Oktobermeer. Erik Eriksson

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Название Oktobermeer
Автор произведения Erik Eriksson
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783941895515



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bin …«

      »Du frierst, nimm meine Jacke.«

      Sie ließ den Hals des Mannes los, zog ihre Jacke aus, der Mann sackte etwas in sich zusammen, blieb jedoch gestützt auf seine Ellbogen sitzen. Jetzt lächelte er zum ersten Mal, ein schwaches Lächeln, ein Mundwinkel wurde schwach nach oben gezogen, während sich die Wange kräuselte. Es war die Seite des Gesichts, auf der sich die Schürfwunde befand.

      Das Lächeln wurde gegen eine Grimasse ausgetauscht, dann erschien ein neues Lächeln. Der Mann sah Helena an. Sie reichte ihm die Hand. Er ergriff sie. Sie lehnte sich zurück, der Mann stieß sich mit der anderen Hand vom Boden ab, kam auf die Knie, dann auf die Füße.

      »Die Jacke«, sagte Helena.

      »Danke«, sagte der Mann.

      Er versuchte sie anzuziehen, sie war zu klein, er ließ sie über die Schultern hängen, zog sie vor der Brust zusammen, nickte Helena zu, ohne zu lächeln.

      »Komm«, sagte Helena.

      Sie ging vor, der Mann folgte, sie nahm den Weg um den Felshügel herum, wählte den Pfad durch den Kiefernwald, einen Umweg, aber leichter zu gehen. Der Mann blieb mehrere Male stehen. Helena bemerkte, dass er zitterte. Sie fragte sich, ob er es bis zu ihrem Haus schaffen würde, sie war bereit ihn zu stützen, aber als sie sich ihm näherte, begann er weiterzugehen, stolpernd und ungeschickt, mit nur einem Schuh angetan.

      Helena merkte, dass er allein gehen wollte. Wie alle Männer, dachte sie, immer alles allein machen wollen, nie jemanden unnötig um Hilfe bitten, einsam und stark und halbtot, aber nicht um Hilfe bitten.

      Sie ging vor ihm in die Küchenveranda, der Mann war draußen stehen geblieben, blickte sich um, ging dann langsam die Treppe hinauf, Schritt für Schritt, lauschte, sah durch die offene Tür hinein.

      »Hier ist niemand«, sagte Helena.

      Im selben Augenblick, in dem sie es sagte, bereute sie es. Sie wusste ja nichts über den Mann.

      »Hier ist niemand«, wiederholte sie, »auf jeden Fall im Augenblick nicht, wahrscheinlich kommt bald jemand.«

      Der Mann setzte sich auf einen Holzstuhl.

      »Kaffee?«, wollte Helena wissen.

      »Danke«, murmelte der Mann.

      »Möchtest du das Telefon benutzen und die Polizei anrufen? Wenn du Probleme hast, kannst du telefonieren.«

      »Nein.«

      »Kaffee?«

      »Ja.«

      Helena setzte Wasser auf, suchte trockene Kleidung hervor, Rolfs Arbeitshosen, seine Socken, Hemd, Jacke. Der Mann hatte breite Schultern, war aber schlank. Rolf hatte einen größeren Leibesumfang. Sie ließ die Sachen auf einem Stuhl in dem kleinen Raum neben der Küche liegen.

      »Du kannst dich umziehen«, sagte sie.

      Der Mann blieb sitzen, aber als Helena begann, den Kaffee zu kochen, erhob er sich, ging langsam aus der Küche, zog die Tür hinter sich zu. Er blieb recht lange. Helena nahm an, dass das daher kam, dass er völlig erschöpft war. Dann fiel ihr ein, dass er vielleicht im Hause herumging und schnüffelte, dass er Schubladen öffnete.

      Sie bekam Angst. Sie sollte Rolf anrufen oder eine Kollegin in der Schule, jemand musste es erfahren.

      Der Mann öffnete die Tür. Er tastete mit der Hand die Wand ab, lächelte wieder sein schiefes Lächeln.

      »Ich hole eine Decke«, sagte Helena.

