Lakritz. Klaus-D. Kreische

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Название Lakritz
Автор произведения Klaus-D. Kreische
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783941895850



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Kirche zu verteidigen und vor dem Untergang bzw. ihrer Zerstörung als ›heidnische‹ Schriften zu retten.

      Diese Aufgabe übernahmen ab dem 6. Jahrhundert paradoxerweise Benediktinermönche, die nach Auffassung des Apotheker-Chronisten Adrien Phillippe eher aus Langeweile denn zum Wohle der Wissenschaft die antiken Schriften kopierten und sich so dieses Wissen aneigneten.1 Vor allem durch den Codex »Regula Benedicti«, der Anweisungen für die praktische und literarische Pflege des antiken Wissens enthält, übermittelte der Klerus in seiner Missionstätigkeit der folgenden Jahrhunderte dem paganen Europa nicht nur seine christliche Lehre, sondern auch die Erkenntnisse der antiken Kultur: der Sprache und Literatur, der Künste, der technischen Wissenschaften, Naturwissenschaften und der Medizin.

      Darüber hinaus besaßen die Mönche genügend Kenntnisse von der Heilwirkung der Kräuter, um die Arzneien aus der Natur selbst zu bereiten. Ihren Arzneischatz lieferten anfänglich noch die Pflanzen und Kräuter in Steppe und Wald, an Hecken, Ackerrainen und Bachufern. Mit der Regula ist den Benediktinern aber auch der Gartenbau zur Ordenspflicht gemacht worden. In vielen Regionen Europas ebneten die Mönche mit ihren Klostergärten den Weg für eine Kultivierung unbekannter Pflanzen, worunter sich auch die Glycyrrhiza befunden haben soll.

      Um der Süßholzwurzel jedoch die Popularität angedeihen zu lassen, die sie im späten Mittelalter erhielt, wurden andere Wege eingeschlagen. Während im westlichen Europa die medizinische Wissenschaft in dichter Finsternis zum Erliegen kam, erblühte sie nach der Teilung des römischen Reiches (337 n. Chr.) im Osten, denn der antike Wissensschatz wurde im oströmischen Byzanz weiter gepflegt und entwickelt. Ein Beispiel hierfür ist die 72-bändige Enzyklopädie des Arztes und Historikers Oribasius aus Pergamon (ca. 325-403), Leibarzt von Kaiser Julian. Diese Enzyklopädie wurde aus den Werken Galenos und anderer Ärzte zusammengestellt. Auf das Wissen von Galen stützte sich auch der lydische Arzt Alexander Trallianus (525-605). In einem Süßholz-Rezept gegen Schlafmangel durch das Herabfließen eines dünnen Sekrets vom Kopf in die Luftröhre empfiehlt er einen Sud aus Mohnköpfen (Opium) angereichert mit Honig, Süßwein und Süßholz, wobei das Süßholz, falls nicht frisch vorrätig, auch durch den aus Kreta importierten Extrakt ersetzt werden kann.2

      Ab dem 7. Jahrhundert schloss sich an das byzantinische Reich durch den Gebietsverlust nach der ›islamischen Expansion‹ gegen Süden und Osten ein Hinterland an, das unter dem Einfluss der arabischen Kultur zu einem Paradies erblühte. Mit der Besetzung der iberischen Halbinsel von Mauren im 8. Jahrhundert erstreckte sich dieses neue muslimische Reich zeitweise sogar von Sevilla bis Samarkand und von Aden bis Tiflis. Die unterschiedlichen Kulturen, Glaubensrichtungen und Verwaltungssysteme der besetzten Territorien wurden übernommen, toleriert und in die Gesellschaft der islamischen Kalifate integriert. Dies bildete die Grundlage, auf der dann antikes und arabisches Wissen miteinander verschmolzen. Viele Schriften berühmter Gelehrter der Antike wurden nun aus dem Griechischen ins Arabische übersetzt und durch eigene Erkenntnisse erweitert.

      Gerade diese Assimilation des Wissens führte zur Schaffung einer eigenständigen Heilkunde, aus deren Feder neue Wortschöpfungen wie Alkohol, Sirup oder Julep stammten. Entwickelt wurde auch das Lacuq (Looch), ein den Latwergen ähnlicher, dünner, süßer Gelee, der wie ein weiches Bonbon aufzulecken ist. Die schleimigen Teile von Früchten und Wurzeln werden hierzu aufgekocht und mit Mandelöl und Honig vermischt. Nach einem Süßholz-Rezept, das auch einer heutigen Anweisung für ein Lakritz-Bonbon entsprungen sein könnte, werden hierzu Gummiarabikum, Traganth, Succus Liquiritiae, Zucker und eine Latwerge von Samen geschälter Quitte, süßen Mandeln und gezuckerten Kürbiskernen miteinander vermischt und aufgekocht, bis es eine zusammenhängende Masse bildet, aus der man ein liebliches Hustenmittel enthält. Eine Lakritz-Apotheose der arabischen Heilkunst anderer Art ist ein Rezept, bei dem Süßholzpulver und andere Zutaten mit Veilchensirup und Rosenwasser angedickt werden. So zauberhaft es klingt, so banal ist seine Anwendung: Am späten Morgen geschluckt, hilft das Mittel gegen brennenden Harnausschuss [Tripper].3

      Verbunden mit den arabischen Neuerungen kam der Wissensschatz der Antike dann an den kulturellen Nahtstellen von Orient und Okzident zurück nach Europa. Zwei Städte mit unterschiedlicher Geschichte spielten dabei eine wesentliche Rolle: Toledo und Salerno.

