Überleben als Verpflichtung. Inge Deutchkron

Читать онлайн.
Название Überleben als Verpflichtung
Автор произведения Inge Deutchkron
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783766641328



Скачать книгу

Zufall wollte es, daß ich Otto Weidt kennenlernte, der in der Rosenthaler Straße 39 eine Werkstatt zur Produktion von Besen und Bürsten betrieb. Weidt, der praktisch blind war, beschäftigte fast ausschließlich blinde und taubstumme Juden. Für mich und zwei weitere sehende Juden fand er Aufgaben in seinem Büro, was streng verboten war. Otto Weidt haßte die Nazis. Er tat alles, was in seinen Kräften stand, um seinen Arbeitern zu helfen – mit Lebensmitteln, die Juden nur in sehr begrenztem Umfang zugeteilt wurden, mit Tabak und Gebrauchsartikeln, die er gegen die in seiner Werkstatt produzierten Besen und Bürsten eintauschte. Und schließlich benutzte er die auf diese Weise erstandenen Waren, um sich der Gunst der Gestapo zu versichern, die alle Betriebe, in denen Juden beschäftigt wurden, unter Kontrolle hielt. Daraus wurde eine Beziehung, die für uns wie für ihn von größter Bedeutung werden sollte. Ein den Eingang überwachendes Lehrmädchen machte uns durch eine Klingel auf nicht angekündigte Besuche von Gestapobeamten aufmerksam, wie etwa vom stellvertretenden Leiter des Judenreferats Prüfer. Wir flohen dann aus dem Büro in ein Versteck im Treppenhaus, während zwei nichtjüdische Angestellte unsere Plätze einnahmen. Das war alles viele Male geübt worden. Von unseren Verstecken aus hörten wir, wie Weidt den Prüfer liebenswürdig begrüßte, ihn durch den Betrieb führte, in dem er die „Saujuden“, wie er uns bei solchen Gelegenheiten nannte, zu arbeiten gelehrt hatte. Für uns endete so ein Besuch mit einem Glas Wein und viel Gelächter. An die Blinden verteilte Weidt Zigaretten zum Trost für die ausgestandene Angst.

      Ich ging gern in die Blindenwerkstatt. Wie alle, die dort arbeiteten, verehrte ich Otto Weidt, der uns nicht nur praktische Hilfe leistete. In der Art, wie er uns zur Seite stand, gab er uns ein Stück Selbstachtung zurück. Ja, er tat etwas für jene Zeit Unglaubliches: Er behandelte uns wie Menschen, kam uns mit Respekt entgegen, half uns, uns aufzurichten, sann mit uns über Auswege aus schwierigen Situationen nach, wußte immer wieder Rat.

      Vom Beginn des Krieges an dachten sich die Nazis fast täglich neue Gesetze und Verordnungen aus, mit denen sie uns das Leben erschwerten. Wir durften keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr benutzen, mußten nach acht Uhr abends zu Hause sein, bekamen keine Seife zugeteilt, durften nicht zum Friseur gehen, mußten zwischen vier und fünf Uhr nachmittags unsere Einkäufe tätigen, durften unsere Wäsche nicht waschen lassen und vieles mehr. Daß die Gumzens das Verbot, die Wäsche von Juden zu waschen, mißachteten, brauche ich wohl kaum hervorzuheben. Zu den Verordnungen gehörte auch, daß wir in sogenannte Judenhäuser eingewiesen wurden, in denen sich jeweils zwei Personen ein Zimmer teilen mußten. In diesen Wohnungen lebten Menschen zusammen, die von Not und Angst getrieben wurden, was wohl am nächsten Tag auf sie zukommen würde und ob sie die Kraft haben würden, damit fertig zu werden. Gerüchte machten die Runde.

      Hinzu kam die Sorge um Angehörige im Ausland – Kinder, Ehemänner, Eltern –, von denen sie durch den Krieg abgeschnitten waren. Die Atmosphäre in dieser Wohnung war schier unerträglich.

      Ich erklärte eines Tages meiner entsetzten Mutter, daß ich dieser Atmosphäre hin und wieder zu entfliehen und das Verbot zu brechen gedachte, das Juden den Besuch von Theatern, Konzerten und Kinos untersagte. Ich brauchte diese zwei, drei Stunden Ablenkung, um neue Kraft zu schöpfen und weiteren Quälereien mit relativem Gleichmut begegnen zu können. Dazu mußte ich den im September 1941 verordneten Judenstern abnehmen, den jeder Jude vom 6. Lebensjahr an an seinem äußeren Kleidungsstück zu befestigen hatte. Eine dieser perfiden Anordnungen, die uns vogelfrei machte. Auf der Straße sah uns jeder an, einige mit Haß, wenige freundlich, die Mehrzahl sah durch uns durch, aber sie sahen uns an. So verließ ich am Abend unser Haus mit dem Judenstern an der Jacke. In einem dunklen Hausflur tauschte ich diese mit einer ohne Stern, die ich in einer Tasche mit mir trug. Auf dem Heimweg mußte ich die Jacken noch einmal wechseln, denn ohne den Stern konnte ich unser Haus nicht wieder betreten. Als großen Triumph empfand ich es, daß ich meine Mutter zu einem uns verbotenen Spaziergang in den Grunewald überreden konnte.

