Название | Überleben als Verpflichtung |
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Автор произведения | Inge Deutchkron |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783766641328 |
Die Nürnberger Rassegesetze von 1935, die es u. a. Juden und Nichtjuden verboten zu heiraten, führten die Schulbehörde dazu, jüdischen Schülern die Teilnahme an Ausflügen, am Schwimmunterricht, am Besuch von Landschulheimen zu untersagen. Umkleidekabinen wurden getrennt – für jüdische und nichtjüdische Schüler. Mein Vater fand diese Art der Diskriminierung nicht gut für ein Kind und meldete mich in der Jüdischen Schule in der Großen Hamburger Straße an. Ich weiß noch, wie mich diese Schule verwirrte. Tausende jüdischer Schüler strömten nun in die wenigen jüdischen Schulen der Stadt. Und so war es nicht zu verwundern, daß wir oft mehr als 50 Schülerinnen in einer Klasse waren. Ein geordneter Lehrbetrieb war unter diesen Bedingungen kaum möglich. Unter Lehrern und Schülern herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Einige wanderten aus. Lehrer verschwanden, waren verhaftet worden. Manchen Vater traf ein ähnliches Schicksal. Schüler und Lehrer waren nervös. Sollte man auswandern, sollte man bleiben? War ein menschenwürdiges Dasein in Deutschland überhaupt noch möglich? Die Schule tat alles, um uns auf eine mögliche Auswanderung vorzubereiten. Sie bot vermehrten Unterricht in Fremdsprachen an, lehrte uns Stenographie und Schreibmaschine schreiben, Kochen und Nähen. Das ging natürlich auf Kosten traditioneller Fächer. Chemie, Physik, Mathematik blieben mir fremde Wissenschaften. Ohne diese Kenntnisse habe ich bis heute problemlos gelebt. In Geschichte und Literatur bedauere ich meine Lücken. Große Freude bereiteten uns Sportfeste, die jüdische Schulen auf einem eigens dafür gemieteten Sportplatz im Grunewald veranstalteten. Das waren Ereignisse, denen wir entgegenfieberten. Die Erinnerung an diese Stunden auf dem Sportplatz ist die einzige wirklich angenehme Erinnerung an meine Schulzeit. Dort schüttelten wir alles uns Bedrückende ab. Wenn wir jedoch zur Rückkehr in die S-Bahn einstiegen, war diese gelöste Atmosphäre schnell wieder dahin. Wir achteten sorgsam und nicht ohne Ängstlichkeit darauf, kein Aufsehen, geschweige denn Anstoß zu erregen. Wenn eine von uns zu laut lachte, dann wurde sie von den anderen zurechtgewiesen. Auch wenn wir nicht darüber sprachen, ahnten wir doch, daß wir von den Mitreisenden als jüdische Kinder erkannt und angepöbelt werden konnten.
Meine Eltern versuchten, alles Demütigende zu ignorieren oder es mit Lachen abzutun. Dabei halfen ihnen die alten Freunde, die jeden Witz über die Nazis wie eine Offenbarung über deren Unfähigkeit aufnahmen. Herr Gumz, der die Schmutzwäsche zu holen und die saubere Wäsche zu liefern pflegte, hatte immer neue Witze parat, die er bei seinen Kunden zu hören bekam. Dazu gehört eine Begebenheit, die als Wahrheit in Berlin verbreitet wurde. Im Rahmen einer Naziveranstaltung sei ein Teilnehmer aus dem Publikum aufs Podium gebeten worden, um am Beispiel seines Ohres die rein arische Abstammung zu verdeutlichen. Der Versammlungsleiter ahnte nicht, daß der, den er aufs Podium gebeten hatte, Jude war.
Als mich tatsächlich ein Fotograf entsprechend der Nazitheorie aufforderte, mein linkes Ohr freizumachen, damit der Unterschied zwischen einem semitischen und einem arischen Ohr auf dem Foto deutlich sichtbar wurde, war ich den Tränen nahe. Ich war damals 16 Jahre alt und wie jedes junge Mädchen eitel. Dieses Foto war für eine Kennkarte bestimmt, auf der auch unsere Fingerabdrücke abgedruckt wurden, um so das Kriminelle als Wesensmerkmal des Juden sogleich kenntlich zu machen. Diese Kennkarte enthielt auch zum ersten Mal die für uns vorgeschriebenen Zusatznamen, Sara für Frauen, Israel für Männer, die zwischen Vor- und Zunamen eingefügt werden mußten. Und wieder versuchte mein Vater, diese Verordnung ins Lächerliche zu ziehen, indem er feststellte, er habe nun zwei „Zores“ in Abwandlung des Namens Sara. Zores oder Zaroth bedeutet auf Hebräisch „Sorgen“. Immer wieder führten meine Eltern mir vor, wie sie mit dem gegen sie gerichteten Unrecht fertig zu werden verstanden. Als die Nazis anordneten, daß Juden ihr Gold und Silber abzuliefern hätten, suchten meine Eltern alle kaputten, verbeulten und verbogenen Gegenstände für die Abgabe zusammen. Von unseren nichtjüdischen Freunden, den Riecks, den Garns, den Ostrowskis, erbaten wir ähnliches, um die Menge der abzuliefernden Gegenstände zu vergrößern und glaubhafter zu machen. Unser Familiensilber nahmen unsere „Aufbewahrier“ zu sich, wie wir diese Freunde nannten. Das alles ging unter großem Gelächter vor sich. In dieser Atmosphäre wuchs ich auf.
