Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm!. Tim Renner

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Название Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm!
Автор произведения Tim Renner
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783862871087



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in zahllosen Familien zum Generationenkonflikt. Die Eltern schimpften auf »Negermusik« und »langhaarige Gammler«, deren Darbietungen keinen schlechten Einfluss auf den Sohn oder die Tochter ausüben sollten. Die Kinder moderierten, übersetzten, erklärten – ständig darum bemüht, keine Sekunde der kostbaren Sendung zu verpassen. Von Empörung und Ablehnung bis zu Annäherung und gemeinsamer Begeisterung: Popmusik und Fernsehen waren die Grundlage eines großen Identitätsdiskurses im Wohnzimmer.

      Bis 1972 produzierte Leckebusch 86 Sendungen vom Beat Club. »Zum Schluss hatte ich nur noch die Kiffer vor der Röhre«, klagte er, und tauschte das Auslaufmodell gegen ein neues Format aus – den Musikladen. Psychedelische Farbspielereien, poppige Überblendungen, Go-Go-Tänzerinnen ohne Hemd, aber noch mit Höschen, und kreischende Bildverfremdungen waren Zeichen einer neuen Zeit. Das bewährte Team wurde ab 1973 mit dem präpotenten Co-Moderator Manfred Sexauer aufgefrischt. Und wieder prägte Leckebusch die deutsche Pop-Geschichte: Ein Auftritt in seiner Sendung galt unter Künstlern und Plattenfirmen als Garant für den Einstieg in die Charts. Leckebusch war das Nadelöhr, sein Geschmack entschied, bei ihm standen die Promoter Schlange. Um einen Auftritt im Musikladen und im Nachfolger Musikladen Eurotops wurde mit allen Mitteln gekämpft. Leckebusch hatte beim Sender irgendwann durchgesetzt, dass die Sendung ohne störendes Publikum produziert werden konnte, und kurzerhand das Studio zu sich nach Hause verlegt. Etwas schaurig war die Anreise schon, denn sein Anwesen lag mitten im Wald, nah der Autobahn nach Bremerhaven. Im Stil typischer »Ich-hab-es-geschafft«-Architektur der siebziger Jahre wirkte es wie ein reichlich aufgepumptes Reihenhaus. Das Studio befand sich im Anbau – auf 50 Quadratmetern. Hierhin reisten also die Pop-Legenden, drängelten sich zwischen Kabeln und Kameras auf die Bühne und erfreuten sich an der clubartigen Atmosphäre und den ebenso freundlichen wie hübschen Praktikantinnen. Newcomer, von denen Leckebusch noch nicht völlig überzeugt war, konnten sich bei ihm für 10.000 Mark einen Blue-Screen-Auftritt für spätere Promotionzwecke erkaufen. Der wurde dann mit für den Musikladen typischen Psychedelic-Effekten hinterlegt. So entwickelte Leckebusch die frühe deutsche Variante des Musikvideos.

      Ohne ihn lief gar nichts, er war Regisseur, Produzent und Redakteur in einer Person. In den siebziger Jahren galt er als mächtigster Mann der Branche. Und er nutzte diese Macht für höchst individuelle Entscheidungen – spielte Tina Turner, als niemand sonst das tat, boxte Roxy Music in die Charts und brachte Boney M. unglaubliche 15-mal, bis auch der letzte Zuschauer Rivers of Babylon mitsingen konnte. 1984 endete der Musikladen nach 90 Ausgaben mit Do They Know It’s Christmas Time.

      Andere Musikformate waren dazugekommen und hatten Leckebuschs Sendung das Monopol streitig gemacht – die WDR Plattenküche mit Helga Feddersen und Frank Zander, Bananas und Känguruh mit Hape Kerkeling. Hier war Erfinder und Redakteur Rolf Spinnrads höchst individuell um die Musik bemüht. Was ihm gefiel, bekam volle Unterstützung. Und sei es die völlig unbekannte Deutschrockband Düsenberg, die so oft in seiner Plattenküche angekündigt wurde, ohne dort zu erscheinen, dass ihr allein der Auftritt in der letzten Folge den ersten und einzigen Hit einbrachte. Es gab Disco mit Ilja Richter und dem damals schon entscheidungsstarken, aber nicht immer geschmackssicheren Redakteur und späteren Musikmanager Thomas Stein. Es gab die Music Box im Kabel mit den Redakteuren Jörg Hoppe und Christoph Post, die später als Mitgründer von VIVA das deutsche Musikfernsehen erheblich prägen sollten.

      Das Musikvideo wurde im deutschen Fernsehen von Formel Eins entdeckt. Andreas Thiesmeyer, ehemaliger Polydor-Außendienstmitarbeiter und späterer Produktmanager von James Last und der Kelly Family, überzeugte die ARD-Sendeverantwortlichen, ihm für das ungewöhnliche Konzept in den dritten Programmen eine Versuchsfläche einzuräumen. Internationale Künstler hatten 1983, als Formel Eins im April zu senden begann, in der Regel ein Video; bei lokalen Künstlern war es die absolute Ausnahme. Thiesmeyer löste das Problem, indem er einfach selbst Videos produzierte. Über seinen Geschmack mag man streiten, aber alle deutschen Bands, die in die Charts wollten, standen irgendwann auf dem Bavariagelände zwischen Oldtimer-Wracks und brennenden Mülltonnen vor den Kameras seines Teams. Ein unglaublicher Aufwand wurde betrieben. Mehr noch als zuvor im Musikladen konnte ein Auftritt in Formel Eins über die Karriere eines Künstlers entscheiden. Thiesmeyer war sich dessen bewusst, stellte sich zusammen mit Redakteur Roman Colm manch scharfer Diskussion mit Künstlern und Plattenfirmen. Der Erfolg wurde ab Januar 1988 mit einem Sendeplatz im ersten Programm am Samstag um 15 Uhr belohnt. Vorher lief Formel Eins am Abend. Mit der neuen Uhrzeit entfernte sich das Format von der Musik und seiner eigentlichen Zielgruppe – um 15 Uhr schauten Kinder oder Rentner zu, aber immer weniger Fans. Mit Reisereportagen versuchte man vergeblich, den Verfall der Sendung zu stoppen. Ab 1990 übernahm konsequenterweise der Disney Club.

