Название | Gewaltlosigkeit im Islam |
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Автор произведения | Muhammad Sameer Murtaza |
Жанр | Социология |
Серия | |
Издательство | Социология |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783864082573 |
Der indische Gelehrte ist sich bewusst, dass Gewalttätigkeit im Namen des Islam ein vielschichtiges Problem ist. Man darf es nicht ausschließlich theologisieren. Zugleich existiert ein entsprechendes Lehrgebäude, das im 20. Jahrhundert im Zuge der Dekolonisation größtenteils von Laien aufgebaut wurde. Die Utopie eines weltweiten theokratischen Staates, der alle Menschen gleich und gerecht behandelt, barg in sich stets ein Element des Ressentiments: Die einst Ohnmächtigen kehren zurück, um ihrerseits Rache an ihren ehemaligen Unterdrückern, den Kolonialmächten, zu nehmen, indem sie ihrerseits einen imperialistischen Staat errichten. Dies war also keinesfalls eine konstruktive Botschaft für das Morgen, sondern ein Sicheinfügen in die Spirale der Gewalt.
Khan sieht es als seine Pflicht an, hierüber eine innerislamische Diskussion anzustoßen in der Hoffnung, dieses Gebäude zum Einsturz zu bringen und somit Gewalttätern ihre Legitimationsgrundlage zu entziehen. Mit bloßen Distanzierungen von Gewalttaten, so Khans Position, sei es nicht getan. Das Problem von Gewalt im Islam müsse schonungslos untersucht, seine Zusammenhänge analysiert und eine Alternative angeboten werden, die über den Tag hinausreicht. Nur so könne ein muslimischer Gelehrter seiner Verantwortung für die konstruktive Mitgestaltung dieser Welt gerecht werden.49
Die Glorifizierung von Gewalt
Anthropologisch geht der Gelehrte von der Prämisse aus, dass der Mensch in sich sowohl ein Gewaltpotenzial als auch ein Friedenspotenzial besitzt. Je nachdem, zu welchem Selbstverständnis der Mensch über seine Rolle auf Erden gelangt, entwickelt er entweder eine Lebensweise, in der das Primat des Stärkeren oder das Primat der Barmherzigkeit gilt. Die jeweilige Lebensweise schafft wiederum eine entsprechende Kultur der Gewalt oder des Friedens.50
Nach Khan dominiert seit den frühesten Tagen der Menschheit bis in unsere heutige Zeit hinein eine Kultur der Gewalt, die sich in der Bewunderung für Kriege und Militärführer zeige. Bereits im Kindesalter werde man global auf diese Kultur geeicht, wenn im Geschichtsunterricht ausführlich die großen Militärkonflikte seit frühester Zeit und deren Strategen behandelt werden, während Friedenslehrer und Friedensstifter unberücksichtigt bleiben. Dadurch werde Kindern vermittelt, dass Militär und Krieg etwas Bedeutsames und militärische Führer Helden seien.51
Die muslimisch geprägte Welt stelle hierbei keine Ausnahme dar. Verbunden mit der raschen Expansion des Islam nach dem Tod des Propheten Muhammad 632, setzte zur Zeit der Umayyaden- (661–750) und der Abbasidendynastie (750–1517) die Entwicklung ein, das muslimische Heer zu motivieren, indem die Schlachten zur Zeit des Propheten zwischen der Oase Medina und der Handelsstadt Mekka glorifiziert wurden. Im Zuge dessen wurde der Prophet Muhammad als überragender Militärführer stilisiert. Prophetenbiografien erhielten den Titel maġāzī, was zu Deutsch militärische Unternehmungen bedeutet.52 So entstand im kulturellen Gedächtnis der Muslime der Eindruck, die islamische Frühgeschichte sei eine ununterbrochene Geschichte von Kriegen, Siegen und Eroberungen gewesen. Die Folgen waren, dass die muslimische Gemeinschaft den Glauben mit dem Anspruch verband, stets eine siegreiche, erfolgreiche und fortschrittliche zivilisatorische Kraft zu sein.53
