Trips & Träume. Klaus Fischer

Читать онлайн.
Название Trips & Träume
Автор произведения Klaus Fischer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783862870196



Скачать книгу

ja keinen Job. Von dem bisschen Auflegen im Rats mal abgesehen.

      »Lass uns rübergehen, Musik hören und quatschen. Vielleicht kriegst du da auch ein Pflaster für deinen Arm. Andi ist nicht so, wie du denkst, man kann sich toll mit ihm unterhalten.«

      Das war die Gelegenheit. Ich war neugierig, nun konnte ich selbst sehen, ob Andi wirklich ein Klavier in seiner Bude stehen hatte, wie man sich erzählte. Mal einen Blick riskieren, wie er hauste. Was aber, wenn der Sack wieder arrogant tat? Egal, wenn Karen dabei war, würde er nicht so auf die Kacke hauen. Und auf den Mund gefallen war ich schließlich auch nicht.

      *

      Irgendwie hatte ich erwartet, ein Siffloch vorzufinden.

      Warum? Weil Freaks es nun mal nicht so mit der Ordnung haben. Die Jungs vom Hausboot kümmerten sich nicht um Abwasch und solche Dinge. Wenn es hoch kam, machten sie einmal im Monat sauber.

      Karen hatte mir davon erzählt, da sie öfter bei Hucky, Jule und Werner abhing. Man stolpere, so wusste sie zu berichten, bei ihnen ständig über Socken, Schuhe, Hosen und Plattencover.

      Ich war auch nicht viel besser. Auguste ermahnte mich manchmal. Dann sauste ich mit dem Staubsauger kurz durchs Zimmer. Das musste reichen.

      Andi dagegen hatte Geschmack und Stil.

      Nach dem dritten Klingeln summte der Öffner. Als Karen und ich im ersten Stock ankamen, stand die Wohnungstür einen Spalt offen.

      Karen ging voraus, als sei sie hier zu Hause.

      In der kleinen Küche blinkten Herd, Spüle und Hängeschrank wie in der Werbung. Von schmutzigen Tassen und Tellern keine Spur. Am Fenster stand ein Bistrotisch mit zwei Klappstühlen davor. In einer Vase steckten Blumen. Durch einen schmalen Flur, in dem Porträts von Rosa Luxemburg und Samuel Beckett die Wand säumten (sogar richtig eingerahmt), ging es am Badezimmer vorbei geradewegs ins große Zimmer, das Andi als Schlaf-, Wohn- und Arbeitsstätte diente.

      In der Mitte des rechteckigen Raumes thronte das Klavier. Andi saß auf dem Schemel davor und hielt einen Stapel Noten in der Hand.

      Es war kein Steinway. Ganz deutlich war der Schriftzug Schimmel zu erkennen. Siehst du, kein Steinway, dachte ich, man darf der Gerüchteküche nicht trauen. Aber immerhin. Selbst dieses Teil bekam man gebraucht nicht für unter fünf Riesen.

      Das musste ich ihm lassen. Er war der Einzige der Szene, der eine eigene Wohnung, ein Auto und ein tolles Instrument besaß.

      Andi musste einen Mäzen haben.

      Er konnte Gedanken lesen. »Ich habe nach dem Tod meines Vaters geerbt«, sagte er zur Begrüßung. Ich fühlte mich ertappt und sagte nichts, schaute mich nur weiter im Zimmer um.

      Das Bett bestand aus einer Matratze, durch einen Vorhang vom Rest des Zimmers abgeschirmt. Daneben ein kleines Bücherregal, in das ich einen Blick wagte. Adorno, Marcuse, Horkheimer, Mandel und Lukács. Frankfurter Schule und ihre verwandten Geister. Dann Ionesco, absurdes Theater oder wie man das nannte, und viel Musiktheorie. Den Prozeß von Kafka entdeckte ich. Und ein paar Filmbücher. Über Truffaut und Hitchcock. Ich war beeindruckt, Andi war in viele Richtungen interessiert.

      Es gab kein Sofa, keinen Sessel. Dafür lagen zwei größere Sitzkissen bereit, die total angesagt waren, aus Nappaleder und mit Styroporstückchen gefüllt. Ich schnappte mir eines der federleichten Teile und ließ mich in der Nähe des Klaviers nieder. In einer Ecke des Zimmers wuchs eine Palme bis unter die Decke. Einen Fernseher konnte ich nicht entdecken. Die Einrichtung war schlicht und hatte Atmosphäre.

      Mit der Selbstverständlichkeit, die nur jemand haben konnte, der sich in diesem Raum auskannte, nahm Karen sich ebenfalls ein Kissen und pflanzte sich neben mich. Ich stellte mir vor, wie sie mit Andi auf dem Bett lag – und was Mark dazu sagen würde.

