Oktobermeer. Erik Eriksson

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Название Oktobermeer
Автор произведения Erik Eriksson
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783941895515



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um diese Zeit noch Kaffee serviert?

      Ja, natürlich, im Speisesaal, sie würde Bescheid sagen.

      Ich ging weiter durch die Hotelhalle und dachte, dass der Mann, den ich treffen wollte, vermutlich schon da sein und warten würde, da er es ja so eilig gehabt hatte.

      Der Speisesaal war leer, eine Kellnerin war dabei, das Frühstücksgeschirr wegzuräumen, eine Möwe flog am Fenster vorbei, drehte um, schnappte nach irgendetwas in der Luft, verschwand in der Richtung, aus der sie gekommen war. Anton Muratov war noch nicht da, der Mann, den ich suchte, war noch nicht gekommen. Ich sah auf die Uhr, es war noch nicht ganz elf, ich war derjenige, der zu früh gekommen war.

      Es kam mir in den Sinn, dass dieses Treffen für mich vielleicht ebenso wichtig sein könne wie für Anton. Den ganzen Vormittag über war ich recht gespannt gewesen, das merkte ich jetzt erst. Als ich den leeren Saal und die abgeräumten Tische betrachtete, fühlte ich mich richtig einsam. Ich glaube, all das Weiß hatte dieses Gefühl ausgelöst: Die Tischtücher ohne Teller und Besteck, das Licht, das durch die großen Fenster hereinfiel, die sauberen Wände. Dazu kam der noch nicht ausgelüftete Geruch der Menschen, die bis vorhin hier noch gefrühstückt hatten.

      Die Kellnerin war mit einem Tablett voller Geschirr hinausgegangen. Jetzt kam sie zurück, ich hatte mich an einem Tisch am Fenster niedergelassen, sie sagte, dass sie gehört habe, dass ich Kaffee bestellen wolle.

      »Wir sind zwei, ich warte auf einen Gast, der hier wohnt, er kommt jeden Augenblick.«

      »Zwei Kaffee also?«

      »Ja, zwei Kaffee und ein bisschen Gebäck vielleicht.«

      »Gut, das geht in Ordnung.«

      Sie hatte hellrote Haare. Ich folgte ihr mit den Blicken, als sie ging. Im selben Augenblick, in dem sie durch die Tür in Richtung Küche verschwand, vernahm ich Schritte vom anderen Ende des Raumes her. Ich wandte mich um und sah einen kleinen Mann auf mich zukommen, er trug einen hellen Sommeranzug, er lächelte und streckte mir beide Hände mit nach oben gerichteten, leicht gebogenen Handflächen entgegen. Ich erhob mich und ergriff eine der ausgestreckten Hände. Der Mann in dem Sommeranzug legte seine freie Hand darauf. Er schüttelte unsere drei Hände und lächelte.

      »Sir, ich bin so glücklich.«

      »Danke, Anton, wir können wohl unsere Vornamen gebrauchen.«

      »Ich bin so glücklich, wirklich, wirklich glücklich.«

      Ich machte meine Hand frei, setzte mich wieder hin, er blieb stehen und sah tatsächlich glücklich aus, ich glaube, er hatte Tränen in den Augen. Ich nahm an, dass das wahrscheinlich ein Ausdruck russischer Empfindsamkeit war; Tränen scheinen ja oft zu ihren Empfindungen zu gehören.

      Wir tranken unseren Kaffee, zunächst schweigend. Anton lächelte die ganze Zeit über, dann begann er, über sich selbst zu sprechen: Er war Ingenieur, Chemiker mit Hochschulabschluss, er war verheiratet, seine Frau war Lehrerin, sie hatten zwei Kinder, Alexander und Sonia.

      Ich sagte, dass ich Schriftsteller sei, Anton sagte, dass er das wisse, ich fragte, wie er das wissen könne.

      »Leute, bei denen ich mich erkundigt habe, kennen Sie, und dann habe ich mich durchgefragt.«

      »Aber eigentlich suchen Sie Ihren Vater?«

      »Ja, das ist mein Vater, Michail Stein.«

      »Lebt Ihr Vater noch?«

      »Vielleicht lebt er noch, aber ich glaube es nicht, ich hoffe es natürlich, aber ich weiß es nicht.«

      »Wann haben Sie denn zuletzt etwas von ihm gehört?«

      »Das ist schon lange her, er war keiner, der oft geschrieben hat.«

      »Aber wie lange ist das denn her?«

      »Viele Jahre sind seitdem vergangen.«

      Er sah betrübt aus. Die Freude, die er gezeigt hatte, als er mich begrüßte, war verschwunden, ich meinte, wieder Tränen in seinen Augen erkennen zu können. Er nickte langsam, vielleicht um zu betonen, dass so viele Jahre vergangen waren.

