Überleben als Verpflichtung. Inge Deutchkron

Читать онлайн.
Название Überleben als Verpflichtung
Автор произведения Inge Deutchkron
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783766641328



Скачать книгу

keinen Vorwand für eine Bestrafung zu liefern.

      Einmal entdeckte ich in der Masse der Menschen einen jungen Mann, der mir bekannt vorkam. Und tatsächlich, er bestätigte mir, daß wir die gleiche Schule besucht hatten. Ich weiß nur noch, daß er Erich hieß, groß gewachsen war, aber stark hinkte. Wenn jemand mit ihm sprach, beugte er sich ein wenig vor und verstärkte damit den Eindruck großer Bescheidenheit. Wenn jemand ihm seinen Platz in der Schlange wegnehmen wollte, ließ er es geschehen, wohl um Streit unbedingt zu vermeiden. Er lächelte stets freundlich und, meiner Erinnerung nach, verschwand dieses Lächeln nie von seinem Gesicht. Auch er gab seiner Freude Ausdruck über unser Treffen. Ich fühlte, daß dies keine Floskel war.

      Die vielen Stunden, die man uns warten ließ, gaben uns viel Zeit für Gespräche. Sie drehten sich meist um das Schicksal ehemaliger Schulkameraden. Einige hatten in fernen Ländern Asyl gefunden. Natürlich waren wir neidisch; oft nur des Abenteuers wegen. Wir bedauerten jene, die, nur um aus Deutschland herauszukommen, nach Aleppo in Syrien geflohen waren, eine Stadt, in der man noch ohne Visum aufgenommen wurde. Sie war durch die ansteckende Aleppo-Beule bekannt geworden. Da es uns verboten war, Zeitungen zu kaufen, man uns das Radio weggenommen hatte und wir zu kulturellen Veranstaltungen nicht zugelassen waren, waren die Themen unserer Gespräche begrenzt. Bücher standen uns nicht zur Verfügung. Die meisten hätten uns auch nicht interessiert. Es war meist Literatur, die nazistische Gedanken propagierte. Andere Bücher jüdischer oder ausländischer Autoren waren in Deutschland nicht mehr zum Verkauf oder Vertrieb zugelassen.

      Und doch redeten wir unentwegt und ungeniert. Ich spürte deutlich, daß den Menschen um uns herum unsere Freude aneinander nicht entging. Wir sprachen darüber, wie wir uns die Welt ohne Krieg und Terror vorstellten und was wir in dieser Welt einmal tun wollten. Ich wollte damals noch Lehrerin werden, also meinem Vater nacheifern. Er wollte Ingenieur werden, Autos bauen, die gerade dabei waren, die Straßen zu erobern. Wir taten so, als ob das Leben wie selbstverständlich noch vor uns läge. Das war natürlich mit dem Ende des Naziregimes verbunden. Abitur machen, studieren, was jüdischen Jugendlichen verboten war – das waren die Grundlagen für unsere Ziele.

      „Also bis zum nächsten Monat“, so pflegten wir uns zu verabschieden und winkten einander nach. Als ich am für die Ausgabe der Lebensmittelkarten festgesetzten Tag im folgenden Monat nach ihm suchte, fand ich ihn nicht. Ich fürchtete, ihn verpaßt zu haben, und fragte Umstehende, ob sie einen jungen Mann, der stark hinkte, gesehen hätten. Er muß wohl zu den ersten gehört haben, die deportiert worden waren. Auswanderungen waren seit Oktober 1941 verboten. Fast zur gleichen Zeit hatten die Deportationen jüdischer Menschen „nach dem Osten“, wie wir in Unkenntnis des wahren Zieles zu sagen pflegten, begonnen. Erich blieb für immer verschwunden.

      Jedes Mal, wenn Hans mich berührte, zuckte ich zusammen und rückte von ihm ab. Hans Rosenthal war mein erster Freund, den ich zu lieben glaubte. Er war 39 Jahre alt – also 19 Jahre älter als ich –, unverheiratet und lebte mit seiner Mutter zusammen. Ich hatte ihn 1942 in der Blindenwerkstatt Otto Weidt, Rosenthaler Straße 39, kennengelernt, wo ich während der Jahre 1941 bis 1943 arbeitete. Otto Weidt war einer der wenigen Arbeitgeber in Berlin, von dem insgeheim bekannt war, daß er Juden gut behandelte und ihnen half, wo und wie er nur konnte. Er haßte die Nazis. Hans, den er als Materialverwalter der Jüdischen Gemeinde kannte, belieferte er mit Besen und Bürsten. Sie waren für die verschiedenen Einrichtungen der Jüdischen Gemeinde bestimmt.

      „Wenn alles vorbei ist, dann heiraten wir doch“, so pflegte ich Hans zu vertrösten, „und wandern nach Amerika aus“, fügte er hinzu. Sicher könne er dort wieder als Ingenieur arbeiten wie vor 1933 in der Glühbirnenfabrik Osram im Berliner Wedding.

      Hans insistierte nicht. Er war ein ruhiger und besonnener Mensch, der nicht nur so aussah, als könne er keiner Fliege ein Leid antun. Er war groß und schlank mit linkischen Bewegungen, die Unsicherheit ausdrückten. Er hatte ein freundliches Gesicht, das stets zum Lächeln bereit schien, ein Eindruck, den der tiefe Einschnitt in seinem Kinn noch verstärkte. Wenn er anderen zuhörte, war sein Mund meist einen Spalt geöffnet. Er konnte auch hell auflachen, und er tat dies bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Dabei zog er die eine Schulter etwas hoch wie eine Geste der Entschuldigung für seinen plötzlichen Gefühlsausbruch.