      Der Plattenspieler, ein Dual, stand auf einer kleinen Kommode, darüber ein Foto von Adorno, dem Minima-Moralia-Philosophen.

      Meine Neugier war noch nicht gestillt.

      In einer Kiste neben der Kommode waren Andis Platten verstaut. Ich ging hin und wühlte darin. Die Sammlung kam daher wie das Nonplusultra des Jazz. Thelonious Monk, Herbie Hancock, Eric Dolphy, Charles Mingus, Miles Davis, Pharoah Sanders, Archie Shepp, aber auch avantgardistische Sachen von Anthony Braxton, Sun Ra und Ornette Coleman.

      Aus der englischen Szene hatte er Platten von Ian Carrs Nucleus und Chris McGregors Brotherhood of Breath. Die Klassikabteilung war mit Karajan-Einspielungen von Mahler, Brahms und Tschaikowsky vertreten. Außerdem gab es Boulez, Schönberg, Cage, Kagel und Stockhausen. Und dann dieses elektrische Jazz-Zeug: Weather Report, John McLaughlin, Larry Coryell und Tony Williams Lifetime. Das Neueste vom Neuesten. Andi war das, was man, das hatte ich bei Jack Kerouac gelesen, einen Hipster nannte.

      Aus den Boxen, die diagonal im Raum platziert waren, kam ein Sound, der wie ein Auffahrunfall auf der New Yorker Fifth Avenue klang. Die Bläsersätze gingen drunter und drüber, eine schräge und freie Improvisation von der allerfeinsten Sorte. Eine Frau sang: Take away everything that we own / We can even live without a home / Have all the money, if that is your goal / But you’ll never touch our soul.

      »Abgefahren, was ist das?«, fragte ich.

      »Centipede, ein Projekt um den britischen Pianisten Keith Tippett. Die Stimme, die du hörst, ist die von Julie Driscoll.«

      »Du meinst die Driscoll, die bei The Trinity, der Band von Brian Auger, gesungen hat?«

      »Nur dass sie jetzt nicht mehr Driscoll heißt, sie hat Keith Tippett geheiratet.«

      Auf dem betont schlichten weißen Klappcover stand lediglich der Titel Septober Energy. Im Innenteil ein Foto der Band. Fast fünfzig Musiker. Ich las die Namen. Sagenhaft, da war die Crème der englischen Jazz-, Rock- und Avantgarde-Szene vertreten: Robert Wyatt, Evan Parker, Louis Moholo und wie sie alle hießen. »Produziert von Robert Fripp«, las ich laut vor.

      »Was der bei King Crimson macht, gefällt mir überhaupt nicht.« Andis Ton klang missbilligend. Außer Jazz war ihm nichts gut genug.

      Karen schaute auf. »Könnt ihr mal mit eurer Fachsimpelei aufhören, das langweilt. Andi, komponierst du derzeit was?«

      Er drehte sich auf dem Schemel in ihre Richtung und lächelte. »Ich habe da eine kleine Melodie, nichts Besonderes, ich arbeite noch dran. Ich hoffe, ich kriege es bis zum Festival hin.«

      Mit einem Mal war ich gespannt. »Komm, lass mal hören.«

      Er klemmte sich die Haare hinters Ohr. »Es ist noch nicht so, wie ich es mir vorstelle. Es ist noch nicht ... perfekt.«

      Ich guckte Andi ratlos an. »Was ist schon perfekt? Das gibt es doch gar nicht, die perfekte Musik, das perfekte Kunstwerk.«

      Er schloss die Augen. »Hör dir A Love Supreme an. John Coltrane ist perfekt. Als Instrumentalist und als Komponist. Dahin möchte ich kommen, einmal so etwas zu schreiben.«

      Karen bettelte. »Warum spielst du nicht diese kleine Melodie?«

      »Der Song ist noch nicht ausgereift«, antwortete er bestimmt.

      »Bitte, dann halt nur das, was du bist jetzt hast«, sagte Karen.

      Das wirkte.

      Andi klappte den Deckel des Klaviers auf. »Ihr müsst mir versprechen, niemandem davon zu erzählen. Zumindest bis zum Festival.«

      Karen und ich erhoben uns von unseren Plätzen und stellten uns links und rechts neben dem Piano auf. Wenn er wirklich eine eigene Komposition hatte, dann wollte ich nie mehr ein schlechtes Wort über ihn verlieren.

      Andi setzte an und kam nur drei Noten weit.

      Ein schriller Dauerton kreischte durch die Wohnung. Entweder hatte die Klingel einen Defekt, oder jemand klebte mit dem Daumen dran.

      Das musste ein Verrückter sein, der so um Einlass verlangte.

      Karen und ich schauten uns erschrocken an.

      Andi erhob sich und schlurfte zur Tür.