Oktobermeer. Erik Eriksson

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Название Oktobermeer
Автор произведения Erik Eriksson
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783941895515



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dem Mittagessen lugte die Sonne hervor. Anton sagte, dass er Regen und einen grauen Himmel vorziehen würde, zumindest im Augenblick würde er das tun, da er recht sicher sei, dass das Wetter stürmisch gewesen sei, als sein Vater an die schwedische Küste kam.

      Er wiederholte den Ausdruck die schwedische Küste, denn dorthin sei sein Vater gekommen, an die steinige Küste der kleinen Inseln. Wie das Wetter damals während dieser Tage im Oktober 1977 gewesen war, wusste er, denn seine Mutter hatte es ihm erzählt. Sie hatte erfahren, an welchem Tag ihr Mann von dem Schiff, auf dem er gearbeitet hatte, verschwunden war, das Wetter war zu der Zeit im Åländischen Meer nicht anders gewesen als in der Gegend um das damalige Leningrad herum.

      »Das Wetter ist in beiden Regionen oft gleich«, sagte Anton, »es war regnerisch und kalt, und es wehte ein starker Wind.«

      »Als Ihr Vater verschwunden ist?«

      »Oder als mein Vater sich entschloss zu verschwinden.«

      »Wissen Sie denn, ob er es selbst gewollt hat?«

      »Ich glaube, dass ich es weiß.«

      »Wie können Sie das denn wissen?«

      »Ich fühle es, denn er war mein Vater, ich trage ihn in mir. In diesem Punkt weiß ich das so sicher, wie ein Sohn es wissen kann, was sein Vater vor langer Zeit gefühlt hat.« Die Sonne wurde von Wolken verdeckt, das Wetter war jedoch ziemlich ruhig, ein schwacher Wind wehte, und auf dem Meer waren nur kleine Wellen zu sehen; als wir über die lange Brücke hinüber nach Fogdö fuhren, es regnete nicht.

      Anton saß schweigend da, ich merkte, dass er sich konzentrierte, er betrachtete alles mit gespanntem Blick, ich fuhr langsam, er kurbelte die Scheibe herunter, holte tief Atem, ich sagte nichts, er war unterwegs zu einem Ort, an den er wahrscheinlich lange Zeit oft gedacht hat. Ich hatte den Eindruck, als ob der Ort, den wir jetzt aufsuchen wollten, für Anton vielleicht dieselbe Bedeutung haben könne wie ein Grab für einen Trauernden.

      Am Weg war ein kleines handgeschriebenes Schild angebracht: Vävargården.

      Ich wusste, dass dieses Anwesen am Meer kürzlich den Eigentümer gewechselt hatte, es wurde jetzt von einem Stockholmer Unternehmer als Sommerhaus genutzt. Ich nahm an, dass sich im Augenblick niemand dort aufhalten würde. Wenn wir trotzdem Menschen antrafen, konnten wir uns ja entschuldigen und um das Anwesen herum hinunter zum Strand gehen.

      Ich konnte keine Reifenspuren erkennen, ich parkte auf einer Lichtung, langsam gingen wir das letzte Stück bis zum Tor, das ein großes Schild mit der Aufschrift Privat trug. Es waren keine Menschen zu sehen. Wir überquerten den Hofplatz, ich hatte mir ein paar Entschuldigungen zurechtgelegt, aber die benötigte ich nicht, an diesem Tag im Oktober befanden sich nur Anton und ich auf dem Vävargård.

      »Hier haben sie gewohnt.«

      »Mein Vater und Helena?«

      »Und Helenas Mann, es waren die ganze Zeit über drei Personen.«

      »Die anderen interessieren mich eigentlich nicht besonders, ich möchte nur wissen, warum mein Vater uns verlassen hat.«

      »Und wo er an Land gekommen ist?«

      Anton nickte, sagte jedoch nichts. Er sah auf das Meer hinaus, es rauschte recht stark, der Wind heulte in dem Kiefernwäldchen zwischen dem Haus und dem Strand. Vielleicht begann er jetzt aufzufrischen.

      Wir begannen, in Richtung Wasser zu gehen. Ein kleiner Felsen mit Wacholderbüschen versperrte die Sicht, ein natürlicher Windschutz vor dem Wohnhaus, aber auch eine Behinderung der freien Aussicht. Vielleicht konnte man das Meer vom Obergeschoss aus sehen, das nahm ich an, das Haus war breit, aus Holz, rot gestrichen mit schwarzen Hausecken, Sprossenfenstern, Veranda, Mansarden, gebaut um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, ein Schifferhof, an den später eine kleine Webstube angebaut worden war.

      Als wir den Gipfel des kleinen Felsens erreichten, traf uns der Wind mit ziemlicher Stärke. Er hatte wirklich aufgefrischt, die Wellen, die an Land schlugen, hatten weiße Kronen.

