Название | Bochumer Häuser |
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Автор произведения | Rainer Küster |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783898968355 |
Eine Woche später, also nach dem 9. November, der Pogromnacht, war der Familie Marienthal endgültig klar – es ging jetzt für die Tochter nur noch ums Überleben. Und rückblickend kann man erleichtert sagen: Irgendwie hat es am Ende geklappt, so lange es auch gedauert hat. Rosemarie Molser, so heißt sie heute, lebt vierundachtzigjährig in Rochester in den Vereinigten Staaten. Wie sie allerdings dort hingekommen ist, das ist noch einmal eine Geschichte für sich. Ganz genau kennt diese Geschichte Dr. Hubert Schneider, Historiker und Vorsitzender des wichtigen Bochumer Bürgervereins »Erinnern für die Zukunft«, der sich des Gedenkens an zerstörtes jüdisches Leben in unserer Stadt angenommen hat. Ich möchte mir die Geschichte der Rosemarie Molser von Herrn Schneider erzählen lassen.
Er empfängt mich an einem spätsommerlichen Oktobertag in seiner Querenburger Wohnung, reicht mir eine Tasse Kaffee und zeigt mir ein üppiges Konvolut. Es ist gewissermaßen die schriftliche Hinterlassenschaft der Familie Marienthal, die ihm Frau Molser bei einem Amerikabesuch zu treuen Händen übergeben hat. Ich darf hineinsehen und mich kundig machen über die atemberaubende Geschichte der jungen Frau, die in ihrem Bochumer Elternhaus nicht bleiben durfte und sich auf die Reise machte. Sie selbst hat ihre Odyssee später unter dem Titel »Escape to the Congo« in dem Band »Perilous Journeys« in englischer Sprache erzählt.
Einen Monat nach den Ereignissen des Reichspogroms, der berüchtigten Kristallnacht, von denen oben die Rede war, wurde Rosemarie zur Gestapo beordert, wo man ihr klarmachte, dass sie das Land innerhalb von sechs Wochen zu verlassen habe, weil sie aus der Schweiz illegal eingereist sei. Was war zu tun? Es gab Agenturen, die Hausmädchen nach England vermittelten. Aber Rosemarie war eine höhere Tochter, wie man damals sagte, und kein Hausmädchen.
Die Familie Marienthal wurde aktiv; sie fälschte für Rosemarie eine ganze Vita als Haushilfe zusammen. Die Papiere bekundeten, dass sie kochen, bügeln, putzen, Betten machen und Toiletten reinigen konnte – was auch immer gewünscht war. Fiktive Empfehlungsschreiben von irgendwelchen Hausfrauen wurden beigefügt. Mit diesen Papieren konnte sie sich bewerben. Die Wirkung blieb nicht aus, es gab tatsächlich ein Angebot aus England. Im Februar 1939 gelangte sie nach High Wycombe im schönen Buckinghamshire, nordwestlich von London. Aber die Hausfrau, für die sie dort tätig sein musste, war ein regelrechter Drachen, überhaupt nicht interessiert an dem jüdischen Schicksal des Mädchens. Sie fand denn auch schnell heraus, dass Rosemarie nichts von alledem konnte, was in ihren wunderbaren Papieren stand. Hinzu kam, dass sie an der Schule zwar die alten Sprachen und Französisch gelernt hatte, nicht aber Englisch. Ein schwieriger Anfang.
Der einzige Trost waren die vielen Briefe, die sie auch in England regelmäßig aus Afrika erreichten. Sie stammten von dem jüdischen Arzt Herbert Molser, der früher einmal in Deutschland Rosemaries Onkel behandelt hatte und mit dem sie seit ihrer Zeit im Schweizer Internat in Briefkontakt stand. Molser war zwölf Jahre älter als Rosemarie und praktizierte nun in Belgisch-Kongo, dem afrikanischen Land, das später, nach der Unabhängigkeit, Zaire hieß und sich heute Demokratische Republik Kongo nennt. Rosemarie hatte die Briefe, die Herbert aus seiner afrikanischen Einsamkeit schrieb, anfangs nicht so recht ernst genommen. Da war der große Altersunterschied, und auch die Eltern waren skeptisch gewesen. Aber allmählich fand sie doch Gefallen an der Korrespondenz.
In seinen Briefen versuchte Herbert ihr klarzumachen, dass es nach dem Einmarsch der Deutschen in der Tschechoslowakei und dem Anschluss Österreichs nur noch eine Frage der Zeit sein würde, bis Rosemarie auch in England nicht mehr sicher war. Sie solle nach Afrika kommen; dort würde ihr nichts passieren, und außerdem konnte sie ihm in seiner Praxis helfen.
Rosemarie hatte inzwischen in einer Art autodidaktischem Crashkurs Englisch gelernt. Ihre frisch erworbenen Sprachkenntnisse reichten immerhin aus für eine Anzeige in der »London Times«, in welcher sie sich als französisches Kindermädchen ausgab, das eine Stelle suchte. So kam sie zu einer netten, jungen Familie in Sussex, in der sie sich wohl fühlte und wo sie wie ein Mitglied der Familie behandelt wurde. Nur wenn der Herr des Hauses wieder mal zu viel Whisky getrunken hatte, stieg er ihr nach, und sie musste sich verstecken.
Am 1. September 1939 brach der Zweite Weltkrieg aus, und die Bitten Herberts wurden immer dringlicher. Doch Rosemarie zögerte noch. Durfte sie nach Afrika emigrieren, während ihre Eltern und die jüngere Schwester unter schwierigsten Bedingungen noch in Bochum wohnten? Die ältere Schwester und ihr Mann hatten es zwar geschafft; sie lebten seit ein paar Monaten in New York. Aber die Eltern konnten kein Visum für die Vereinigten Staaten bekommen, und um nach England zu emigrieren, hätten sie mehr Geld gebraucht, als sie noch hatten. Es gab wohl mütterlicherseits ein paar englische Vettern, doch die waren desinteressiert und wollten nicht helfen, denn sie schämten sich ihrer deutschen Verwandtschaft. Was Rosemarie betraf, so hatte sie immer noch ihren deutschen Pass, das »J« kümmerte die Engländer wenig, denn sie wurde nun als »enemy alien«, als feindliche Ausländerin, angesehen.
Schließlich entschied sie sich doch für Afrika, ventilierte aber durchaus selbstbewusst, wie es nach ihrer Ankunft weitergehen könnte. Sie würde ohnehin nur dann in Afrika bleiben, wenn es ihr dort auch gut gefiel. Wenn nicht, blieb ihr immer noch die Möglichkeit, zur Schwester nach Amerika weiterzureisen. So etwa stellte sie sich die nähere Zukunft vor.
Die Flüge in den Kongo gingen ab Brüssel. Sie brauchte also ein Visum für Belgien, damals noch ein neutrales Land. Es begann ein Hindernislauf ohnegleichen. Die belgische Botschaft stellte sich stur, wollte keine jüdischen Flüchtlinge mehr im Lande haben. Rosemarie war hartnäckig und verbrachte zwei Tage auf den Stufen der Botschaft in London. Die genervten Belgier gaben ihr am Ende, was sie brauchte. Die Familie, bei der sie als Kindermädchen gearbeitet hatte, brachte sie an die Fähre in Dover. Es war ein Abschied für immer. Alle Mitglieder dieser englischen Familie kamen beim deutschen Blitzkrieg im Jahre 1940 um, ein Schicksal, das Rosemarie höchstwahrscheinlich mit ihnen geteilt hätte, wäre sie damals in England geblieben.
Die Überfahrt nach Antwerpen war gespenstisch, denn die Engländer hatten den Ärmelkanal vermint, um deutsche U-Boote zu treffen. Selbst der Kapitän kannte die Position der Minen nicht. Die Passagiere mussten sich an Deck aufhalten und ständig Schwimmwesten tragen. Die See war rau, und es blies ein kalter Wind. Aber alles ging gut. Zur Feier der glücklichen Ankunft in Antwerpen gab es Applaus, die Passagiere fielen sich in die Arme. Rosemarie wurde von einer Tante abgeholt, die sie dringend bat, sofort bei den Eltern anzurufen. Als sie ihnen am Telefon erzählte, was sie vorhatte, waren sie zunächst strikt gegen die Afrikareise und gaben schließlich nur zögernd ihren Segen.
Die nächsten Probleme gab es bei der belgischen Fluggesellschaft. Frankreich lag mit Deutschland im Krieg und erlaubte es deshalb deutschen Bürgern nicht, französisches Gebiet zu überfliegen. Obwohl Rosemarie dem französischen Konsulat glaubwürdig versichern konnte, dass sie weder Bomben noch eine Kamera mit sich trug, blieben die Franzosen hart. Sie könnte ja auch eine Spionin sein, sagten die französischen Beamten.
Immerhin gab es noch eine andere Möglichkeit, nämlich die Seelinie nach Belgisch-Kongo. Aber als Rosemarie im Büro der zuständigen Gesellschaft eine Fahrkarte für das nächste Schiff kaufen wollte, lachten die sie aus. Ob sie – bitte sehr – nicht wüsste, dass in Europa ein Krieg ausgebrochen war. Das müsse ihr doch klar sein, dass da gar nichts zu machen sei. Alle Kabinen waren restlos ausgebucht, mindestens für das nächste halbe Jahr. Rosemarie brach zusammen, begann zu weinen, und alle Leute um sie herum wurden auf sie aufmerksam, einige bedauerten sie. Ein Mann, der unmittelbar hinter ihr stand, sprach sie an:
»Jetzt lass das mal sein, und hör mir zu!«
Er war ein junger katholischer Priester, der ruhig und verständnisvoll wirkte. Es wurde still in dem Büro.
»Mein Kind,«, sagte der Priester, »du hast das ganze Leben noch vor dir. Ich will zwar in den Kongo, wo ich meinen Dienst in der Gemeinde antreten möchte. Aber du musst dein Leben retten. Wenn mich die Deutschen schnappen, kann mir nicht viel passieren. Aber wenn sie dich schnappen, wird es ganz schlimm. Hier, nimm meine Fahrkarte nach Afrika. Ich habe einen Platz für das