Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm!. Tim Renner

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Название Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm!
Автор произведения Tim Renner
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783862871087



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gestellt: den Research-Spezialisten. Kein Ton geht über den Sender, den er nicht mit aufwändigen Tests überprüft und für gut befunden hat. Zunächst wird ein Sender musikstrategisch positioniert. Der Researcher stellt unterschiedliche Genreblöcke zusammen, die aus jeweils drei Hooks bestehen, das sind etwa 12 Sekunden lange Refrainmelodien alter wie neuer Hits. Diese Genreblöcke werden per Telefon einer repräsentativen Gruppe von 800 bis 1.000 Hörern vorgespielt. Das Ergebnis wird nach musikalischen Kompatibilitäten ausgewertet – welche Genres passen laut Hörergeschmack am besten zueinander: Modern Pop und achtziger Hits oder doch besser R&B und Techno? Dann wird das Klangbild eines Senders festgelegt. Anhand dieses ständig wechselnden Formates, das sich den Trendwünschen seines Publikums flexi- bel anpasst, werden sämtliche Musiktitel hinterfragt. Der Redakteur kontrolliert die Daten, vergleicht seine Playlist mit der des Wettbewerbers und stellt die »Musikuhr« ein. Sie schreibt fest, welches Profil der Sender zu welcher Tageszeit haben soll. Darf es also eher ein langsamer Oldie, oder ein internationaler Hit im Mid-Tempo sein, der die Mittagszeit einläutet? Es obliegt der Entscheidung des Redakteurs, in welche Rotation der jeweilige Titel kommt, wie häufig am Tag er also im Programm auftauchen darf. Aber auch diese Freiheit ist im Vergleich zu früheren Zeiten sehr begrenzt. Alle Songs, neue wie alte, werden vom Research etwa alle zwei Wochen auf ihre Beliebtheit beim Publikum getestet. In so genannten Callouts und Auditions werden Hörern die Titel vorgespielt. Je nach Finanzkraft des Senders sind das Gruppen von 70 bis 150 Personen, denen entweder am Telefon oder in einem großen Saal die Hooks jener Titel präsentiert werden, die auf dem Sender laufen. Ihre Reaktion auf die Musik wird in Abstufungen nach Begeisterung, Ablehnung, Burn Out, also dem Zustand zu hoher Rotation eines Titels, und Zuordnung zur Senderfarbe gemessen. Die Daten werden mit aufwändigen Algorithmen und Tabellenkalkulationen ausgewertet und der Redaktion samt programmlicher Empfehlungen präsentiert. Die Ergebnisse mögen den Status quo des Hörergeschmacks in Bezug auf den jeweiligen Sender präzise erfassen, die emotionale Wirkung von Musik geben sie nicht wieder. Die Kategorisierung versucht, Musik zu objektivieren, die Befragung bringt zwangsläufig den kleinsten gemeinsamen Nenner hervor. Außerdem nivellieren diese Tests zwangsläufig alle Ecken und Kanten von Titeln, die sich nicht bereits als Hit durchgesetzt haben. Um dem System gerecht zu werden, kann der Redakteur also nur mit Titeln arbeiten, die entweder so klingen, als würde man sie kennen, oder die schon im eigenen Sender oder von anderen »warm gespielt« wurden. Mit den Interessen von Künstlern und ihren Labels hat das nur noch wenig zu tun. Das Geschäftsmodell ist ein grundsätzlich anderes. Die einen wollen über das Radio Neuheiten kommunizieren, die auch mal anecken. Die anderen brauchen Musik, die auch dezent im Hintergrund funktioniert und sich dem ermittelten Hörergeschmack perfekt anpasst.

      Vorzuwerfen ist das keinem, denn die Privaten arbeiten nach einer klaren Logik: Sie sind ein Sender- und kein Sendungsmedium. Sie müssen als Station mit einem möglichst klaren Profil jederzeit erkennbar bleiben, denn finanziert werden sie ausschließlich durch Werbung. Und die wird gemäß der Hörermenge pro Stunde berechnet. Gemessen wird diese aber nicht wie beim Fernsehen über kleine Geräte, die das Radioverhalten der Testpersonen dokumentieren, sondern durch Anrufe bei mindestens 50.000 Haushalten zweimal im Jahr. Zwischen Januar und Mai und zwischen September und Dezember lässt die Arbeitsgemeinschaft Media Analyse (AG MA) die Telefone klingeln. Die Nummern ermittelt ein Zufallsgenerator, aber natürlich macht nicht jeder mit. Wer Lust und Zeit hat, lässt sich nun Sendernamen samt jeweiligem Claim vorlesen, gibt Auskunft, wie häufig er diesen Sender in den letzten vier Wochen gehört hat, an wie vielen Tagen und wie lange. Mehr als dreimal pro Woche weist ihn als Stammhörer aus. Danach erfragt der Interviewer den Tagesablauf, um eine Hörerfrequenz pro Stunde ermitteln zu können. Immer geht es aber um den Sender und seine Erkennbarkeit. Es werden keine herausragenden Moderatoren oder besondere Radio-Highlights ermittelt; es geht um die jeweilige Station und wie viele Hörer sich ihr zuordnen lassen.

