Название | Gewaltlosigkeit im Islam |
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Автор произведения | Muhammad Sameer Murtaza |
Жанр | Социология |
Серия | |
Издательство | Социология |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783864082573 |
Khan unterscheidet nun bei zwischenmenschlichen Konflikten zwischen zwei Arten von ğihād: dem übergeordneten friedvollen ğihād, verstanden als gewaltlosen Aktivismus, und dem gewaltsamen ğihād, in Khans qurʾānischer Terminologie qitāl, zu Deutsch Kampf, im Sinne der Selbstverteidigung.60
Qitāl ist demnach nur ein Unteraspekt des ğihād, der nur dann zur Geltung kommen durfte, wenn alle friedvollen Handlungsmöglichkeiten gänzlich ausgeschöpft waren und die eigene Auslöschung bevorstand.61
Der indische Gelehrte widmet sich dann der Frage, wer im Islam überhaupt legitimiert sei, zur bewaffneten Selbstverteidigung aufzurufen. Diese Frage ist hinsichtlich zahlreicher Organisationen wie Al-Qaida, IS, Boko Haram und Hisbollah von höchster Aktualität. Sich auf das islamische Recht stützend, erklärt der Gelehrte, dass einzig der gewählte Vertreter aller Muslime – den es heute nicht mehr gibt – den Selbstverteidigungsfall ausrufen darf. Alle militanten Bewegungen, die sich auf den Islam berufen, stünden eigentlich im Widerspruch zu den islamischen Rechtsauffassungen, die diese Gruppierungen angeblich vorgeben, wiederherstellen zu wollen.62 Maulana Wahiduddin Khan verweist hierbei auf einen Vers aus der Offenbarung, der eine Befehlskette hinsichtlich Krieg und Frieden aufstellt:63
Und wenn ihnen etwas zu Ohren kommt, das Frieden oder Krieg betrifft, verbreiten sie es. Wenn sie aber (stattdessen) dem Gesandten oder denen, die Befehlsgewalt unter ihnen haben, berichteten, so würden diejenigen es erfahren, die dem nachgehen können. Und ohne Gottes Gnade gegen euch und Seine Barmherzigkeit wärt ihr sicher bis auf wenige Satan gefolgt. (4:83)
Folglich, so Khan, seien diese Milizen aus dem islamischen Rechtsverständnis heraus als Terrororganisationen einzustufen, die, obwohl sie sich auf den Islam berufen möchten, sich nur auf ein pervertiertes Unwesen namens Islam stützen können, das nicht dem Religionsverständnis von 1,5 Milliarden Muslimen weltweit entspricht.64
Die Einstufung als Terrororganisationen ergibt sich dabei nicht nur aus der widerrechtlichen Bemächtigung zum Ausrufen des bewaffneten ğihād, sondern weil der sogenannte ğihād dieser Gruppierungen nichts mehr gemeinsam hat mit der islamischen Auffassung von Selbstverteidigung. Mit der Erlaubnis, sich mittels Waffen zu verteidigen legte der Prophet Muhammad den Muslimen zugleich eine Kriegsethik auf, die einzuhalten ist:
Nichtkombattanten sind zu verschonen,
destruktive Wirtschaftskriegsführung
und unnötige Zerstörungen von Infrastruktur sind zu unterlassen.65
Diese Kriegsethik wird jedoch, so der indische Gelehrte, von den militanten Bewegungen, die sich so gerne auf den Islam berufen, gar nicht eingehalten. Darüber hinaus hätten Gelehrte, die bestimmten militanten Bewegungen nahestünden, zugunsten diesen die islamische Kriegsethik pervertiert, indem sie beispielsweise Selbstmordattentate für legitim erklärten. Khan benennt hierbei den ägyptischen Gelehrte Yusuf Al-Qaradawi, der Mitglied der ägyptischen Muslimbruderschaft ist, die wiederum die Mutterorganisation der HAMAS ist. Khan hält Al-Qaradawi entgegen, dass die Selbsttötung niemals in der islamischen Geschichte als Märtyrertod verstanden wurde. Al-Qaradawi toleriere mit seinem Rechtsgutachten den im Islam rechtswidrigen Grundsatz, dass der politische Zweck alle Mittel heiligt. Politik, nicht der Qurʾān, werde damit zum wichtigsten Bezugspunkt im Denken dieses Gelehrten.66
Die Gleichsetzung von politischer Macht und Glaube, wie sie irrtümlicherweise von den Muslimen angenommen wurde, führte dann, so Khan, im Zuge des politischen Niedergangs der muslimischen Welt ab dem 18. Jahrhundert zu der Vorstellung, dass dies auch zugleich einen Niedergang des Islam bedeute. Khan macht jedoch unmissverständlich klar, dass es sich lediglich um einen Niedergang bestimmter Dynastien gehandelt habe. Der Glaube sei nicht gekoppelt an politische Macht. Nirgends im Qurʾān sei den Muslimen politische Herrschaft auf unbestimmte Zeit versprochen worden.67
Für den Gelehrten kann der Islam keine Religion der Gewalt oder der Gewaltverherrlichung sein, denn wie erkläre es sich dann, dass der Islam im Mittelalter eine der großen Menschheitszivilisationen hervorgebracht habe? Zivilisation befruchtet, Gewalt zerstört. Beides sind gegensätzliche Begriffe. Um die gegenwärtige Misere der muslimischen Gemeinschaft zu überwinden, müssten die Muslime für alle menschlichen Konflikte auf die Methode des Propheten Muhammad zurückgreifen, die Rache, Aggressionen und Vergeltung vermeide.68 Doch was bedeutet dies nun konkret?
