Überleben als Verpflichtung. Inge Deutchkron

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Название Überleben als Verpflichtung
Автор произведения Inge Deutchkron
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783766641328



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kam nur Deutschland in Frage. Dort, so glaubte ich, würden nun Menschen an der Macht sein, die dem Typ jener glichen, die mir zum Überleben verholfen hatten. Und sie würden ein demokratisches Deutschland aufbauen und danach streben, nach der schrecklichen Vergangenheit ein geachtetes Mitglied der Völkerfamilie zu werden. Ich wollte daran mitarbeiten. So in etwa meine etwas naive Entscheidung.

      Als ich Mitte der fünfziger Jahre nach Bonn kam, fand ich vor, was ich nicht erwartet hatte. Alte Nazis und solche, die für den Aufstieg Hitlers Mitverantwortung trugen, saßen nun in einigen der wichtigsten Regierungsämtern. Ich verstand das nicht. Die Hitlerzeit war für meine Begriffe nicht nur eine unselige Phase in der Geschichte Deutschlands gewesen. Hitler hatte die ganze Welt in einen fürchterlichen Krieg gestürzt. Unter seiner Herrschaft mußten viele Millionen Menschen gewaltsam sterben. Vergessen konnte ich aber auch nicht, was Hitler dem deutschen Volk angetan hat. Er zerstörte die erste Demokratie in diesem Land und setzte eine grausame Diktatur an ihre Stelle. Er machte die Deutschen zu Sklaven, die, wenn sie seine Gesetze nicht befolgten, die furchtbaren Instrumente des Terrors und der Folter zu spüren bekamen. Denunziantentum wurde gepflegt und gefördert, dem Blockwart jede Vollmacht erteilt. Mit Hilfe einer nie schweigenden Propaganda hämmerten die Nazis den Deutschen ihre These von den Menschen ein, die ein Recht auf Leben hatten, und jenen, die vernichtet werden müßten. Und das betraf nicht nur Juden, Sinti und Roma, Polen und Russen, sondern auch Deutsche, die dem nazistischen Idealbild nicht entsprachen. Und ich fragte mich nun und tue das heute immer wieder: „Wie konnten die Deutschen Männern, die für diese schrecklichen Verbrechen mitverantwortlich wurden, noch einmal Vertrauen schenken?“ Ich spürte bald, daß viele Deutsche mich und meine Einstellung nicht verstanden. Für manche mag ich eine lebendige Anklage, unangenehm und unbequem gewesen sein. Andere waren ausschließlich damit beschäftigt, die Gegenwart und die Zukunft zu bewältigen, so daß sie keine Gedanken an die Vergangenheit verschwenden wollten. Sprach ich mein Entsetzen darüber aus, erhielt ich Ratschläge, doch nicht die Vergangenheit zur Richtschnur meines Denkens und Handelns zu machen und das auch nicht von anderen zu verlangen. Ich fühlte mich bald sehr fremd in Deutschland, unsicher und allein.

      Die israelische Zeitung MAARIV bot mir 1958 an, für sie in Bonn als ihre Deutschland-Korrespondentin zu arbeiten. Ich sagte zu. Zunächst sah ich darin eigentlich nur einen Broterwerb. Die Redaktion erwartete von mir, daß ich ihren Lesern ein Bild vom neuen Deutschland vermittelte. Die Mehrzahl ihrer Leser stand Deutschland skeptisch gegenüber und glaubte nicht an eine so schnelle Abkehr vom Nationalsozialismus hin zur Demokratie. So ergab es sich, daß Anzeichen für eine positive Entwicklung in den fünfziger und sechziger Jahren in Deutschland eine schlechte Plazierung in der Zeitung fanden, Berichte über ehemalige, auch belastete Nazis und ihre Karrieren im neuen Deutschland hingegen auf der ersten Seite zu lesen waren. Dafür bot die Bonner Regierung auch ausreichend Material an. Ich leugne nicht, daß es auch in meinem Sinn war, der israelischen Öffentlichkeit bekannt zu machen,

       daß alte Nazis auch im neuen Deutschland zu Ministern und Staatssekretären aufsteigen konnten,

       daß ehemalige Nazis im Bundestag, in allen Parteien, in allen Verwaltungen, vielfach in hohen Positionen mitarbeiteten,

       daß Richter, die in den 12 Jahren und besonders im Zweiten Weltkrieg insgesamt 32.000 Todesurteile verhängt hatten, nicht in einem einzigen Verfahren zur Rechenschaft gezogen worden waren,

       daß die Justiz voll war von Richtern und Staatsanwälten, die schon im Dritten Reich „Recht“ gesprochen hatten,

       daß Naziverbrecher, wenn sie trotz vieler Verschleppungstaktiken von Polizei und Staatsanwälten vor Gericht gestellt wurden, nur selten Strafen erhielten, wie sie bei normalen Kapitalverbrechen üblich sind,

       daß alte Nazis lange vor den Opfern des Nationalsozialismus ihre Wiedergutmachung bzw. Pensionen erhielten,

       daß Wiedergutmachungszahlungen an die Opfer von Beamten mit brauner Vergangenheit festgesetzt wurden.

      Das sind nur einige Beispiele dafür, daß man in Bonn eine drastische Trennung von der Vergangenheit unterließ.