Dieses etablierte Geschichtsbild wird nun von Maulana Wahiduddin Khan infrage gestellt. Er weist nach, dass der Prophet Muhammad an vier Kampfhandlungen beteiligt war, die der Verteidigung der Bevölkerung von Medina, nicht aber der Ausbreitung der Religion des Islam dienten. Es handelt sich bei ihnen um die Schlacht von Badr im Jahre 624 (2 n. H.), die Schlacht von Uhud im Jahre 625 (3 n. H.), die Schlacht von Khaibar im Jahr 629 (7 n. H.) und die Schlacht von Hunain im Jahr 630 (8 n. H.). Die Zeitabstände zwischen diesen Kampfhandlungen erwecken nicht den Eindruck, als wäre die Frühzeit des Islam eine endlose Aneinanderreihung von Schlachten gewesen. Die Dauer der Kampfhandlungen all dieser Schlachten zusammengenommen betrug 1½ Tage. Der indische Gelehrte erinnert daran, dass das Prophetentum Muhammads fast 23 Jahre, genauer, 8.130 Tage, währte. Also stelle sich die Frage, warum die Muslime diesen 1½ Tagen über alle Maßen Beachtung schenken und sich nicht fragen, was der Prophet die restlichen 8.128 Tage seines Lebens getan hat.54
Nach dem türkischen Historiker Resit Haylamaz hatten die ersten muslimischen Chronisten eine besondere Vorliebe für Heldengeschichten. Deshalb sei der Prophet überwiegend als Kriegsheld dargestellt worden.55 Auch Haylamaz recherchierte, wie lange die einzelnen kriegerischen Auseinandersetzungen in der medinensischen Phase, die Muhammad selbst angeführt hat, gedauert haben. Er kommt sogar zu dem Schluss, dass es wohl nicht mehr als 13 Stunden waren und damit die Tradition widerlegt sei, Muhammad wäre ein großer Kriegsheld gewesen.56
Als Nächstes betrachtet Khan die Verwendung des Wortes ğihād im Qurʾān. Die eigentliche Wortbedeutung lautet Anstrengung. Damit ist ğihād zunächst einmal ein zentraler spiritueller Begriff im Islam, der alle Handlungen eines Gläubigen umfasst, mittels derer er sich auf Gott zubewegt. In der Zeit des Propheten Muhammad beinhaltete dies auch die Pflicht zur Selbstverteidigung gegen die Angriffe der Handelsstadt Mekka.57
Wäre Medina durch die Mekkaner erobert worden, wäre der Bevölkerung, Männer, Frauen und Kindern, nur die Wahl zwischen der Rückkehr in den alten henotheistischen Glauben oder Tod durch das Schwert geblieben. Die Abwendung vom Glauben an den einen Gott hätte zwar die Menschen in Medina vor dem Tod bewahrt, allerdings hätten sie sich am Jüngsten Tag vor Gott hinsichtlich ihrer Integrität verantworten müssen. Um also einem Gemetzel zu entgehen und sich zugleich weiterhin zum Islam bekennen zu dürfen, sei es den Muslimen nach 13 Jahren des Verächtlichmachens, des Verfolgtwerdens, des Gefoltertwerdens und des Getötetwerdens erlaubt worden, sich mittels Waffen zur Wehr zu setzen. Khan verweist auf nachstehende Verse aus der Offenbarung, die diese Erklärung untermauern sollen:58
Und bekämpft auf Gottes Pfad, wer euch bekämpft, doch übertretet nicht. Siehe, Gott liebt nicht die Übertreter. (2:190)
Erlaubnis [zur Verteidigung] ist denen gegeben, die bekämpft werden – weil ihnen Unrecht angetan wurde –, und Gott hat gewiß die Macht, ihnen beizustehen; jenen, die schuldlos aus ihren Wohnungen vertrieben wurden, nur weil sie sagten: „Unser Herr ist Gott!“ Und hätte Gott nicht die einen Menschen durch die anderen abgewehrt, wären (viele) Klöster, Kirchen, Synagogen und Moscheen, in denen Gottes Name häufig gedacht wird, bestimmt zerstört worden. Und wer Ihm helfen will, dem hilft gewiß auch Gott; denn Gott ist stark und mächtig. (22:39–40)
Der Griff nach den Waffen zur Selbstverteidigung war allerdings das letzte Mittel, nicht das erste Mittel, um sich vor einem Aggressor zu schützen. Alle Verse im Qurʾān, bei denen es um Kampf geht, sind im Rahmen der Selbstverteidigung und eines bereits in Gang befindlichen Krieges zu lesen. Eine Interpretation hierüber hinaus dürfen sie nicht erhalten, da ansonsten die ursprüngliche Bedeutung dieser Verse verfälscht wird.
Maulana Wahiduddin Khan beklagt, dass weder Extremisten muslimischen Glaubens noch Nichtmuslime sich die Mühe machen würden, krasse Verse wie: Und tötet sie, wo immer ihr auf sie stoßt. Und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben; denn Verführung ist schlimmer als Töten. (…) (2:191) in ihrem Offenbarungskontext zu lesen. Nur ein Vers zuvor heißt es: Und bekämpft auf Gottes Pfad, wer euch bekämpft, doch übertretet nicht. Siehe, Gott liebt nicht die Übertreter. Stattdessen würden beide Seiten Verse wie Sure 2, Vers 191 aus ihrem Kontext herausreißen und sie in ihrer Propaganda als das Recht zum Krieg missverstehen. Gleiches könne man aber auch mit Matthäus 10,34–37 tun: Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater