Bochumer Häuser. Rainer Küster

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Название Bochumer Häuser
Автор произведения Rainer Küster
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783898968355



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nur reagieren konnte, hatte er ihr schon sein Ticket in die Hand geschoben und war in der Menge verschwunden.

      Am 25. September 1939 ging Rosemarie an Bord der Leopoldville. Das Ziel war die Westküste Afrikas. Sie teilte sich eine Kabine mit zwei jungen Frauen aus Belgien. Gemeinsam waren sie die einzigen weiblichen Wesen an Bord. Der Rest waren Männer, dreihundert an der Zahl, die alle irgendwo im Kongo arbeiteten. Es sei eine wunderbare Reise gewesen, sagt Rosemarie Molser, man tanzte und feierte und konnte für zwei entspannte Wochen das ganze Elend hinter sich lassen.

      In Matadi ging sie von Bord und nahm den Zug nach Leopoldville, dem heutigen Kinshasa. Im Hotel fand sie einen Gruß von Herbert vor. Und doch, sie war jetzt wieder allein, und es wurde ihr erst richtig klar, auf was für ein Unternehmen sie sich eingelassen hatte. Am nächsten Tag ging’s weiter, mit dem Dampfer den River Congo flussaufwärts, ein bisschen wie in Joseph Conrads »Herz der Finsternis«. Das Ziel war Stanleyville, das heute Kisangani heißt, ein Ort mit bewegter Geschichte zwischen Kolonialzeit und Unabhängigkeit. In den 50er Jahren war die Stadt die Hochburg eines gewissen Patrice Lumumba, der dort später verhaftet wurde, bevor ihn seine Gegner ermordeten.

      Noch einmal dauerte die Fahrt zwei Wochen, bis Herbert Molser die Adressatin seiner vielen Briefe endlich empfangen konnte. Als der Flussdampfer in Stanleyville anlegte, stand er schon am Kai und wollte Rosemarie mit einem Kuss begrüßen. Aber die war sich ihrer Sache noch längst nicht sicher und drehte vorsichtshalber den Kopf zur Seite. Mit den beiden fing es nicht gerade enthusiastisch an. In Herberts Auto, einem Cabrio der Marke Oldsmobile, wurden sie schon nach wenigen Minuten von einer Frau angehalten, die dem Doktor in französischer Sprache signalisierte, sie werde am Nachmittag in seine Praxis kommen, da ihr Kind krank war. Aber Herbert reagierte zurückhaltend.

      »Das geht leider nicht«, sagte er zu der Frau.

      »Warum nicht?«

      »Ich werde heute heiraten!«

      »Wie bitte?«, fragte Rosemarie, die ja Französisch konnte und alles verstanden hatte.

      Herbert war verwundert: »Hast du denn meine Briefe nicht bekommen?«

      »Welche Briefe?«

      »Ich habe dir an alle Stationen des Flussdampfers Briefe geschrieben, in denen ich die Situation genau erklärt habe!«

      »Man hat mir keine Briefe gegeben!«

      Nun war es an Herbert, die Sache aufzuklären. Es gab inzwischen neue Vorschriften in der belgischen Kolonie. Ausländerinnen, die in den Kongo einreisten, hatten nachzuweisen, dass sie finanziell unabhängig waren, oder sie mussten einen Ansässigen heiraten, und zwar innerhalb von 48 Stunden nach ihrer Ankunft. Nur wenn Herbert und Rosemarie sich trauen ließen, durfte sie bleiben. Da sie zu allem Überfluss an einem Freitag angekommen war, mussten sie bis um vier Uhr am Nachmittag geheiratet haben. Anschließend war das Standesamt bis zum Montag geschlossen. Das war zu spät, denn inzwischen würde man Rosemarie schon wieder zurückgeschickt haben, und zwar nach Deutschland.

      Als sie ziemlich genervt in Herberts Haus ankamen, musste er noch einen Patienten aufsuchen. Rosemarie war für ein paar Augenblicke allein. Alles brach jetzt über ihr zusammen. Sie weinte bitterlich, weil man sie genötigt hatte, in eine Welt zu reisen, die ihr völlig fremd war, weil sie einen Mann heiraten sollte, den sie nur aus seinen Briefen kannte, und weil die Alternative im Grunde keine war.

      Während der Trauungszeremonie musste Herbert sie anstoßen, damit sie überhaupt das »Oui« herausbrachte. Zu Hause machten sie hinterher eine Flasche Champagner auf. Aber schon zehn Minuten später zog sich Rosemarie in ihr Zimmer zurück, schloss sich ein und blieb dort mehrere Tage lang. Sie konnte nicht einmal ihre Eltern anrufen, da sie wusste, dass die ohnehin mit ihrem afrikanischen Abenteuer nicht einverstanden waren. Aber Herbert war sehr geduldig mit ihr und blieb es auch bis zu dem Tag, an dem in Stanleyville ein gewaltiges Gewitter niederging, ein Umstand, der Rosemarie in Angst und Schrecken versetzte. Herbert muss es damals irgendwie gelungen sein, sie zu trösten, und das war dann auch der eigentliche Anfang ihrer Ehe.