Der Wendepunkt kam am 9. November 1938, als die Nazis das erste staatlich organisierte Pogrom inszenierten. Sie nahmen dafür den Mord eines jungen Juden an einem deutschen Diplomaten zum Vorwand. Jetzt begannen die deutschen Juden, die Wirklichkeit zu begreifen. Selbst mein Vater verstand nun, daß ein Jude nicht mehr in Frieden in Deutschland würde leben können. Aber das Auswandern war schwerer geworden. Das Ausland sträubte sich gegen die Aufnahme mittellos gewordener Menschen, obwohl ihnen die Verfolgung der Juden in Deutschland nicht verborgen geblieben sein konnte. England und Schweden nahmen Kinder ohne Eltern auf. Ich lehnte ein solches Ansinnen ab. Ich war viel zu sehr mit meinen Eltern verbunden.
Mein Vater hatte großes Glück. Eine englische Kusine überwies der Britischen Bank eine hohe Summe Geldes als Garantie dafür, daß mein Vater bei einer Einwanderung nicht dem englischen Staat zur Last fallen würde. Sie konnte dies nur für einen von uns tun. Mein Vater verließ Berlin am 19. April 1939. Wenig später ließ er uns wissen, daß er für meine Mutter und mich Arbeitsstellen in einem englischen Haushalt gefunden habe. Wir bemühten uns um unsere Ausreise. Aber es war schon zu spät. Am 1. September 1939 brach der Zweite Weltkrieg aus. Mein Vater war in England und meine Mutter und ich in Berlin. Und das blieb so sieben Jahre lang.
Ich war 17 Jahre alt, als unsere Schule geschlossen wurde. Die Nazis hatten für uns Mädchen das Jüdische Kindergärtnerinnenseminar im Grunewald als einzige Ausbildungsstätte bestehen lassen. Ich begann dort mit einem Kurs als Kinderpflegerin. Kurz nach Kriegsbeginn sperrten die Nazis die Pension meines Vaters mit der Begründung, er lebe nun im feindlichen Ausland. Das war das Ende meiner Ausbildung. Ich mußte Geld verdienen. Als Jüdin hatte ich die Wahl zwischen Arbeit in einer Fabrik und in einem jüdischen Haushalt. Ich zog letzteres vor. Aber auch das wurde nach einem Jahr verboten. So blieb mir nur die Arbeit in einer Fabrik.
In einem speziell für Juden eingerichteten Arbeitsamt wurde Juden Arbeitsstellen zugewiesen in Munitionsfabriken, auf Rieselfeldern, in der Straßenreinigung, im Straßenbau. Das Unglück wollte es, daß ich zu IG-Farben vermittelt wurde, und zwar in deren Seidenspinnerei für Fallschirme ACETA in Lichtenberg. Diese Fabrik war für ihre schlechte Behandlung von Juden berüchtigt. Im Büro drückte man mir einen Judenstern in die Hand, der am Arbeitskittel zu befestigen war, mit den Worten: „Wehe, wenn du den vergißt!“ Amtlich war diese Kennzeichnung noch nicht verordnet worden. Wir jüdischen Frauen waren weitgehend isoliert. Jeder Kontakt zu nichtjüdischen Arbeitern wurde verhindert. Eine arische Vorarbeiterin, die uns in die Arbeit einzuführen hatte, wahrte immer einen Meter Abstand, wenn sie mit einer von uns sprach. Zehn Stunden mußten wir aufpassen, daß sich der Faden auf den rotierenden Spulen nicht verhedderte, abriß oder die Spindeln nicht leerliefen. Wir hatten einen eigenen Frühstücksraum, in dem zwar ein Tisch stand, Sitzgelegenheiten aber fehlten. Während der Pause gab es unter den Frauen nur ein Gesprächsthema: Wie kommen wir hier wieder raus? Frauen, die schon länger dort arbeiteten, berichteten, daß es einigen Frauen gelungen wäre, entlassen zu werden. Unterleibskrankheiten wären ein Grund, der akzeptiert würde. Sie machten stundenlanges Stehen an der Maschine unmöglich. Auch ich wäre dieser Fabrik gern entronnen. Doch ich wußte nicht, wie. Ich war 19 Jahre alt und kerngesund. Eines Tages kam mir die rettende Idee. Ich trug zur Arbeit Schuhe mit den höchsten Absätzen, die ich je besessen hatte. Zehn Stunden an der Maschine stehen, drei in der Straßenbahn vom und zum Arbeitsplatz – Juden war das Sitzen in öffentlichen Verkehrsmitteln untersagt –, da wurden die hohen Absätze zur Tortur. Nach drei Tagen konnte ich mein rechtes Knie nicht mehr bewegen. Ein nichtjüdischer Arzt hatte den Mut, mir zu attestieren, daß ich für stehende Arbeit untauglich sei. Ich wurde krankgeschrieben. Dann folgte eine Aufforderung zum Betriebsarzt: „Ziehen Sie die Schlüpfer aus!“, befahl er und wies auf einen Untersuchungsstuhl. Ich sagte, daß es sich um mein Knie handelte. Er gab mir mit einer Handbewegung zu verstehen, daß ihn das nicht interessiere. Nach einer peinlichen und nicht gerade schmerzfreien Untersuchung empfahl er meine Entlassung. Die IG-Farben-Krankenkasse