      Anton war stehen geblieben, er stand da mit halboffenem Mund, ließ den Wind Kehle und Lungen füllen. Dann streckte er die Arme aus, stand da mit gespreizten Fingern, mit auseinander gestellten Beinen, zurückgebogenem Hals und Kopf, er starrte direkt in den Himmel. Etwa zehn Sekunden stand er so da, ehe er die Arme senkte und begann, zum Wasser hinunterzugehen.

      Der Strand war steinig, flach und nicht sehr gastfreundlich. Anton ging langsam auf die Wellen zu, das Wasser spritzte über seine Schuhe, er ging weiter, wurde nass, sogar die Hosen wurden nass.

      Ich war etwas weiter oben stehen geblieben. Jetzt ging auch ich hinunter zum Wasser, aber ich machte ein Stück hinter Anton halt. Er wendete sich zu mir um.

      »Hier ist es gewesen«, sagte er.

      »Ja, wahrscheinlich hier irgendwo.«

      »Nein, genau hier, ich fühle, dass er hier an Land getrieben wurde, oder schwamm, ich weiß nicht wie, aber es war hier.«

      Wir blieben noch eine Weile dort stehen, ohne etwas zu sagen. Anton beugte sich hinunter, berührte das Wasser mit den Fingern, die Wellen schwappten über seine Ärmel.

      Während ich Anton zurück ins Hotel brachte, wurde nicht viel geredet. Er musste sich etwas Trockenes anziehen, etwas Warmes trinken, vielleicht sich auch etwas ausruhen. Ich selbst konnte ebenfalls etwas Warmes vertragen. Ich war zwar trocken geblieben, aber ich fror, der Wind am Meer war recht durchdringend gewesen.

      Ehe wir uns voneinander verabschiedeten, fragte ich Anton nach seinen Plänen für die nächste Zeit. Wenn er noch hier bliebe, könnten wir uns ja noch einmal treffen. Er antwortete, dass er bald nach Sankt Petersburg zurückkehren müsse. Ich sagte, dass es nicht unmöglich sei, dass ich Helena Anderssons Tagebücher für meine Arbeit nutzen würde.

      »In einem Buch?«

      »Ja, vielleicht in einem Roman.«

      »Die Tagebücher haben ja nicht meinem Vater gehört, ich kann nicht verlangen, dass ich sie bekomme, das müssen Sie entscheiden. Aber wenn Sie etwas schreiben, werden Sie in diesem Fall ja auch wohl über meinen Vater schreiben? »Das wird sich wohl kaum vermeiden lassen, da er offenbar einen entscheidenden Einfluss auf Helenas Leben und das ihres Mannes hatte.«

      »Wenn ich etwas dazu sagen darf, dann möchte ich Sie um etwas bitten. Suchen Sie nach etwas, das das Motiv meines Vaters erklären könnte, Sie können mir vielleicht helfen zu verstehen, warum er uns verlassen hat.«

      »Es kann schwer werden, Einfluss auf eine Geschichte zu nehmen. Wenn sie begonnen hat, lebt sie manchmal ihr eigenes Leben, die Gefühle und Gedanken der Figuren lassen auch oft denjenigen, der schreibt, erstaunen. Und es kann auch vorkommen, dass das Privatleben des Verfassers sich in die Geschichte einschleicht.«

      »Ich weiß nicht, ob ich das verstehe, aber wenn Sie über meinen Vater schreiben, dann denken Sie daran, dass er ein sehr freiheitsliebender Mensch gewesen ist, das weiß ich mit Sicherheit. Machen Sie ihn nicht zu Ihrem eigenen Abbild.«

      »Ich werde es zu vermeiden suchen, meinen eigenen Spuren nachzugehen.«

      »Ich nehme an, das ist eine ganz andere Geschichte?«

      »Vielleicht, aber dessen bin ich mir nicht ganz sicher. Ich habe die Tagebücher zwar nur sehr flüchtig gelesen, aber ich meine trotzdem, etwas erkennen zu können, das mich an Dinge erinnert, die ich selbst erlebt habe.«

      »Können Sie mir sagen, worum es sich dabei handelt?«

      »Ich glaube, es hat mit einer Flucht vor der Liebe zu tun. Hier gibt es etwas, was ich noch nicht verstanden habe.«

      Ich rief Anton am selben Abend im Hotel an, ich hatte mit einem weiteren Treffen gerechnet. Ich hatte noch Fragen. Er jedoch hatte sich entschlossen, früh am folgenden Tag nach Sankt Petersburg zurückzukehren. Er hinterließ mir seine Adresse, bat mich, ihn zu benachrichtigen, wenn ich irgendetwas über das Schicksal seines Vaters erfahren sollte.

      In den nun folgenden Monaten habe ich Helenas Tagebücher mehrere Male gelesen, auch die Briefe