Der gewaltlose ğihād
Durch die Instrumentalisierung des qitāl in der islamischen Geschichte, so Khan, blieben a) das Friedenspotenzial des Islam, b) die Anstrengungen des Propheten Muhammad, Gewalt in der arabischen Stammesgesellschaft zu unterbinden, und c) die Anleitung zu einer gewaltlosen Lebensweise weitestgehend unberücksichtigt.69
Gott beschreibt sich selbst im Qurʾān nicht als der Gott des Krieges, sondern als der eine und einzige Gott des Friedens, wenn Er sich in Sure 59, Vers 23 als der Friede (as-salām) benennt.70 Der Islam als Heilsweg zu Gott wird ebenso als ein Pfad des Friedens bezeichnet:71
Womit Gott zu Wegen des Heils/Friedens (as-salām) leitet, wer Sein Wohlgefallen anstrebt und sie mit Seiner Erlaubnis aus den Finsternissen zum Licht und auf einen rechten Pfad führt. (5:16)
Somit gehört das Friedenmachen, so Khan, zu den Pflichten eines jeden Muslims, was schon durch den Gruß as-salāmu ʿalaikum (Friede sei mit euch) zum Ausdruck kommt.72
Zu seinen Lebzeiten war der Prophet Muhammad nicht darauf aus, Krieg zu führen, sondern Krieg zu vermeiden. Dreizehn Jahre lang wurde die muslimische Minderheit in Mekka von den Stürmen der Verfolgung durchgeschüttelt, ohne je die Hand gegen ihre Unterdrücker zu erheben. Langfristig blieben der kleinen monotheistischen Gemeinschaft zwei Möglichkeiten, mit der Lage umzugehen: entweder Gefühle der Verbitterung und des Hasses in ihren Herzen zuzulassen, die irgendwann in grenzenlose gewalttätige Handlungen münden würden, oder das Leiden in eine kreative Kraft umzuwandeln. Die Muslime entschieden sich, so der indische Gelehrte, für Letzteres, als sie damit anfingen, friedlich nach Medina auszuwandern, wo sie herzlichst empfangen wurden. Auf diese Weise wurde eine gewalttätige Konfrontation in Mekka vermieden, die in einem blutigen Bürgerkrieg geendet hätte:73
Sprich: „O meine (Gottes-) Diener, die ihr glaubt! Fürchtet eueren Herrn. Diejenigen, welche in dieser Welt Gutes tun, werden Gutes erhalten; und Gottes Erde ist weit. Die Standhaften werden ihren Lohn erhalten, ohne dass darüber abgerechnet wird.“ (39:10)
Und die ihr Land verließen, nachdem sie Gottes wegen Gewalt erlitten hatten, Wir wollen ihnen wahrlich eine schöne Wohnung im Diesseits geben, und der Lohn des Jenseits ist noch größer. Wüßten sie es nur, jene, die in Geduld standhaft sind und auf ihren Herrn vertrauen! (16:41–42)
Die Auswanderung wird damit nicht nur zu einer Auswanderung in die Freiheit, sondern auch zu einer Befreiung von den Unterdrückern.
Auch die spätere gewalttätige Konfrontation zwischen Medina und Mekka galt dem Propheten als notwendiges Übel, um die Vernichtung seiner Gemeinde abzuwehren. Als im Jahre 627 (5 n. H.) die mekkanischen Aggressoren abermals auszogen, um Medina anzugreifen, kam es zur sogenannten Grabenschlacht, die streng genommen gar keine Schlacht war. Auf Anraten des Muslims Salman Al-Farisi (gest. 657) errichteten die Muslime um Medina einen unüberwindbaren Graben. Hierdurch wurden nahezu jegliche Kampfhandlungen unterbunden.74
Der Gesandte Gottes Muhammad, so der Gelehrte, verstand niemals Krieg als eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, stattdessen versuchte er, durch kluge und pragmatische Diplomatie einen Frieden zwischen Medina und Mekka zu erzielen. Das Ergebnis dieser Bemühungen war der Friedensvertrag von Al-Hudaybiyyah 628 (6 n. H.), der die Beilegung aller Kampfhandlungen für einen Zeitraum von zehn Jahren vorsah. Auf diese Weise, so Maulana Wahiduddin Khan, wurde der Konflikt zwischen Monotheismus