      Im Rockpalast konnte sich sogar der gehobene Fan wiederfinden. Peter Rüchel, der engagierte Chef des WDR-Jugendfernsehens hatte eine Sendung mit Livemusik durchgesetzt, die im hauseigenen Studio vor 80 Gästen aufgezeichnet wurde. Die Idee flog nicht, Versuchskaninchen wie die Band Procul Harum waren reichlich frustriert. Zum einen kann man Rockkonzerte nicht auf 30 Minuten begrenzen, zum anderen kam im kleinen Rahmen keine rechte Stimmung auf. Rüchel gab nicht auf, sondern dachte groß. Er brauchte eine richtige Halle, er brauchte eine ganze Nacht. Besessen von der Idee, aber ohne Beleg dafür, dass es klappen könnte, überzeugte er dennoch seine Vorgesetzten, ihm pro Rockpalast-Nacht fünf bis sechs Stunden Sendezeit einzuräumen. Und er gewann auch andere für seine Idee: Von Anfang an machten sieben Nationen von Italien bis Norwegen mit.

      »Learning by doing – europaweit live! Denn im technischen Sinne hatten wir damals keine Ahnung«, erinnert sich Rüchel. »Als Produzent mittendrin stehend, habe ich gedacht: ›Die lassen uns nie wieder auf den Sender!‹ Die Umbaupause von Rory Gallagher auf Little Feat dauerte 45 Minuten, den Moderatoren ging der Stoff zum Moderieren aus – es war einfach ganz furchtbar.« Rüchel hat das Unmögliche gewagt und deshalb gewonnen. Die lange Nacht des Rockpalast wurde im ersten Programm zur Institution. Man traf sich bei Freunden, drehte den Ton des Fernsehers ab und das Radio aus Vaters Anlage auf volle Lautstärke (alle ARD-Radiostationen übertrugen das Ereignis parallel) und genoss am späten Samstagabend stundenlang die Crème der Rockmusik im HiFi-Stereosound: The Who, Van Morrison, The Police bis zu Einstürzende Neubauten, live und ungekürzt aus der Grugahalle in Essen oder der Philipshalle in Düsseldorf, unterbrochen von Interviews in den Umbaupausen und eingestimmt von Albrecht Metzger: »German Television prrroudly prrresents ...«

      Es gab verschiedene Plattformen, die sich unterschiedlich definierten. Es ging um Schlager oder Rock, Single-Stars oder Album-Acts, Live oder Playback, und immer standen dahinter klare Entscheider. Es gab Fernsehpersönlichkeiten, die für ihre Inhalte kämpften und sich dann auch dafür verantwortlich fühlten. Niemand verschanzte sich hinter einer Redaktionskonferenz oder einer Abhör-Jury wie später die Videokanäle. Es gab den Redakteur, den man anrufen konnte, der für weibliche Überredungskünste anfällig war oder sich gerne mal zum Essen einladen ließ. Das war niemals gerecht oder objektiv, das konnte hoch korrupt sein, war aber in jedem Fall individuell und vom Ergebnis her emotional und spannend. In den öffentlich-rechtlichen Sendern gab es für aktive Redakteure Spielräume, Quotenangst spürte man dank fehlender Konkurrenz noch nicht. Dass Musik kein leichter Sendeinhalt ist, war bekannt: Zwischen den bundesdeutschen Wasserwerken und dem ZDF bestand die Absprache, die Wasserwerke vorzuwarnen, bevor in der Sendung Wetten, dass ..? die musikalischen Pausen kämen. Nur so hätten sie die Chance, für die Pinkelpause die Kapazitäten rechtzeitig hochzufahren ... Dass dies dem Harndrang von mindestens zwölf Millionen Menschen geschuldet war, wusste man schon damals.

      Messungen von Reichweiten und Zuschauerzahlen wurden schon länger vorgenommen, doch wirklich wichtig waren die Analysen erst ab 1988, als sich die öffentlich-rechtlichen Sender mit den großen Privaten zur Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung zusammentaten und die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) mit der sekundengenauen Erschließung des Programms beauftragten.

      Schritt für Schritt begannen die privaten Anbieter, ihre Logik der Quantität, der Reichweite, der Zielgruppenpräsenz auf die gesamte Fernsehlandschaft zu übertragen. Auf welche Weise die Zuschauer mit dem umgehen, was sie sehen, ob und wie Fernsehen sie bewegt hat, wird immer weniger wichtig – das Einzige, was in den Sendern zählt, wenn am Morgen nach der Ausstrahlung die Quoten herumgereicht werden, ist die schlichte Zahl. Und bei den Analysten in den Sendern ist Musik zunehmend verpönt,