere zu bieten. Da gab es den nahen Friedrichshain mit dem Märchenbrunnen und den jedem Kind vertrauten Figuren. Dann war da der Tennisplatz, wo ich meine ersten Lorbeeren als Balljunge verdiente, wenn meine Eltern ihre Matches spielten – im Tennis-Rot natürlich, einer Abteilung des Arbeitersportbundes, wie es ihrer politischen Einstellung entsprach. Und da war die von Maschinen betriebene Eisbahn, auf der ich sogar noch in lauen Sommermonaten meine Pirouetten drehen konnte. Meine Mutter blähte sich vor Stolz, wenn Zuschauer am kleinen Mädchen im roten Mäntelchen Talent entdeckten und ihm eine große Zukunft auf dem Eis voraussagten. Das aber enthüllte sie mir erst viel später, als mir der Besuch von Sportstätten als Jüdin untersagt war. Noch störte nichts diese Idylle.
Doch dann klirrte Glas. Und das geschah immer öfter. Es war meist das Fenster meines zur Hufelandstraße gelegenen Zimmers, auf das die Nazis Steine warfen. Natürlich hatte ich Angst. Aber meine Mutter verstand es, mich zu beruhigen. Die Leuchttransparente und Fahnen auf unserem Balkon, mit denen meine Eltern während der Wahlkämpfe jener Jahre um Wählerstimmen für die Sozialdemokratische Partei warben, reizten die Nazis zu solch kriminellen Handlungen. Mein Vater stellte seine ganze Freizeit in den Dienst dieser Partei. Er sprach in öffentlichen Versammlungen gegen die Nazis, warnte die Berliner vor Hitler, dieser werde nur Krieg und Verderben bringen, ließe man ihn an die Macht. Ein Mitbewohner unseres Hauses wurde eines Nachts in unserem Hausflur angeschossen. Die Kugel sollte eigentlich meinen Vater treffen. Aber auch das hielt ihn nicht von seinen politischen Aktivitäten ab. Viele Jahre später, als mein Vater bereits im Ausland war, gestand ich meiner Mutter, daß ich vor dem Einschlafen immer auf Geräusche im Treppenhaus gehorcht hatte. Hallende Tritte von Stiefeln, wie sie die Hitler-Schergen zu tragen pflegten, verband ich mit Gefahr für meinen Vater.
Die politische Überzeugung meiner Eltern teilte sich mir natürlich mit. Meine Eltern legten Wert darauf, daß ich wußte, was sie taten, und warum sie es taten. Ich bin ganz sicher, daß ich 1933 als Zehnjährige besser wußte, wer Hitler war und welche Ziele die Nazis verfolgten, als manche erwachsene Bürger dieses Landes. Zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen gehört nicht irgendeine Ferienreise oder ein kindliches Vergnügen, sondern die Tatsache, daß ich gemeinsam mit den politischen Freunden meiner Eltern in einem verräucherten Hinterzimmer einer Kneipe sitzen und helfen durfte, Flugblätter gegen die Nazis zu falten. An der Hand meiner Mutter ging ich auch in Demonstrationen mit. Im Berliner Lustgarten fühlte ich mich ebenso zu Hause wie auf dem Spielplatz im Friedrichshain.
„Wir sind Juden, Inge“, sagte meine Mutter eines Tages im April 1933 zu mir. Ich hatte keine Ahnung, was sie mir da sagte. Ich war mit Weihnachtsbaum und Ostereiern aufgewachsen und wußte nichts über Judentum oder jüdische Religion. Es gab in unserem Haus weder Kultgegenstände, noch hingen meine Eltern an Traditionen jüdischen Ursprungs. Ich wußte noch nicht einmal, was eine Religion ist, denn ich hatte eine weltliche Schule besucht, in der dieses Fach nicht gelehrt wurde. Doch an jenem Tag wollte ich meinen Eltern keine weiteren Fragen stellen, denn ich spürte, daß sie andere Sorgen hatten. Ein Satz indes, den meine Mutter dieser für mich so überraschenden Eröffnung hinzufügte, blieb in meinem Gedächtnis haften. Ja, er wurde zum Leitmotiv meines Lebens: „Auch wenn du jetzt zu einer Minderheit gehörst, laß’ dir nichts gefallen. Wehr dich, wenn du angegriffen wirst.“ Schließlich sei ich auch als Jüdin anderen Kindern ebenbürtig.
„Wir sind Deutsche“, betonte mein Vater immer wieder, auch wenn die Nazis Juden nicht als solche anerkennen wollten. „Deutsch ist unsere Sprache, deutsch unsere Kultur!“ Und er wies weiter darauf hin, daß unsere Familie nachweislich seit vielen Generationen in Deutschland ansässig sei und er und seine zwei Brüder im Ersten Weltkrieg als Freiwillige in der deutschen Armee gekämpft hätten. Darum gab es für uns auch keinen Grund auszuwandern. Meine Eltern hielten es aber für richtiger, Manuskripte meines Vaters, Schriften, ja sogar Bücher mit sozialistischem Inhalt zu verbrennen oder in den Hintergrund des Bücherschranks zu verbannen. Verhaftungen von Gesinnungsgenossen verstörten sie natürlich. Sie beschlossen dann auch, den 1. April 1933, den Tag des Boykotts jüdischer Geschäfte, nicht zu Hause zu verbringen. Mit den Worten, dies sei nur so eine Vorsichtsmaßnahme, spielten meine Eltern den Besuch bei Tante und Onkel Hannes in Spandau mir gegenüber herunter. Ich glaubte ihnen aufs Wort. Sie hatten mich noch nie belogen.
Kurz darauf wurde mein Vater seiner politischen Tätigkeit wegen aus dem Staatsdienst entlassen. Das traf ihn ins Mark. Aber dennoch blieb er zuversichtlich. Und er war nicht der einzige. Höchstens drei Monate würde dieser Hitler an der Macht bleiben. So schwadronierten die Männer, die wie mein Vater wegen ihrer führenden Rollen in demokratischen Parteien oder Gewerkschaften arbeitslos geworden waren. Es sei doch nicht denkbar, daß das deutsche Volk diesen Verbrecher auf Dauer dulden würde. Mit dieser Prognose endeten die meisten ihrer Diskussionen zur Lage. Sie saßen in jenen Frühlingstagen des Jahres 1933 in Schrebergärten untätig herum. Sie hatten längst resigniert. Demokratische Einrichtungen waren geschlossen, führende Funktionäre ihrer Organisationen verhaftet und in Konzentrationslager eingewiesen worden. Berichte über deren grausame Behandlung ließen Wagemut nicht zu.
Ein Einschnitt in meinem Leben war der Übergang in die höhere Schule, der gerade am 1. April 1933 fällig war. Außer mir besuchten noch einige jüdische Mädchen die gleiche Klasse. Das wußte