Bochumer Häuser. Rainer Küster

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Название Bochumer Häuser
Автор произведения Rainer Küster
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783898968355



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die gerechte Sache einzusetzen, auch wenn man Gefahr läuft, nicht als Sieger vom Platz zu gehen. Vielleicht, dass es Menschen gibt, deren Glaube und deren Solidarität nur Kehrseiten derselben Medaille sind. Und vielleicht auch, dass der Umgang mit Literatur oder besser noch das eigene Schreiben vieles wettmachen kann, was das Leben an Enttäuschungen bereithält.

      (2005)

      Fremd zieh ich wieder aus

      Im Jahre 1876 entstand vor den Toren Bochums, auf der Vöde, der großen Gemeindewiese im Nordosten der Stadt, ein schöner Park, der später noch mehrfach erweitert werden sollte. Nur wenige Jahre zuvor hatte der Kuhhirte und Tagelöhner Kortebusch, der als Fritz Kortebusch in die Annalen eingegangen ist, aber in Wirklichkeit Heinrich hieß, hier zum letzten Mal das Rindvieh der Bochumer Bürger von der Weide nach Hause getrieben. In dieser Phase einer gewissen pastoralen Vakanz ergriffen die Mitglieder des Magistrats die Initiative und sorgten dafür, dass die Weide, deren ländlich-bäuerliches Gepräge nicht von allen Bochumern geschätzt wurde, als sichtbares Zeichen von Fortschritt und Urbanität in einen öffentlichen Park umgewandelt wurde.

      Im ältesten Teil des Parks soll einmal eine Büste des Kaisers, nämlich Wilhelms des Ersten, gestanden haben; die Büste war, so heißt es, dem Andenken an die Goldene Hochzeit des Kaiserpaares im Jahre 1879 gewidmet. Kurze Zeit vorher war auch die erste Ausgabe des Parkrestaurants, damals noch ein schlichter Fachwerkbau mit einer großen, nach Südwest angrenzenden Terrasse, eingeweiht worden. In den folgenden Jahren veranstaltete der Parkhauspächter am 22. März, also zu Kaisers Geburtstag, immer ein Festessen. Eine Straße, die in unmittelbarer Nähe des Parks angelegt und seit 1890 im deutschen Renaissance-Stil bebaut wurde, trug politisch korrekt den Namen Kaiserring. Eingebettet in die nördlichen und südlichen Arme des Kaiserrings lag die Parkstraße.

      Seit 1976 heißt nun das Ensemble von ehemaligem Kaiserring und Parkstraße »Am Alten Stadtpark« und sieht auf dem Stadtplan so aus wie ein seitenverkehrtes großes E, denn der gesamte Komplex ist drei- oder, wenn man so will, viergeteilt. Heute gibt es ganz in der Nähe dieser Straße wieder ein Denkmal, wenngleich ein bescheidenes. Es würdigt Josef Hermann Dufhues, den Bochumer Rechtsanwalt und Notar, der nach dem Kriege als bedeutender Landespolitiker so viel für unsere Stadt getan hat.

      Wer sich dem Bochumer Stadtpark von der Bergstraße aus nähert und den Anstieg über den mittleren Zugang der Straße »Am Alten Stadtpark« wählt, nimmt auf der linken Seite ein üppiges Doppelhaus wahr, das allerdings einen merkwürdig asymmetrischen Eindruck macht. Die beiden Gebäudehälften, die sich nicht miteinander zu vertragen scheinen, weisen die Hausnummern 39 und 41 auf. Die linke Seite wirkt deutlich älter als die rechte; mit ihren Altanen, Erkern, Haupt- und Nebengiebeln, den verschiedenen neogotischen und antikisierenden Schmuckformen vermittelt sie noch etwas vom großbürgerlichen Glanz der Gründerzeit. Die rechte Seite ist dagegen eher schlicht und zweckmäßig gehalten; es ist der Stil der fünfziger Jahre, der hier in demonstrativer Bescheidenheit zu Tage tritt.

      Der eigentliche Grund aber, warum das Doppelhaus so asymmetrisch aussieht, ist wohl ein anderer. Während in der linken Hälfte, unterhalb des ausgebauten Dachgeschosses, nur zwei Etagen eingerichtet sind, gibt es im selben Bereich auf der rechten Seite drei. Links wirkt das Gebäude großzügig, geradezu herrschaftlich, rechts scheint mit Wohnraum gegeizt worden zu sein. Wenn man das Haus länger von seiner Frontseite her betrachtet, kann einem schwindelig werden. Keine Bochumer Behörde hat diese bauliche Schlagseite verhindert.

      Aber so ist es natürlich nicht immer gewesen. Das prächtige Gebäude – übrigens das Hochzeitsgeschenk eines wohlhabenden Schwiegervaters – war einmal eine einzige Villa mit vierundzwanzig Räumen, links und rechts so einheitlich und schön, wie es die prominente Lage am Stadtpark erforderte. Eine Bombe, die während der schweren Luftangriffe gegen Ende des Zweiten Weltkriegs die rechte Seite des Hauses erheblich zerstörte, hat die Zweiteilung verursacht. Nur wenige Jahre, bevor diese Bombe fiel, ereignete sich in der noch unversehrten Bochumer Villa, deren Adresse damals »Parkstraße 11« lautete, Folgendes:

      Eine junge Frau von siebzehn Jahren, deren Familie in der Villa wohnte, hatte gerade mit ihrer Mutter das Haus betreten. Die Bochumer Straßen waren an diesem grauen, nasskalten und regenverhangenen Novemberabend des Jahres 1938 ziemlich leer gewesen – abgesehen von den Männern in den braunen Hemden, die in militärischen Formationen durch die Straßen marschierten. Eine merkwürdige Anspannung hatte in der Luft gelegen, die junge Frau hatte Angst gehabt.