      Ich selbst hatte ab und zu Zusammenstöße mit Beamten, die ihre Nazivergangenheit nicht leugneten und selbstgerechter nicht hätten auftreten können. Ein Staatssekretär an der Seite von Bundeskanzler Erhard erklärte mir, daß man beim Aufbau des neuen Staates auf die alten Nazis hätte zurückgreifen müssen und damit nichts weiter getan hätte, als ihr Wissen auszubeuten, wie er es formulierte. „Ihnen verdanken wir unseren wirtschaftlichen Aufschwung und daß dadurch die Gefahr des Kommunismus im neuen Deutschland gebannt werden konnte.“ Süffisant lächelnd fügte er hinzu, daß ohne diesen wirtschaftlichen Aufschwung keine Wiedergutmachungszahlungen an die Opfer des Nationalsozialismus hätten gezahlt werden können. Nach solchen und ähnlichen Begebenheiten fragte ich mich manchmal, weshalb ich das alles ertrug. Es wäre ungerecht, würde ich in diesem Zusammenhang nicht darauf verweisen, daß ich in Bonn auch Freunde hatte, die unter den restaurativen Erscheinungen ebenso litten wie ich. Aber meist waren sie nach den Jahren der Hitler-Diktatur müde geworden, hatten politische Verfolgung hinter sich, hatten resigniert. Andere erkannten, daß alte Nazis auch Wähler waren, und ließen es an klaren Aussagen zur Vergangenheit fehlen. Daß ich in Bonn nicht beliebt war, ist sogar verständlich. Ich störte.

      Als in den sechziger Jahren der Aufruhr der Studenten einsetzte, war ich begeistert. Junge Deutsche, die gegen diese Zustände in ihrem Land revoltierten, schienen mir ein hoffnungsvolles Zeichen für eine demokratische Entwicklung ihres Staates. Dabei war es fast logisch, daß sie ihre Elterngeneration, die in der Nazizeit so kläglich versagt hatte, zu fragen begannen, wie es zu diesem verbrecherischen Regime hatte kommen können, und wie sie sich damals verhalten hatten. Nur selten bekamen sie eine befriedigende Antwort. Diesen Jungen kommt das Verdienst zu, als erste in diesem Land eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit angestoßen zu haben. Aber dann suchten sie, ihrer Bewegung eine ideologische Grundlage zu geben. Die Lehren von Mao Tse-tung, Che Guevara, Ho Chi-Minh und Karl Marx boten ihnen Ansätze dafür. Sie teilten die Welt ein in Gut und Böse, in Unterdrücker und Unterdrückte, in Imperialisten und Antiimperialisten. Und dabei kamen sie zu der Feststellung, daß Israel ein Ableger Amerikas sei, ergo ein Vorposten des Kapitalismus im Nahen Osten, dem keine Gnade gewährt werden dürfe. Israel müsse mit allen Mitteln bekämpft werden. Ich glaubte, meinen Ohren nicht zu trauen. Israel, das vielen Verfolgten des Naziregimes zur einzigen Zufluchtsstätte, das Unzähligen zur Heimat geworden war, ein Staat, der damals noch sozialistischer war als alle jene Länder zusammen, die diesen jungen Leuten als Vorbilder dienten, sollte nun nichts weiter sein als ein Unterdrücker, Ausbeuter oder Rassist? Man brauchte wahrlich nicht Zionist zu sein, um sich nun mit Israel verbunden zu fühlen. Spruchbänder, die diese Jungen auf ihren Demonstrationen mit sich führten und auf denen sie den Zionismus mit dem Faschismus gleichsetzten, empörten mich.

      Als sie sogar zu Tätlichkeiten gegen den israelischen Botschafter übergingen, hatte ich genug. Die alten Nazis in Bonn und nun auch noch die jungen verantwortungslosen Linken machten mir die Entscheidung leicht. Ich beschloß, meine Brücken in Bonn abzubrechen und nach Israel auszuwandern – und ein drittes Leben zu beginnen.

      Durch die Arbeit für die israelische Zeitung hatte ich Kontakt zu Israel bekommen. Bei Reisen dorthin hatte ich den Sinn und die Notwendigkeit für die Existenz dieses Staates begriffen und hatte die Aufbauleistung vor Ort bewundert. Israel stellte sich mir als Land der Verfolgten dar, in dem auch für mich ein Platz sein müßte. Verfolgte, ganz gleich, woher sie kommen und welche ihre Muttersprache ist, verstehen einander, haben den gleichen starken Überlebenswillen, haben vergleichbare Reaktionen. Meiner Redaktion, die zunächst von meinen Plänen nicht sonderlich begeistert war – ich sprach kein Wort Hebräisch –, kündigte ich meine Ankunft für den 2. Februar 1972 an. Dennoch nahm man mich herzlich auf, half mir, die vielen bürokratischen Klippen einer Einwanderung zu überwinden, und fand einen Platz für mich in der Redaktion. Ich fühlte mich sehr schnell zugehörig. Ja, es mag Ihnen merkwürdig klingen, wenn ich sage, daß ich das erste Mal in meinem Leben in diesem von außen bedrohten Land ein Gefühl der Sicherheit und der Geborgenheit empfand. Lange Zeit schrieb ich meine Artikel noch in Englisch, während ich eifrig Hebräisch lernte. Mir bot sich eine Fülle von Aufgaben: Besuche von Staatsmännern aus aller Welt,