Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm!. Tim Renner

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Название Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm!
Автор произведения Tim Renner
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783862871087



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meine Interviews für das Sozialkundeprojekt zusammen mit einigen Rezensionen von Independent-Platten zu hören. Der einzige Redakteur war ich, die Tapedecks zum Kopieren der vielen MCs hatten mir meine Klassenkameraden geliehen. Vertrieben wurden sie bundesweit über einen Laden namens Rip Off. Die Auflage lag knapp unter 1.000, immer wieder hatte Rip Off angerufen und nachbestellt. Alle drei Monate gab es eine neue Ausgabe. Jedes Kassetten-Cover war mit der Hand ausgeschnitten, jede Kassette in realer Laufzeit überspielt. Wie viel leichter war es da, eine Radiosendung zu machen.

      Es waren nur noch wenige Sekunden bis zur Sendung. »Ruhig bleiben«, empfahl der erfahrene Redakteur, »wir sind gleich live drauf. Da draußen warten jetzt 1,2 Millionen Menschen darauf, dass du ihnen etwas sagst, konzentrier dich auf sie.« Damals gab es im Norden ja nur drei Programme, und ein Schnitt von über einer Million Hörer war deshalb auf der Frequenz vom NDR die Regel. Gerade mal 16 Jahre alt geworden, hatte ich nie mehr Menschen gesehen als bei einem ausverkauften Heimspiel des HSV. Vor meinem geistigen Auge stapelte sich deshalb das vollbesetzte Hamburger Volksparkstadion zwanzigmal übereinander. Ich stand vor diesem merkwürdigen Gebilde aus wahnsinnig vielen Menschen auf einem kleinen Podium. Mein Hals schnürte sich zu, aber endlich krächzte ich »Guten Abend« ins Mikrofon.

      Danach präsentierte ich eine Stunde lang die englischen Independent Charts, schaltete zu meinen Außenreportern Burkhard Seiler in Berlin und Christoph Schlingensief in München, um zu hören, was sich in den anderen Metropolen Neues tat. Dazwischen gab es Musik zu hören, die ich gerade wichtig und spannend fand. Von acht bis neun Uhr abends, einmal im Monat, immer am ersten Montag. Was ich spielte, war komplett mir überlassen. Wenn man mir sagen müsste, was ich auflegen sollte, meinte damals Wellershaus, bräuchte man mir keine Sendung zu geben.

      »Nur was mich selbst überrascht, mute ich auch anderen zu«, lautete das Credo von Klaus Wellershaus. Auf diese Weise hat er damals eine ganze Generation von Pop- und Rockmusikkonsumenten von Flensburg bis nach Hildesheim und in der ganzen nördlichen DDR geprägt. Der ausgebildete Dirigent Wellershaus hatte mit wenigen Mitstreitern beim NDR ab 1965 ein Jugendprogramm durchgedrückt. »Es gab damals so genannte Abhörkonferenzen beim NDR«, erzählte er, »bei denen die neuen Platten daraufhin abgehört wurden, ob sie archiviert oder aussortiert werden sollten. Immer, wenn es ›schräg‹ wurde, guckten alle mich an – etwa bei den Beatles oder den Kinks. Die Platten bekamen dann den Vermerk: Nur für junge Leute!‹«4

      Konsequenterweise entstand daraus die Sendung Musik für junge Leute nach der Schule, später kam im Abendprogramm des NDR 2 noch Der Club dazu. Als ich das erste Mal am Mikrofon saß, hatte Wellershaus bereits ein anderes Rollenverständnis. Er ermöglichte es nun den Nachwuchskräften, das zu machen, woran sie glaubten; er fungierte als Gastgeber und Mentor.

      Das Vertrauen wurde mit spannenden Sendungen hoch engagierter Mitarbeiter belohnt. Das Programm war unberechenbar, aber gerade das machte es so aufregend und sorgte bei mir und vielen anderen für einen Grundstock musikalischer Bildung. Mal gab es Blues und Jazz – ein freundlicher Herr verkündete mit Grabesstimme, wer diese Woche wieder das Zeitliche gesegnet hatte und spielte dann deren Werke. Man merkte schnell, dass Jazz und Blues viel mehr zu bieten hatten als eine überaus hohe Letalitätsquote. Einmal kam eine Sendung für frisch erweckte Christen: Ein Mann mit schwerem, englischem Akzent namens Baskerville spielte mir so das erste Mal die damals noch bibelfesten U2 vor. Tags drauf öffnete Werner Voss sein Rock ’n’ Roll Museum, und auch Alfred Hilsberg bekam die Chance, Zuhörer wie mich mit seiner Neuen Deutschen Welle bekannt zu machen.

      Immer wieder führte das Vertrauen und die Loyalität von Klaus Wellershaus zu seinem jungen Team aber auch zu Rüffeln des Rundfunkrats. Ich dachte mir nicht viel dabei, als ich fast auf den Tag genau ein Jahr nach dem Papst-Attentat eine Single von Der Favorit auflegte. Unterlegt von Gitarren und einem technoiden Beat war auf diesem Projekt des Abwärts-Bassisten Axel Dill der Papst zu hören. Auf Deutsch sprach Karol Wojtyla salbungsvolle Worte – nur unterbrochen von der einen oder anderen hineingemischten Maschinengewehr-Salve. Ich dachte an freie Meinungsäußerung und die Freiheit der Kunst, der Rundfunkrat nach einigen Anrufen an die Verletzung religiöser Gefühle. Klaus Wellershaus steckte diese Rüge, die eigentlich mir galt (aber ich war ja noch minderjährig und zudem nur freier Mitarbeiter), mannhaft ein und ließ mich unbehelligt weitermachen. Ich durfte auch zukünftig unter dem Kopfschütteln von verbeamteten Cutterinnen meine Sendungen vorbereiten, in denen Jugendliche zum Geräusch aufeinander krachender Einkaufswagen Lyrik sangen oder Punks aus Eisenhüttenstadt auf Tapes, die in Seife herübergeschmuggelt wurden, das Ende der DDR herbeischrieen. Der Taxifahrer, der mich nach der Sendung nach Hause brachte, meinte einmal, ich hätte heute wieder ziemlich laute Musik gespielt ...