      Aber dann lächelte er wieder, breitete die Arme aus und hielt die leicht angewinkelten Handflächen eine Weile nach oben. Ich nahm an, dass diese Geste etwas Wichtiges unterstreichen sollte: Die angewinkelten Handflächen, ein Lächeln, ein kurzes Schweigen, eine neue Behauptung, eine Frage.

      »Ich habe mit einer Dame gesprochen, mit Mrs. Bergman, sie kennt Sie, nicht wahr, Anna Bergman?«

      »Ich kenne eine Dame, die so heißt, das stimmt.«

      »Sie ist eine entfernte Verwandte von Mrs. Andersson, der Frau, die mein Vater in Schweden kennen gelernt hat.«

      »Ja, das ist richtig, Sie sind gut informiert.«

      »Ich habe lange gesucht, da das für mich wichtig ist.«

      »Dann wissen Sie wahrscheinlich auch, dass Mrs. Andersson, Helena, keine Erben hatte, Anna musste sich um die Dinge kümmern, die nicht von ökonomischem Wert waren, unter anderem um die Tagebücher, der Hof ist laut Testament einer Stiftung zugefallen.«

      »Das weiß ich nicht, aber Mrs. Bergman hat mir gesagt, dass Sie die Tagebücher jetzt haben, Sir.«

      »Mir ist bestimmtes Material zugänglich gemacht worden, das ist so.«

      »Haben Sie die Tagebücher gelesen?«

      Er senkte die Stimme, er klang sehr ernst, als er über die Tagebücher sprach, so als ob er an ein Geheimnis rühre, und er nannte mich wieder Sir. Antons Ernst berührte mich, und ich glaube, dass auch ich meine Stimme ein wenig senkte, als ich ihm antwortete.

      »Ja, ich habe die Tagebücher durchgesehen.«

      »Gibt es darin eine Erklärung für das, was meinem Vater passiert ist?«

      »Es ist ja Helena, die über ihr Leben geschrieben hat, aber sie hatte eine Zeitlang ein Verhältnis mit Ihrem Vater, und darüber schreibt sie auch, sogar ganz ausführlich, glaube ich. Ich habe jedoch noch nicht die Zeit gefunden, die Tagebücher genauer zu lesen.«

      »Aber steht dort irgendetwas darüber, woraus hervorgeht, wohin mein Vater gegangen ist?«

      »Darüber schreibt Helena sehr wenig, ich habe den Eindruck, dass sie nicht wusste, was mit Michail Stein geschehen ist.«

      Anton saß schweigend da, er nickte leicht, sah betrübt aus, seine Hände lagen auf dem Tisch, er senkte den Blick, saß eine halbe Minute ganz still da.

      »Sehen Sie Ihrem Vater ähnlich?«, fragte ich.

      »Er war größer und kräftiger, er war stark, so habe ich ihn in Erinnerung, ich war vierzehn Jahre alt, als er verschwand. Jedoch weder ich selbst noch mein eigener Sohn sehen meinem Vater ähnlich.«

      Er holte seine Brieftasche heraus und entnahm ihr ein kleines Foto von seinem Sohn, einem blonden Fünfjährigen in einem blauen Anzug und einem weißen Hemd mit Krawatte. Auf demselben Bild waren auch eine junge Frau und ein kleines Mädchen zu sehen.

      »Ihre Frau und Ihre Kinder?«

      »Ja, meine eigene Familie. Das Mädchen sieht meiner eigenen Mutter ähnlich, als sie ein Kind war. Meine Mutter hat sich wiederverheiratet, deshalb trage ich einen anderen Namen, sie hätte es nicht tun sollen, sie hätte auf meinen Vater warten sollen.«

      Dann seufzte Anton tief, lächelte mich wieder an, ich hatte den Eindruck, dass er aufbrechen oder auf jeden Fall das Gesprächsthema wechseln wollte. Ich machte eine Geste des Einverständnisses: ein Nicken, ein Lächeln, eine unausgesprochene Frage: Sollen wir vielleicht gehen?

      »Ist es weit bis zu dem Ort, an dem sie gewohnt haben«, fragte Anton.

      »Nein, nicht besonders, ich habe ein Auto, wir können hinfahren.«

      »Und die Stelle, an der mein Vater an Land gekommen ist?«

      »Ja, dieser Strand befindet sich auch dort in der Nähe.«