      Zu Hause machte sie sogleich das Radio an und hörte, dass vor zwei Tagen in Paris ein Mann jüdischer Herkunft den deutschen Botschafter erschossen hatte. Wie man das NS-Regime kannte, musste mit einem Vergeltungsakt gerechnet werden, wahrscheinlich hatten die Machthaber nur auf eine solche Gelegenheit gewartet. Kurz darauf rief eine Freundin an, die der jungen Frau berichtete: »Jetzt plündern sie die jüdischen Geschäfte.« Die Familie lief ans Fenster im Obergeschoss, von dem man damals noch über den Park hinweg freie Sicht auf die Stadt hatte. An vielen Stellen brannte es. Von draußen riefen ihnen Nachbarn zu, die Nazis hätten die Synagoge angesteckt.

      Wenig später kam aus der Goethestraße auch die ältere Schwester mit ihrer Familie ins Haus an der Parkstraße. Sie alle hatten Angst um den Schwager, mussten befürchten, dass er verhaftet würde. Noch am Abend machten sich die junge Frau und ihre Schwester gemeinsam mit dem Schwager auf und schleusten ihn irgendwie zum Bahnhof, wo sie ihn zunächst einmal unter einer Bank im Wartesaal versteckten. Wie durch ein Wunder gelangten sie wieder heil nach Hause. Die Bäume im Park waren schon groß genug, um Schutz zu bieten. Als sie zu Hause ankamen, war es inzwischen 6 Uhr morgens.

      Dann passierte es. Die Eingangstür der Villa wurde aufgebrochen. Die Bewohner hörten, dass Holz splitterte und Glas zerbrochen wurde. Etwa dreißig Männer, einige von ihnen trugen Reitstiefel, stürmten ins Haus. Sie waren mit Hämmern und Äxten bewaffnet. Einer konnte ein bisschen Klavier spielen. Er setzte sich sogleich an den Flügel, den die Mutter – eine ausgebildete Pianistin – so sehr liebte, und spielte das Horst-Wessel-Lied. Anschließend trampelten fünf andere mit ihren Stiefeln auf dem Resonanzboden des Flügels herum, bis er zerbrach. Die Horde zerschlug in ihrer Zerstörungswut alle Kunstschätze, die im Gebäude gesammelt und sorgfältig aufbewahrt worden waren. Auch drei oder vier Originale von Hans Thoma waren darunter gewesen, eines bedeutenden Schwarzwälder Malers, der bei den Nazis nicht unbedingt im Ruf eines »entarteten Künstlers« gestanden hatte. Nach zwei Stunden war der Spuk vorbei.

      Auf den Bochumer Straßen aber war die Sache noch nicht beendet. Im Laufe des Vormittags wurden jüdische Männer, junge und ältere, die nicht mehr hatten fliehen können, von den Nazis zusammengetrieben und auf offenen Lastwagen abtransportiert. Die junge Frau aus der demolierten Villa am Stadtpark hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen. Als sie aus dem Fenster blickte, sah sie, dass ein Jugendfreund mit vielen anderen auf der Pritsche eines Lastwagens stand. Die Verhafteten wurden von dem NS-Pöbel beschimpft, gedemütigt und mit Peitschen geschlagen. Als der Wagen anfuhr, blickte der Freund nach oben. Die junge Frau meinte, Tränen in seinen Augen zu sehen.

      In Rosemarie, so hieß sie, starben an diesem Tage alle Heimatgefühle, die mit der Villa am Stadtpark verbunden gewesen waren. Obwohl sie so jung war, lag die Geborgenheit der Kindheit weit zurück. Sie wusste, dass sie in Bochum nicht würde bleiben können. Ihr Vater, Dr. Julius Marienthal, war – wie sein späterer Kollege Josef Hermann Dufhues – ein angesehener Rechtsanwalt und Notar gewesen. Als so genannter Altanwalt, Offizier und Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg war er mit seiner Familie bisher zumindest körperlich verschont geblieben. Beruflich sah die Situation schon erheblich schwieriger aus; im Jahre 1935 hatte er zugleich mit anderen jüdischen Rechtsanwälten sein Amt als Notar in Bochum verloren, und seit kurzem durfte er nur noch als jüdischer »Konsulent«, also als Rechtsbeistand für Juden tätig sein.

      Die Mitglieder der Familie mussten ständig auf der Hut sein. Rosemarie hatte den Eltern schon früher Sorgen bereitet. Wegen einer unbedachten Äußerung war sie drei Jahre zuvor vom weiteren Besuch ihres Lyzeums, welches seit 1937 den Namen Schiller-Schule trug, ausgeschlossen worden. Jemand hatte sie wohl denunziert, vielleicht unfreiwillig. Drei Jahre lang hatte sie dann in der Schweiz eine von Nonnen geleitete Schule besucht, bis die Eltern ihren Internatsaufenthalt nicht mehr bezahlen konnten. Nur mit Mühe hatte