      Einen Monat, bevor ich bei der Polydor meine Arbeit aufnahm, begann der NDR, leise zu werden. Seit dem Regierungswechsel 1982 hatte Helmut Kohl die Einführung des so genannten dualen Systems vorangetrieben. In seiner Heimat Ludwigshafen begann am 1. Januar 1984 der Testbetrieb, am 1. Juli 1986 um 11:55 Uhr startete vor den Toren Hamburgs mit Radio Schleswig-Holstein der erste Privatsender, der landesweit sendete. Der Programmdirektor von RSH, Hermann Stümpert, versprach in den ersten Sendeminuten »ein Programm, das den Machern und den Hörern Spaß macht«. Beim NDR war man darüber nicht sehr vergnügt. Im Vorfeld war schon Musik für junge Leute auf die bedeutend kleinere NDR 1 Hamburg Welle verschoben worden, der Einfluss der Redaktion Wellershaus auf Der Club schwand zusehends. Stattdessen wurden für ihn, fast jenseits der Wahrnehmbarkeit, Nischen im Programmumfeld des später gegründeten NDR 4 gesucht und gefunden. Mit dem Radiokonzert konnte Wellershaus schließlich noch eine echte Musiksendung im Abendprogramm der Servicewelle NDR 2 verankern, in der »eine Band länger als eine Single spielt«. Am 31. Januar 2002 ließ sich Klaus Wellershaus in den Vorruhestand versetzen.

      Helmut Kohl träumte davon, dass die neuen Radiostationen den Bürgern abseits der öffentlich-rechtlichen Sender, die von seiner Partei gern als »Rotfunk« beschimpft wurden, »geistige Orientierung« bieten könnten. Ein Irrtum, wie auch bald seine Parteifreunde eingestehen mussten. Der von Stümpert und Kollegen angekündigte Spaß hatte mit geistiger Orientierung wenig gemein. Er bedeutete »die Hits der Sechziger und Siebziger und das Beste von heute« und führte bei Radio Schleswig Holstein dazu, dass schließlich nur noch 7,7 Prozent des Programms aus Neuheiten bestand, also aus Songs, die das Publikum nicht schon in- und auswendig kannte. Radio, das war plötzlich die Kunst, keinen mehr zu stören. Das Geschäftsmodell der privaten Sender war darauf abgestellt, mit einer homogenen Mischung aus mindestens 80 Prozent Musik und ein bisschen Moderation möglichst viel Werbung zu akquirieren.

      Die öffentlich-rechtlichen Kanäle steckten in einer Zwickmühle. Auf der einen Seite saß ihnen ein Verfassungsauftrag im Nacken, der sie zur Pluralität verpflichtete. Auf der anderen Seite gab es Druck von der Politik, die ihren Wählern nicht erklären wollte, wozu man einen gebührenfinanzierten Rundfunk braucht, wenn dieser deutlich weniger Hörer hat als der private. Man löste das Dilemma, indem man sich bei den populären öffentlich-rechtlichen Servicewellen bedingungslos dem Format und den Methoden der Privatradios anpasste und alles, was diesem eingeschränkten Schema nicht entsprach, zu nachtschlafender Zeit oder im Umfeld von Klassik- oder Infowellen sendete. Das Ergebnis: Aus der Wahrnehmung der breiten Öffentlichkeit verschwanden Hörfunk-Helden wie Klaus Wellershaus und die mutigen Töne dieser Welt.

      Kohls Vorgänger, Bundeskanzler Helmut Schmidt, hatte im Zusammenhang mit der Diskussion um Verkabelung und mögliche private Anbietern bereits 1979 gewarnt: »Wir dürfen nicht in Gefahren hineintaumeln, die akuter und gefährlicher sind als die Kernenergie.« Aus der Sicht eines klassischen Radioredakteurs wahre Worte. Denn mit dem privaten Rundfunk kam auch die Musikplanungssoftware aus den USA, allen voran der Marktführer Selector. Sie veränderte das Berufsbild eines Radio-DJs radikal. Früher war er so gut, wie er die Dramaturgie seiner Sendung aufbauen konnte, mit Musik auf Situation und Stimmung spontan einging, durch die richtigen Übergänge einen einzigartigen Fluss schuf und zugleich durch die Auswahl sein Wissen und seinen Geschmack dokumentierte. In der neuen Zeit wurde die optimale Einstellung der Software und die Aufarbeitung von Daten zu seiner Kernkompetenz. Der Computer komponiert die tägliche Playlist, holt sich die Songs aus dem digitalen Archiv, wo sie vom Redakteur aufwändig kategorisiert wurden: nach Länge, Tempo, Künstlerbekanntheit, Genre, Sprache, bisheriger Rotation und verschiedenen weiteren Punkten.

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