Название | Überleben als Verpflichtung |
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Автор произведения | Inge Deutchkron |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783766641328 |
Mein begeisterter Empfang des ersten sowjetischen Soldaten, den ich zu Gesicht bekam, hätte beinahe fatale Folgen gehabt. Frauen waren in den Augen sowjetischer Soldaten Freiwild. Ich mußte mich noch einmal verstecken. Nur einmal durfte ich einem russischen Soldaten jüdischer Herkunft meine wahre Identität offenbaren. Der aber, wohl angetan von dem jungen Mädchen, wollte gleich Chasane (Hochzeit) mit mir machen. Als ich vorgab, sein Jiddisch nicht zu verstehen, zog er seine Pistole und brüllte, es sei alles gelogen. Ich sei gar keine Jüdin. Mit viel List entkam ich diesem unsympathischen Zwischenspiel. So endete mein erstes Leben.
Es dauerte einige Zeit, bis ich begriff, daß ich frei war, frei – der Vollstreckung des Todesurteils entkommen. Und das verdanke ich einzig und allein der mutigen, aufopfernden Hilfe unserer Freunde, die es möglich machten, daß meine Mutter und ich zwei Jahre und vier Monate in Verstecken überleben konnten: Lisa Holländer, Otto Ostrowski, Grete Sommer, Walter Rieck, Klara Grüger, Theodor Görner, Käthe Schwarz, Paul Garn und die bereits genannten Emma Gumz und Otto Weidt.
Das sind die Namen der wichtigsten unserer Helfer. Ich bezeichne sie als Helden. Es waren Menschen, die es nicht ertrugen, untätig zuzusehen, wie eine von den Nazis als Verbrecher eingestufte Minderheit ihren Mördern ausgeliefert wurde. Sie handelten, wie ihr Gewissen es ihnen eingab, und dachten dabei nicht an die Gefahren, in die sie sich begaben. Sie taten Großes, ohne sich dessen bewußt zu sein. Menschlichkeit war ihnen oberstes Gebot. Ich bin dankbar dafür, daß der Staat Israel sie als „Gerechte der Völker“ anerkannt und ausgezeichnet hat. Die Staatsorgane dieses Landes haben sie bis heute weder beachtet noch geachtet.
Mein zweites Leben begann fast so spektakulär, wie das erste geendet hatte. Es dauerte nach Kriegsende noch drei Monate, bis es uns gelang, Kontakt zu meinem Vater in England aufzunehmen. Post und Telefon blieben noch lange Zeit unterbrochen. Ein englischer Soldat half uns mit einem Brief an meinen Vater über seine Feldpost. Und dann mußten wir noch ein weiteres Jahr warten, bis uns ein britisches Konsulat die Einreisevisen nach England erteilte. Dieses Jahr überbrückte ich als Sekretärin in der „Zentralverwaltung für Volksbildung für die sowjetisch besetzte Zone“. Diese Tätigkeit begann so hoffnungsvoll. Ein jeder, der dort arbeitete – Menschen, die aus dem Exil zurückgekommen waren oder ein KZ überlebt hatten –, kannte nur ein Ziel: mitzuhelfen, ein anderes, ein neues Deutschland aufzubauen. Das ging solange gut, bis die Politik sie einholte. Die Kommunisten, die davon überzeugt gewesen waren, daß dieses von den Nazis befreite Deutschland ihnen wie eine reife Frucht in den Schoß fallen würde, sahen sich getäuscht. Da versuchten sie, die Sozialdemokraten, die in Berlin und im Osten Deutschlands in der Gunst der Wähler vorne lagen, für sich zu gewinnen. Sie griffen den alten Traum von der Einheit der Arbeiterklasse auf und nahmen ihn als Vorwand, um die Sozialdemokraten in ihre Reihen zu zwingen und mit Hilfe ihrer Wählerstimmen an die Macht zu gelangen. Diese tödliche Umarmung der Sozialdemokraten konnten sie in der sowjetisch besetzten Zone mit den Bajonetten der sowjetischen Armee verwirklichen.