      Das Klima in der neuen Heimat war feucht und heiß. Rosemarie verbrachte ganze Tage in der Badewanne, um sich abzukühlen, aber oft gab es gar kein Wasser. So richtig kochen konnte sie immer noch nicht, und wenn sie es versuchte, war die Hitze in der Küche unerträglich. Auch die politische Situation des Ehepaars Molser war schwierig, denn obwohl sie Juden waren, galten sie immer noch vor allem als Deutsche. Auch die Nachrichten, die Rosemarie von zu Hause erhielt, waren deprimierend. Zwei weitere jüdische Familien waren inzwischen in das Elternhaus in der Bochumer Parkstraße gezogen. Alle versuchten sie, noch irgendwie aus Deutschland rauszukommen, aber man konnte keine Visa erhalten.

      Ganz schwierig wurde es für die Molsers, nachdem Deutschland am 10. Mai 1940 die Westoffensive begonnen hatte und deutsche Truppen in Holland und Belgien einmarschiert waren. Schon am nächsten Tag wurde Herbert verhaftet und eingesperrt. Dass sie Juden waren, zählte in Belgisch-Kongo nicht. Wie damals in England galten sie auch hier als Feinde, als »enemy aliens«.

      Es folgte eine Zeit des Hungers für Rosemarie. Nach sechs schwierigen Wochen wäre es ihr fast gelungen, Herbert im Gefängnis zu besuchen, aber er war nicht mehr da. Zum ersten Mal in ihrem Leben wurde Rosemarie ohnmächtig. Als sie erwachte, sagte man ihr, Herbert lebe jetzt in einem Lager für Kriegsgefangene und sie könne dort zu ihm ziehen. Wieder blieb ihr gar keine Wahl, denn sie hatte kein Geld und nichts mehr zu essen. Da sie keinen Koffer besaß, packte sie, was irgendwie von Wert war, in ein Bettlaken und zog in das Gefangenenlager.

      Dort lebten die beiden in einer kleinen Hütte, deren Dach vergammelt war. Vom frühen Abend bis zum nächsten Morgen um acht wurden sie in der Hütte eingesperrt. Die Hitze war unerträglich. Sie hatten nur eine schmale Liege, so dass einer von ihnen immer auf dem Boden schlafen musste. Essen gab es nicht. Sie kochten sich eine schreckliche Suppe aus Blättern, Öl und irgendwelchen afrikanischen Wurzeln und ernährten sich wochenlang davon. Umgeben waren sie in dem Lager von anderen deutschen Gefangenen, die sie stets spüren ließen, dass sie Juden waren. Sie wurden tyrannisiert und lebten in ständiger Todesangst.

      Nach dem Kriegseintritt Italiens wurde ein zweites Gefangenenlager eingerichtet, und man forderte Herbert auf, als medizinischer Aufseher für beide Lager tätig zu sein. Zwei Monate später erkrankte Rosemarie an Blinddarmentzündung. Der Chirurg, der sie operierte, war ein übler Metzger. Rosemarie infizierte sich infolge der Operation so massiv, dass sie später keine Kinder bekommen konnte. Zwei Monate blieb sie im Hospital, wo Herbert sie nicht einmal besuchen durfte. Als sie in das Lager zurückkehrte, wog sie nur noch 90 Pfund.

      Eine Schwester vom Roten Kreuz sorgte dann dafür, dass die Molsers in den Süden des Kongo verlegt wurden, wo es nicht ganz so heiß war. Nach wochenlangen Strapazen landeten sie in Biano, einem kleinen Ort bei Elizabethville, dem heutigen Lubumbashi. Dort wohnten sie im selben Haus mit einem österreichisch-schweizerischen Paar, die schlimme Antisemiten waren. Sie beschimpften die Molsers und bestahlen sie. Eines Tages lotsten sie Rosemarie aus dem Haus und fütterten derweil ihre Hunde mit dem Essen der Molsers, das für eine ganze Woche reichen sollte. Ein Mitarbeiter vom Roten Kreuz erlöste sie aus dieser unwillkommenen Hausgemeinschaft. Als er hörte, dass Herbert Arzt war, versuchte er zu helfen. Im Mai 1941 wurde Herbert Chefarzt eines Krankenhauses mit 120 Betten in Elizabethville. Das Schlimmste lag jetzt hinter ihnen.

      Inzwischen hatten Rosemaries Eltern es doch noch geschafft, über Spanien und Portugal nach Amerika zu emigrieren. Wahrscheinlich waren sie die letzten Juden gewesen, die noch aus Bochum, vielleicht sogar aus Deutschland herausgekommen waren. Aber es gab noch eine weitere große Sorge. Herberts Eltern lebten in Berlin in einem sogenannten Judenhaus, das hoffnungslos überfüllt war. Sie hatten kein Geld mehr, und Herbert konnte mit seinen Eltern nur mit Hilfe des Roten Kreuzes korrespondieren. Im Jahre 1942 erhielt er eine letzte Nachricht von ihnen. Dann war alles still.

      Als im Mai 1945 der Krieg zu Ende war, mussten Rosemarie und Herbert eine Entscheidung treffen. Berlin lag in Trümmern, und es gab noch immer keine Nachricht von Herberts Eltern. Schließlich entschieden sich die beiden Molsers für die USA. Sie wollten auch nach Amerika emigrieren, wie Rosemaries Familie. Aber sich aus dem Kongo zu verabschieden war fast so schwierig wie vor sechs Jahren hineinzukommen. Irgendwie