      Das alles klingt relativ schwammig und wenig zuverlässig, entscheidet aber halbjährlich über Gedeih und Verderb ganzer Stationen, ihrer Programmchefs und Chefredakteure. Selbst die beeindruckende Summe von 50.000 Befragten relativiert sich, wenn man bedenkt, dass, in Relation gesetzt, die amtlichen Messergebnisse beispielsweise eines Senders aus dem Raum München auf weniger als 1.000 Anrufen basieren. Es erklärt aber, warum die Sender ihren Musiktests vertrauen. Denn es sind dieselben Menschen, die sich an Research und Media Analyse beteiligen: Leute, die sich freuen, mal mit einbezogen, mal gefragt zu werden. Alle anderen haben keine Zeit für die penetranten Anrufe aus dem Call-Center. Wenn aber Marktforschungsteilnehmer über den Erfolg oder Misserfolg eines Radioprogramms entscheiden, dann muss das Programm folgerichtig auch maßgeschneidert für Marktforschungteilnehmer sein. Und so sind die Verfahren von Media Analyse und Sender-Research konsequent aufeinander eingestellt.

      Zu Anfang pilgerten fast alle Verantwortlichen der Sender zu Ad Roland, um von ihm zu lernen, wie das geht. Der in die Jahre gekommene DJ aus Holland war einer der wenigen, der sich schon lange mit den Modalitäten des Privatfunks auskannte. Noch unter dem Monopol des Staatsfunks hatten die so genannten Seesender von internationalen Hoheitsgewässern aus in Richtung England und Benelux ihre Programme ausgestrahlt. Ad Roland war mit Radio Mi Amigo dabei, so lange bis der Frachter Magdalene, der als Basis diente, 1979 strandete und von den niederländischen Behörden aufgebracht wurde. Als Radio-Consultant ging es ihm aber deutlich besser als auf hoher See. Er brachte privaten und auch öffentlich-rechtlichen Mitarbeitern bei, wie man die Musikarchive drastisch zusammenstreicht (teilweise auf bis zu 500 Titeln, also 5 Prozent dessen, was auf einen gewöhnlichen Apple iPod passt), um das Format des Senders klar herauszuarbeiten, wie man mit Jingles umgeht, damit der Claim des Senders einem jeden geläufig und die Station bei der nächsten Media Analyse bekannt genug ist, damit der Befragte meint, sie gehört zu haben. Er brachte den Moderatoren die ewig gute Laune bei und schulte sie darin, ein Tonstudio komplett selbstständig zu bedienen.

      Letzteres war sicher ein Segen. Ich musste dereinst noch dem Tontechniker ein Zeichen geben, »abwinken«, bevor der nächste Titel kam. Beim letzten Satz hieß es: Arm hoch. Wenn einem dann doch noch etwas einfiel, saß man blöd hinter der Scheibe, mit ausgestrecktem Arm, der sich erst senken durfte, wenn das letzte Wort gesprochen war.

      Derselbe Lehrer, dieselbe Zielgruppe, identische Erhebungstechniken – aus der medialen Vielfalt wurde in der Breite Einfalt. Die meisten Sender klangen einfach gleich und tun das bis heute. Der Radioberater und die Auswirkungen seiner Ratschläge auf das Programm war nicht allein ein deutsches Phänomen. In Amerika dankten es die Rapper von Public Enemy dieser Berufsgruppe 1992 mit dem Song How To Kill a Radio Consultant.

      Das Paradies – Gefilmt von Peter Rüchel und Andreas Thiesmeyer

      In den sechziger Jahren begann der lange Marsch des Fernsehens ins Herz der deutschen Familie. Während 1954 noch mickrige 88278 Fernseher angemeldet waren, gab es 1964 bereits 10 Millionen Geräte. Anfang der siebziger Jahre war das Fernsehen praktisch in jedem deutschen Haushalt präsent. Es hatte stillschweigend das Radio als Zentrum des Familienverbandes ersetzt – aus dem Prinzip Volksempfänger war das elektronische Lagerfeuer geworden. Die beiden öffentlich-rechtlichen Anstalten teilten sich den Kuchen auf: hier die föderal strukturierte ARD mit ihren unterschiedlich mächtigen Regionalsendern, dort das ZDF als zentralisierter Riesenapparat. Popmusik tröpfelte ganz langsam ins Programm. Einzelne streitbare Redakteure in den jeweiligen Funkhäusern erkämpften sich die Flächen.

      »Nun ist es endlich so weit. In wenigen Sekunden beginnt die erste Show im Deutschen Fernsehen, die nur für Euch gemacht ist. Und Sie, meine Damen und Herren, die Sie Beatmusik nicht so mögen, bitten wir um Ihr Verständnis.« Mit diesen Worten kündigte der spätere Tagesschau-Sprecher Wilhelm Wieben den ersten Beat Club am 25. September 1965 an. Michael »Mike« Leckebusch hieß der ambitionierte Unterhaltungsredakteur bei Radio Bremen, der das neue Format bei den Senderverantwortlichen durchgesetzt hatte; Uschi Nerke war seine Moderatorin. Anfangs tastete man sich mit lokalen Stars wie den Rattles oder den Lords ans Publikum heran, später kamen dann Bands wie Steppenwolf, Jethro Tull oder Status Quo, aber auch die Beach Boys, The Doors oder Kraftwerk dazu. Die Auftritte waren selbstverständlich live, eine Hand voll überdrehter Studiogäste feierte jede Band. Die Jugendlichen waren begeistert, die Eltern empört, die Medien ratlos. Zum ersten Mal öffnete sich das deutsche Fernsehen für die musikalischen Innovatoren aus den USA und aus England.

      Schnell sprach sich das