      Hans und ich trafen meist an Sonntagen zum Kaffee bei seiner oder meiner Mutter zusammen. Andere Möglichkeiten hatten wir nicht. Wir mußten ohnehin ab zwanzig Uhr abends bis morgens um sechs Uhr zu Hause sein. Die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel war nur für den Weg zum Arbeitsplatz zugelassen. Unsere Telefone waren abgeschaltet worden. Glücklicherweise wohnten wir nicht weit voneinander. So blieb uns nur, unter dem Kaffeetisch Händchen zu halten oder uns verstohlen zu küssen, wenn die Mutter das Zimmer verließ, um den Kaffee zu holen.

      Ein Freund bot uns schließlich sein Zimmer an, in dem wir ab und zu am Tag allein sein konnten. Obwohl ich die Stunden herbeisehnte, flößte mir der mit wenigen alten Möbeln ausgestattete Raum Unbehagen ein. Einmal sprach Hans ganz offen mit mir über körperliche Beziehungen. Aber ich weinte nur und bat ihn inständig, mich in Ruhe zu lassen. Meine Sinne waren auf nichts anderes als auf die Abwehr von Gefahren eingestellt. Meine Nerven waren ständig zum Zerreissen gespannt. Immer wenn wir uns trennten, weinte ich vor Angst, er würde wie die anderen ohne mein Wissen deportiert, und ich würde ihn nie wiedersehen. Ich weinte und weinte und klammerte mich an ihn.

      Meine Mutter machte keinen Hehl daraus, daß ihr meine Verbindung zu Hans nicht recht war. Eifersucht war sicher einer der Gründe dafür, denn sie verstand wohl besser als ich, daß der so viel ältere Hans eine Art Vaterersatz für mich war und mir den Halt gab, den sie mir nicht geben konnte. Sie fürchtete auch, und das sprach sie auch aus, daß ich Hans heiraten und sie allein „in den Osten“ deportiert werden würde – mit einem unbekannten Ziel. Während Hans, als verdienter Funktionär der Jüdischen Gemeinde, mit mir in das sogenannte Vorzugslager Theresienstadt eingewiesen würde.

      Nichtjüdische Freunde meiner Eltern, die von dem schrecklichen Morden jüdischer Menschen aus ausländischen Rundfunksendern und von deutschen Soldaten erfahren hatten, beschworen uns, uns mit ihrer Hilfe zu verstecken. So geschah es dann auch.

      Den Kontakt zu Hans hielt ich aufrecht, der uns vor bevorstehenden Aktionen der Gestapo warnte. Er selbst wurde dreimal abgeholt und wieder freigelassen. Die Gestapo wußte um seine guten Beziehungen zu Berliner Grossisten und zwang ihn, sie mit Mangelware zu versorgen. Die Grossisten verstanden sehr wohl, daß das Leben des Juden Hans Rosenthal von derartigen Lieferungen abhing.

      Wir überlebten. Hans und seine Mutter im Jüdischen Krankenhaus, das die Gestapo in ein Gefängnis umgewandelt hatte. Meine Mutter und ich in verschiedenen Verstecken in und um Berlin. Hans erinnerte mich an unsere Gespräche für eine gemeinsame Zukunft. Doch ich erschrak. Heiraten? Ich hatte doch noch gar nicht richtig gelebt – und wies ihn ab, vertröstete ihn. Er verzieh mir das nie und wanderte nach Amerika aus. Ich hörte nie wieder von ihm.

      Ich blieb mit einem schlechten Gewissen zurück.

      1943 waren sie acht und fünf Jahre alt. Zwei Jungen, Brüder, der ältere hieß Dieter, der jüngere Peter. Ständig hatten sie Hunger, bettelten um ein Stück Brot oder eine Kartoffel. Sie waren im Jüdischen Krankenhaus in Berlin inhaftiert. Ihr Vater war kurz nach der Geburt Peters ins KZ Buchenwald eingeliefert worden. Ihre Mutter galt als verstorben.

      Beide waren in Finsterwalde geboren worden. Dort war ihr Vater aufgewachsen. Dessen Mutter, eine Schwester meines Vaters, war geschieden und konnte ihre drei Kinder nicht allein ernähren. Willy, so hieß der Vater der beiden Jungen, kam zu uns nach Finsterwalde und wuchs mit mir zusammen auf. Als er die Volksschule beendet hatte, nahm ihn Emil Galliner als Lehrling in sein Kaufhaus. Wir verließen Berlin 1926 oder 1927. Willy aber, knapp 17jährig, blieb in der Stadt, in der er sich heimisch fühlte. Er wurde aktiver Sportler und später ein Autonarr, eine Tatsache, die ihm in der Nazizeit zum Verhängnis werden sollte. Die Nazis nahmen eine simple Autostrafe zum Vorwand, ihn als sogenanntes „asoziales Element“ schon 1938 ins KZ zu sperren. In Wirklichkeit suchten sie damals kräftige junge Männer, die ihnen das KZ Buchenwald aufbauten. Seine Kinder blieben