      Im spanischen Toledo, das von 711 bis 1085 unter maurischer Herrschaft gestanden hatte, wurden zahlreiche Texte aus dem Arabischen ins Lateinische übertragen. Beispielhaft für diese Epoche der maurischen Gelehrsamkeit mit ihrer Vorliebe für die süße Wurzel sei der in Malaga geborene arabische Botaniker und Arzt Ibn-al Baithar (gest. 1248) genannt. Er stützte sich in seinem Werk nicht nur auf die Ausführungen von Dioskurides und Galen, sondern auch auf den Arzt Avicenna (Ibn-Sina, 980-1037). Dieser vereinte in seinem ›Kanon der Medizin‹ (Qanun al-Tibb) griechische, römische und persische Traditionen und beschrieb 760 Medikamente mit Angaben zu deren Anwendung und Wirksamkeit. Avicenna empfahl Süßholz neben den Erkrankungen des Atmungstraktes, des Magens, der Niere und der Blase auch als Wundmittel und bei Geschwüren. In der Übersetzerschule von Toledo wurde eine Abschrift seines Kanons angefertigt, auf die Ibn-al Baithar zurückgreifen konnte und die er mit eigenen Kommentaren versah.4

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      Abb. 7 Glykyrrhiza, Abbildung aus dem ›Pariser Dioskurides‹ (9. Jh.)

      Im italienischen Salerno entstand Ende des 10. Jahrhunderts die erste medizinische Fakultät Europas. An dieser weltoffenen Schule, die nach einer praxisorientierten Lehre ausgerichtet war, studierten neben christlichen Klerikern und Laien auch Juden und Frauen. Ihren Ruhm erlangte diese Schule durch den Einfluss des in Karthago geborenen Arztes Constantinus Africanus (1018-1087). Er gab mit seinen Übersetzungen arabischer Schriften in die lateinische Sprache nicht nur dem europäischen Medizinalwesen neue Impulse, sondern richtete hier ein Zentrum zur sorgfältigen Untersuchung der Glycyrrhiza auf ihre pharmakologischen Eigenschaften ein.5

      Eine seiner Quellen ist das Werk des Gelehrten Abū Manșū Muwaffaq, der eine eigene Materia medica (ca. 980) in persischer Sprache verfasst hat. Nach Art von Galen beschreibt Manșū Muwaffaq die Süßholzwurzel als mäßig heiß, feucht und kalt, deren adstringierende Wirkung mit Feuchtigkeit gemischt sei. Neben den bekannten Anwendungsmethoden erleichtere der Saft den Frauen die Geburt und fördere den Brechreiz. Die Blätter sollen auch den üblen Geruch der Achselhöhle und des Fußes beseitigen.6

      Die Schule von Salerno mit ihrer praxisnahen Ausrichtung ist zwar seit der Entstehung neuer Universitäten während des 12. und 13. Jahrhunderts in Montpellier, Bologna, Paris, Oxford, Cambridge und Padua unbedeutend geworden. Allerdings waren die in Salerno verfassten Lehrbücher noch lange Zeit als ärztliche Ratgeber in Umlauf. Zum Beispiel stellte die Drogenliste der Salerniter, die Alphita, für viele Arzneihändler bis in die Frühe Neuzeit eine verbindliche Richtschnur für ihren Drogenbestand dar. Zu den Werken, die hier ihren Ausgang nahmen, zählen auch das ›Antidotarium Nicolai‹ und der ›Liber de simplici medicina‹ (auch bekannt als ›Circa instans‹). Während das Antidotarium Nicolai recht komplizierte Arzneiformeln mit Angaben der Wirkungsweise und Anwendungsart enthält, werden in der Circa Instans die Drogen alphabetisch aufgelistet und ihre Elementarqualitäten sowie Indikationen beschrieben. In diesen und weiteren Kompendien aus dem 12. Jahrhundert durfte das Süßholz natürlich nicht unerwähnt bleiben. Matthaeus Platearius (M. de Platea; gest. 1161), ein Arzt und Lehrer an der Schule von Salerno und Verfasser eigener medizinischer Schriften, gibt sogar eine Anweisung für die Succus-Herstellung und benennt die noch heute handelsüblichen Formen: »Man zerstößt oder zerquetscht die Wurzeln, kocht die Masse mit Wasser aus, dickt die Lösung bis fast zum Trocknen ein, presst ab, trocknet den Extrakt an der Sonne und formt ihn, der Gestalt der benutzten Gefäße entsprechend, in Kuchen, Stangen oder runde Stücke.«7

      An den neuen Universitäten, die unter starkem kirchlichem Einfluss standen und an denen Frauen nicht zugelassen waren, wurde das Medizinstudium allerdings ein Teil des ›Studium Universale‹ und war eher Gegenstand theoretischer Betrachtung als das Resultat praktischer Erfahrung. Gelehrt wurde dort eine Schulmedizin, die keineswegs das Vertrauen und die Anerkennung genoss, die der heutigen Medizin zuteil wird. Mit ihrer Etablierung trug sie jedoch entscheidend zum Untergang der weiblich-dominierten Heilkunde bei.