Oktobermeer. Erik Eriksson

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Название Oktobermeer
Автор произведения Erik Eriksson
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783941895515



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In dem einsamen, lähmenden Wasserdunkel, in der furchtbaren kalten Nacht, auf dem Weg hin zu einem Strand, den er nicht sehen konnte, weg von dem Schiff, das er verlassen hatte.

      Er versuchte mit langen, ruhigen Zügen zu schwimmen, rhythmisch zu atmen. Die Wellen kamen ihm jedoch entgegen, sie schlugen über ihm zusammen, und das eiskalte, peitschende Wasser klatschte ihm die ganze Zeit über gegen das Gesicht. Seine Wangen waren taub von der Kälte, er merkte, wie sich sein Hals zusammenzog, er befürchtete, dass er einen Krampf bekam.

      Dann versuchte er sich mit gesenktem Kopf auszustrecken. Er atmete ein, schwamm mit kräftigem Beinschlag, lag ein paar Sekunden gestreckt da, atmete unter Wasser aus, ließ die Wellen über dem Nacken zusammenschlagen, hob schnell den Kopf und holte wieder Luft.

      Er wandte sich nicht um. Er sah nach vorne, versuchte, das Land zu erkennen.

      Er glaubte etwas Neues zu vernehmen, ein anderes Geräusch als das Klatschen der Wellen gegen seinen Kopf. Ein zischendes abgelegenes Geräusch von Brandung. Dieses neue Geräusch verschwand jedoch wieder.

      Er drehte sich um, versuchte, eine Weile auf dem Rücken zu schwimmen.

      Das neue Geräusch war wieder da. Jetzt war er sich ganz sicher, es klang wie ein Wasserfall, Gischt, Wirbel, Wellenschlagen gegen Land. Ja, das mussten die Wellen sein, die auf den Strand schlugen.

      Aber er war zu eifrig geworden. Er hatte den Hals ausgestreckt, um sehen zu können, und eine große Welle über den Kopf bekommen, er hatte Wasser geschluckt, hatte zu husten angefangen, den Rhythmus verloren und war zurückgetrieben worden.

      Dieser Fehler hatte Kräfte gekostet. Er vermochte nicht mehr länger ausgestreckt zu liegen und unter Wasser auszuatmen, er brauchte mehr Luft, streckte wieder den Hals nach oben und bekam erneut eiskalte Wellen gegen Kopf und Gesicht.

      Er sank zurück unter die Wasseroberfläche, aber der brennende Druck auf der Brust, die Angst, die vom Luftmangel herrührte, zwangen ihn wieder nach oben. Er schlug mit den Armen aus, in einem verzweifelten Versuch, an Höhe zu gewinnen, nach oben zu kommen und Luft zu bekommen, die Lunge zu füllen. Aber er bekam hauptsächlich Schaum und Wasser ins Gesicht. Wieder versank er, noch einmal zwang er sich, nach oben zu kommen, atmete mit einem Ruck ein, versuchte, zu dem langsamen Schwimmen zurückzukehren.

      Jetzt jedoch begannen seine Kräfte abzunehmen. Er konnte nur noch ein paar Schwimmzüge machen, ehe er wieder versank, hinuntergepresst von den Wellen.

      Ihm wurde schwindlig, er sah nur noch eine von Blitzen durchzuckte Dunkelheit, lag nicht länger ausgestreckt im Wasser, die Beine sanken ab, die Arme waren ausgestreckt, aber er vermochte seinen Körper nicht mehr in eine liegende Stellung zu bringen.

      Michail war nicht länger imstande zu schwimmen. Er war dabei zu versinken, er fühlte die eisige Kälte und die Verzweiflung.

      Sein Fuß war gegen irgendetwas gestoßen. Er hatte es nicht gemerkt. Dann schlug auch das Schienbein gegen etwas Hartes, ebenso das Knie, eine scheuernde Bewegung gegen eine Felskante, dann noch ein Schlag.

      Als er unbewusst das Bein anzog, schlug er mit dem anderen Fuß gegen das Harte. Er war allzu benommen, um etwas zu begreifen. Sein Bein bewegte sich, er trat im Wasser, sein Körper kämpfte, aber sein Kopf wusste nicht, was die Beine taten. Er schluckte Wasser, er erlebte das Dunkel und Todesangst, seine Füße jedoch und seine Beine hatten festen Halt gefunden, eine Klippe, einen Fels.

      Die Wellen wurden zurückgesogen, die Bewegung des Wassers drehte sich, eine seichte Stelle vor dem Land hatte Strudel verursacht. Michail wurde hinausgezogen, dann wieder zurück auf die seichte Stelle zu. Er konnte knien, er strauchelte, konnte sich mit seinen ausgestreckten Armen abstützen.

      Er keuchte, spuckte Wasser aus, wurde von einem krampfartigen Husten geschüttelt, spuckte Schleim aus, fühlte, wie das schneidend kalte Wasser aus seiner Nase spritzte, atmete stoßweise, schmerzhaft, fiel hin, als eine Welle ihm die Arme wegschlug, erhob sich jedoch wieder und begriff, dass er es geschafft hatte.