Ich war, für meine Herkunft verständlich, in die neu gegründete Sozialdemokratische Partei eingetreten und avancierte zur Vorsitzenden der kleinen Betriebsgruppe SPD in dieser Verwaltung. Ohne Scheu und Zögern wandte ich mich gegen die Strategie der Kommunisten. Ich erklärte, ich hätte wahrlich nichts gegen die Einheit der Arbeiterbewegung, wohl aber etwas dagegen, wenn sie auf undemokratische Weise von oben diktiert durchgeführt werden sollte. Die Vorstellung, daß jemand erneut die kaum errungene Freiheit und die neue demokratische Ordnung untergraben könnte, erschien mir nach den Erfahrungen der schrecklichen Jahre unter der Nazidiktatur unerträglich. Und so bekämpfte ich offen jede Regung, die in diese Richtung zu deuten schien. Ich tat dies mit der ganzen Naivität meiner Jugend und meiner politischen Unerfahrenheit.
Das brachte mir ein Gespräch mit dem in der Verwaltung ansässigen Vertreter der sowjetischen Militäradministration ein. Liebenswürdig empfing er mich, bedauerte mein Schicksal, wurde streng, als ich es ablehnte, seiner Aufforderung, Mitglied der SED zu werden, nachzukommen. Schließlich fragte er hintergründig: „Wenn Sie die Möglichkeit hätten, in die Sowjetunion oder in die USA zu reisen, wohin würden Sie fahren?“ Ich antwortete ihm, daß ich als Sozialistin natürlich großes Interesse daran hätte, das Mutterland des Sozialismus kennenzulernen. Mir schiene aber auch ein Besuch in den USA wichtig. Denn wollte man die Übel des Kapitalismus bekämpfen, müßte man sie kennen. Aber nach England würde ich bald reisen. Nun entließ er mich schnellstens. Wenige Tage danach wurde ich gewarnt. Die sowjetische Militäradministration hatte meine Papiere angefordert. Mir drohte Verhaftung. Ich entkam dieser neuen Gefahr.
Ich glaubte, meinem unvollkommenen Englisch nicht zu trauen, als mir der Beamte der Einwanderungsbehörde am 2. August 1946 im Hafen von Folkestone eröffnete, ich hätte mich als feindliche Ausländerin einmal die Woche bei der Polizei zu melden. Der entsprechende Ausweis verpflichtete mich außerdem, mich nach 24 Uhr im Hause aufzuhalten und nicht über fünf Meilen hinaus ohne polizeiliche Genehmigung zu reisen. Meine Aufenthaltsdauer sei auf sechs Monate beschränkt. Eine Arbeitsbewilligung sei ebenfalls nicht zu erwarten. Wohl gemerkt, ich war mit einem Visum nach England gekommen, das nur Opfern des Faschismus oder sogenannten displaced persons zustand. England versagte zur damaligen Zeit jedem anderen Deutschen die Einreise. Mein Entschluß, diesem unfreundlichen Land so bald wie möglich den Rücken zu kehren, stand schon an diesem 2. August 1946, dem Tage meiner Ankunft, fest.
Ein englischer Politiker griff später die Absurdität der mir zuteil gewordenen Behandlung auf und bewirkte, daß ich von einem feindlichen zu einem normalen Ausländer avancierte, der zwar mehr Rechte hatte, aber ebensowenig in die englische Gesellschaft aufgenommen wurde.
Ich blieb acht Jahre in England, studierte zunächst und arbeitete dann im Büro der Sozialistischen Internationale in London. Dort lernte ich führende Sozialisten aus aller Welt kennen. Die Sozialisten Indiens luden mich zu einem Besuch in ihr Land ein. Dies schien mir im Jahre 1954, als es noch keine Reisegesellschaften und nur wenige Fluglinien gab, doch recht abenteuerlich. Aber vielleicht war gerade das der Grund, daß ich die Reise unternahm. Ein ganzes Jahr durchstreifte ich Indien, Burma und Nepal, überall von Sozialisten betreut und geführt. Die Erlebnisse und Erfahrungen in einer für mich fremden Welt überwältigten mich. Ich saugte sie auf, lernte bei jedem Schritt Neues über das Leben anderer Völker. Ich erkannte politische Zusammenhänge. Ich schrieb auf, was ich gesehen hatte. Und ich fand später Leser dafür unter den Deutschen, denen in zwölf Jahren Nazidiktatur die Welt fremd geworden war. So führte mich diese Reise zu meinem Beruf – dem Journalismus, der mir mehr wurde als nur ein Broterwerb.
Ich überlegte nicht lange, wo ich in Zukunft