      Im Oktober 1941 begannen die Deportationen jüdischer Menschen aus Berlin „in den Osten“, wie wir in Unkenntnis des wahren Ziels zu sagen pflegten. Noch ahnten wir nicht, daß wir alle zum Tode verurteilt waren und daß die Transporte der Vollstreckung dieser Todesurteile entgegenfuhren. Einer von Weidts Blinden war für einen der ersten Transporte vorgesehen. Weidt eilte zur Gestapo und forderte die Rücknahme dieser Maßnahme. „Wie soll ich denn meine Wehrmachtsaufträge ausführen, wenn man mir meine Arbeiter wegnimmt?“, trumpfte er auf. Ein Argument, das er mit einem passenden Geschenk für den Gestapobeamten unterstützte. Und es wirkte. Der alte Levy wurde wieder frei, wie verschiedene andere nach ihm. Ja, es gelang Weidt noch im Herbst 1942, alle seine Blinden persönlich wieder aus dem Sammellager abzuholen, die am Morgen unerwartet aus der Werkstatt abgeführt worden waren. Doch er warnte damals: „Das war das letzte Mal!“ Es schien ihm kein Zweifel mehr darüber zu bestehen, daß die Nazis entschlossen waren, alle Juden aus Berlin „in den Osten“ zu deportieren. Otto Weidt konzentrierte sich nun darauf, Verstecke zum Untertauchen zu finden. In der damaligen Neanderstraße mietete er einen Laden, den er als Nebenlager seiner Werkstatt deklarierte. Hinter aufgeschichteten Besen versteckte er die Familie Licht. Für Chaim Horn und seine dreiköpfige Familie trennte er den letzten Raum der wie ein Schlauch angelegten Werkstatt ab, indem er einen Kleiderschrank vor die Tür schieben ließ. Darin hingen Kleider und Mäntel, schob man sie beiseite, wurde offenbar, daß er keine Rückwand hatte. So konnte das Versteck von Familie Horn betreten werden. Ein Versteck übrigens, das im Originalzustand in der Ausstellung „Blindes Vertrauen“ in der Rosenthaler Straße 39 zu besichtigen ist. Auch die blinde Marianne Bernstein und ihre Zwillingsschwester brachte Weidt unter. Das waren nur einige von denen, die Weidt zu beschützen übernahm und von denen ich wußte. Nicht alle überlebten.

      Als meine Mutter und ich uns mit dem Gedanken vertraut machten, ebenfalls unterzutauchen, versprach Otto Weidt mir, daß ich bei ihm weiterarbeiten könnte. Er würde versuchen, dies zu legalisieren. Und tatsächlich händigte er mir eines Tages ein Arbeitsbuch aus, das auf den Namen Gertrud Dereszewski ausgestellt war. Jene Frau Dereszewski verkaufte ihr Arbeitsbuch, weil sie keine Lust hatte, in einer Fabrik zu arbeiten, wie es für Frauen bis zum 55. Lebensjahr vorgeschrieben worden war. Sie zog es vor, weiter im von den Nazis untersagten „ältesten Gewerbe“ tätig zu sein. Gertrud Dereszewski, deren Namen ich nun annehmen mußte, wurde beim Arbeitsamt und bei der Krankenkasse als Arbeiterin der Blindenwerkstatt Otto Weidt angemeldet. Ich erhielt einen entsprechenden Ausweis. Leider war meine Legalität nicht von langer Dauer. Gertrud Dereszweski fiel der Polizei in die Hände (Prostitution war untersagt). Weidt mußte sie offiziell entlassen. Trotzdem erlaubte er mir, bei ihm weiterzuarbeiten.

      Um ein Versteck für meine Mutter und mich brauchte Weidt sich nicht zu kümmern. Der Initiative von Emma Gumz, uns verstecken zu wollen, folgten andere nichtjüdische Freunde. Sie alle hatten den Kontakt zu uns nie abgebrochen, obwohl dies für sie nicht ungefährlich war. Selbst, als wir gezwungen wurden, einen Judenstern an unserer Wohnungstür anzubringen, kamen sie, brachten Lebensmittel und versicherten uns, daß wir auf sie rechnen könnten.

      „Ich bin ja so stolz, daß ich Sie dazu überreden konnte.“ Mit diesen Worten empfing uns Frau Gumz, als meine Mutter und ich am 15. Januar 1943 in ihrer Wäscherei in der Knesebeckstraße 17 untertauchten. Sie teilte uns ein Kabuff, wie sie es nannte, hinter ihrem Laden zu. In ihrem Laden gingen so viele Menschen ein und aus, daß wir gar nicht auffallen würden, meinte sie. Doch nach einiger Zeit erkundigte sich eine Nachbarin neugierig, wer denn der Besuch sei, der nun schon mehrere Wochen bei Gumzens wohne. Es schien uns geraten, schleunigst aus diesem ersten Versteck zu verschwinden. Die Gefahr, daß die Nachbarin Verdacht geschöpft hatte und ihn auch der Polizei melden würde, war zu groß. Frau Gumz weinte, als wir sie verließen, machte sich laut klagend Vorwürfe, daß sie entgegen ihren Absichten doch nicht die Kraft aufgebracht hatte, zu unserer Rettung entscheidend beizutragen.

      Wir waren gerade sechs Wochen im Versteck, als die Nazis alle noch in Berlin befindlichen Juden abholten. Sie zerrten sie aus ihren Wohnungen, sie griffen sie auf der Straße auf, sie fanden sie auf ihren Arbeitsstellen in den Fabriken. Diese letzte große Razzia am 27. Februar 1943 ist darum auch als „Fabrikaktion“ in die Geschichte der Judenverfolgung Berlins eingegangen. Ich wurde Zeugin dieser Aktion. Verzweifelt über meine Ohnmacht sah ich hinter einer Gardine zu, wie man diese Menschen auf den letzten Weg brachte, einen Weg, dem ich nur durch den Mut und die