      Er wusste, dass er nahe daran gewesen war, im Wasser zu bleiben. Er war noch nicht auf dem Strand, er war sehr müde, fühlte keine Freude, aber er wusste doch, dass er es geschafft hatte.

      Jetzt stand er auf. Das Wasser stand ihm fast bis an die Hüfte. Er konnte den Strand erkennen und begann, langsam in die Richtung zu gehen.

      Aber das Wasser wurde wieder tiefer. Er stand auf einem Felsen, der vor dem Strand lag. Er musste noch durch tiefes Wasser hindurch, ruhiges Wasser zwar, aber er würde wieder gezwungen sein zu schwimmen. Er merkte, dass er zitterte. Nachdem er noch ein paar Schritte in Richtung auf das tiefe Wasser hin gemacht hatte, zögerte er, sich in die Kälte zu begeben.

      Er machte ein paar Schwimmzüge. Er war schwach, begann wieder zu husten. Jeder Schwimmzug bedeutete eine große Anstrengung, er zwang sich, den Kopf über Wasser zu halten, er konnte schlecht sehen, irgendetwas Graues trübte ihm den Blick, irgendetwas Graues, Dunkles, das in Schwarz überging.

      Michail wusste, dass der Strand nahe war, trotzdem hatte er das Gefühl, als ob ein Meer vor ihm lag. Und er versank immer tiefer in dem Dunkel, hinein in eine betäubende Kraftlosigkeit, in der sein eigener Wille nicht länger irgendeine Bedeutung hatte.

      Als er mit den Knien auf dem steinigen Untergrund aufschlug, merkte er es nicht. Als er sich die Ellenbogen an den scharfen Kanten blutig schlug, fühlte er nichts.

      Die Wellen, die an der Stelle, an der Michail an Land gekommen war, den Strand erreichten, waren schwach, die seichte Stelle draußen hatte als Wellenbrecher gedient. Michail blieb vorne am Strand liegen. Er hatte Schürfwunden auf den Wangen, hatte einen Arm unter den Kopf gelegt, sein Mund befand sich über der Wasseroberfläche. Irgendwann während der Nacht war er ein paar Meter hinauf auf die am Strand wachsenden Büsche gekrochen. Dort war er recht lange liegen geblieben. Als es hell wurde, kroch er noch ein Stück weiter nach oben, dann fiel er in einen tiefen Schlaf.

      Es regnete die ganze Zeit über, und auch der Wind war nicht abgeflaut.

      3.

      Ein schlecht eingehaktes Fenster klapperte im Wind, die Gardine war vom Regen nass geworden, ein Buch war auf den Boden geworfen worden und war dort mit aufgeschlagenen Seiten liegen geblieben. Als Helena aufwachte, brauchte sie einen Augenblick, um das Geräusch einordnen zu können, nicht das Pladdern des Regens auf das Fensterblech, das war ihr vertraut, sondern das Flattern der Buchblätter auf dem Boden. Das ängstigte sie.

      Einige Sekunden lang, dann hatte sie begriffen, sie stand auf, schloss das Fenster, stellte das Buch zurück. Die Unruhe jedoch war geblieben. Sie lag wach, lauschte dem Regen, der an Stärke zunahm. Sie drückte auf die Leuchttaste des Weckers: zwanzig nach eins.

      Ein Zweig schlug gegen das Fenster im Erdgeschoss. Sie wusste, dass es die Eberesche war, dachte, dass die Zweige geschnitten werden müssten. Auch die Eiche draußen vor der Veranda hatte zu lange Äste, einige waren außerdem trocken. Sie nahm sich vor, möglichst bald etwas dagegen zu unternehmen.

      Dann fiel ihr ein, dass sie einen fast freien Tag vor sich hatte, eine späte Unterrichtsstunde nur, mehr ein Gespräch, zwischen drei und vier. Sie konnte also im Bett bleiben, Rolf anrufen, sich Kaffee und ein Butterbrot holen, liegen bleiben und lesen.

      Die Unruhe war verflogen. Sie schlief wieder ein, der Regen trommelte weiter auf das Hausdach und gegen die Fenster, die Windböen schüttelten die nassen Bäume, die um das Anwesen am Meer standen.

      Sie wurde durch das Klingeln des Telefons geweckt. Im Raum war es nicht mehr ganz dunkel, und ehe sie abnehmen konnte, glaubte sie, dass sie verschlafen hatte. Im nächsten Moment jedoch fiel ihr ein, dass sie ausschlafen konnte, und sie merkte auch, dass sie den Wecker abgestellt hatte, als sie nachts den Lichtschalter gedrückt hatte. Die Uhr stand immer auf zehn nach sieben, aber manchmal rief Rolf früh an, ehe er zur Arbeit ging, in den Wochen, in denen sie getrennt voneinander lebten.

      Das war jetzt eine solche Woche.

      Sie nahm nach dem zweiten Klingeln ab, nannte seinen Namen, ehe er überhaupt etwas hatte sagen können. Vielleicht tat sie das, damit er wissen sollte, dass