      Sie ging hinaus ins Wohnzimmer, die Treppe hinauf ins Obergeschoss, schlich sich ins Schlafzimmer, wählte die Nummer von Rolfs Zimmer in der Technischen Hochschule. Der Anrufbeantworter war eingeschaltet. Sie rief die Telefonzentrale an, hielt den Mund dicht an den Hörer, flüsterte.

      »Bitten Sie ihn, so schnell wie möglich anzurufen, es ist wichtig.«

      Sie nahm die Decke und ging wieder hinunter. Der Mann saß am Tisch, hatte die Arme auf der Tischplatte verschränkt, mit hängendem Kopf. Er zuckte zusammen, als Helena hereinkam.

      »Die Decke«, sagte Helena.

      Er wickelte sie um seinen Leib, Helena goss Kaffee ein, bestrich zwei Butterbrote, reichte dem Mann eines hin.

      »Ich habe verlassen«, sagte er, »ich bin ... ein Fliehender.«

      »Aha.«

      »Ich komme aus Leningrad.«

      »Aber du sprichst ja Schwedisch?«

      »Meine Familie, wir haben, wir haben ein wenig Schwedisch in meiner Familie gesprochen, in älterer Zeit.«

      Er sprach jetzt etwas schneller, legte zwischen den Silben keine Pausen mehr ein, aber er betonte die Wörter immer noch auf eine merkwürdige Weise, und er rollte das R.

      »Warum bist du weggegangen?«

      »Viel ist schwierig in der Sowjetunion, das weißt du vielleicht.«

      »Ja, ein bisschen kenne ich mich aus.«

      »Du weißt vielleicht nur ein wenig, aber ich lebe dort, nein früher lebte ich dort, jetzt nicht mehr.«

      »Jetzt bist du in meiner Küche.«

      »Trinke mit dir Kaffee.«

      »Ich heiße Helena.«

      »Mein Name ist Michail.«

      Er sprach jede Silbe für sich aus. Helena fand, dass der Name gut klang, wenn er ihn auf diese Art und Weise aussprach, altmodisch und leicht und schön, mit deutlicher Betonung des letzten Vokals.

      »Mi…cha…il«, sagte Helena.

      Der Mann lächelte, hob die Hand gegen seine Wange.

      Helena bemerkte, dass er kurze Bartstoppeln hatte, die vielleicht in der Schürfwunde juckten.

      »Ich kann deine Wunden auswaschen, wenn du willst«, sagte sie.

      Michail antwortete nicht, Helena stand vom Tisch auf, ging zu einem Wandschrank, holte Watte und Desinfektionsmittel. Er saß still da, ließ sie die Wunden auswaschen, der Wattebausch verfärbte sich zartrosa, sie warf ihn auf den Boden, nahm einen neuen, säuberte weiter, einige Wattefasern blieben im Bart hängen.

      »Du solltest dich vielleicht rasieren«, sagte sie.

      »Später.«

      »Nein, du brauchst dich nicht zu hetzen.«

      »Hetzen?«

      »Beeilen, schnell machen, das ist nicht nötig.«

      »Mir fehlen viele Wörter.«

      »Du sprichst ausgezeichnet Schwedisch.«

      »Ich glaube, es ist die Sprache einer alten Frau.«

      »Frau?«

      »Der Mutter meines Vaters, sie sind aus Finnland gekommen.«

      Helena machte noch ein Butterbrot fertig. Michail aß es, trank mehr Kaffee, erhielt noch ein drittes Brot. Helena bemerkte, dass seine Wangen jetzt etwas weniger weiß waren. Sie legte kurz ihre Hand auf die seine, drückte die Finger ein wenig. So allmählich schien die Wärme zurückzukehren.

      »Wohlschmeckender Kaffee«, sagte er.

      »Möchtest du noch mehr haben?«

      Sie wartete seine Antwort nicht ab, goss ihm den Rest aus der Kanne ein, erhob sich, um noch mehr zu kochen. Da läutete das Telefon. Helena eilte ins Wohnzimmer, vorbei an dem Apparat, der dort stand, und weiter zum Telefon im Obergeschoss. Rolf war am Apparat.

      »Du hast angerufen«, sagte er.

      »Ja, genau.«

      »Ist etwas Besonderes?«

      »Ja, ich, weißt du ...«

      »Ja?«

      »Weißt