Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm!. Tim Renner

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Название Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm!
Автор произведения Tim Renner
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783862871087



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ist, führt auch zu Ablehnung. Je emotionaler, umso heftiger. Je heftiger, umso schneller wird umgeschaltet. Da sich die Qualität von Musik und ihrer Darbietung aber nun mal danach bemisst, so emotional wie möglich zu sein, widerspricht das zutiefst einem Fernsehideal, das auf stabilen Quoten, auf purer Quantität beruht.

      Parallel zum Start des Privatfernsehens und den diversen neuen Kanälen kam ein weiteres Phänomen hinzu: Die Zahl der Zweitgeräte wuchs. Ende der achtziger Jahre besaß bereits jeder dritte Haushalt eines. Meist stand es im Kinderzimmer. Resultat: Der Familienverbund vor dem Fernseher wurde gesprengt. Immer seltener kam es zu TV-Ereignissen, die generationsübergreifend erlebt wurden – samt Geschmackskollisionen und Identitätsreibung. Popmusik wurde zur Privatangelegenheit. Bald regierten die Musiksender MTV und VIVA im Kinderzimmer. Und die Eltern waren froh, in Ruhe den Tatort sehen zu können. Die dringend notwendige Erneuerung des Mainstreams, der Moment, da die Jüngeren den Älteren erklären, worum es der neuen Band geht, die gerade in der Abendshow spielt, blieb dadurch aus.

      Das Paradies – Beschrieben von Frank Bielmeier und Andreas Banaski

      Gegen Ende der siebziger Jahre schoss an fast jeder Ecke einer Studentenstadt oder eines Univiertels ein Copyshop aus dem Boden. Die Firma Xerox hatte den Fotokopierer zwar schon 1949 erfunden, aber erst jetzt war das Gerät so günstig geworden, dass man eine Kopie für 10 Pfennige anbieten konnte. Keine Schriftsetzer, keine Filme, keine Druckkosten, eine ungeahnte Freiheit für jeden, der etwas mitteilen wollte und es sich zuvor nicht leisten konnte. Es wurde wie im Rausch kopiert, und das nicht nur vom AStA, den Atomkraftgegnern und studentischen Dritte-Welt-Gruppen, auch die Punks standen hinter den modernen Maschinen. In so genannten »Fanzines« (kurz für Fan-Magazines) schrieben sie über ihre eigene Bewegung, emanzipierten sich von der bürgerlichen Presse, die sie nicht verstand und von der sie nicht verstanden werden wollten.

      Die ersten Fanzines tauchten 1976 in London auf, hießen Sniffin’ Glue, Ripped and Torn oder London Outrage. Die Bilder klebten krumm und schief, die Texte waren mit mechanischen Schreibmaschinen oder gar mit der Hand geschrieben, Korrekturen blieben einfach im Text stehen, Grammatik und Orthografie interessierten nicht und die Überschriften klebte man aus einzelnen ausgeschnittenen Zeitungsbuchstaben zusammen. Sie sahen aus wie Erpresserbriefe. Der Wille zum eigenen Medium schaffte einen eigenen Stil, der sich radikal von allen Hochglanzmagazinen abhob. Man war schneller, günstiger, direkter und dreckiger als sie. Die Auflagen waren meist gering, überschritten kaum 100 Exemplare und wurden im Bekanntenkreis oder über den örtlichen Schallplattenladen vertrieben. Meist kamen sie über ihre Region nicht hinaus. Da man Fanzines weiterreichte, ein Exemplar viele Leser hatte, schafften sie ein dichtes lokales Informationsnetz. Die Punks hatten ein steinzeitliches Internet aus Papier erfunden.

      Jeder war plötzlich Journalist, und alle schrieben es so auf, wie sie es erlebten. Sie hatten es nicht anders gelernt, und es entsprach genau dem eigenen Anspruch an Wahrhaftigkeit. Thema waren die eigenen Bands oder die von nebenan. Das System sah in Deutschland nicht anders aus als anderswo. Sein Epizentrum befand sich 1977 noch rund um Düsseldorf, wo auch unweit, in Grevenbroich, The Ostrich von Frank Bielmeier erschien. Bezeichnenderweise lag in Neuss, auf halber Strecke zwischen beiden Städten, die Zentrale des Kopiererherstellers Xerox. In der ersten Ausgabe des selbst kopierten Hefts heißt es vom Herausgeber: »Suche Typen, die Lust haben, eine Punk-Band zu machen! Brauche Bassist und Schlagzeuger.« In der zweiten Ausgabe fragt er schon: »Wer interessiert sich für Kassetten von Charley’s Girls???«

      Gemeldet hatte sich ein gewisser Peter Hein. Man nahm ihn in die Gruppe auf, sie wurde zur Keimzelle für Mittagspause, aus denen wiederum mit Fehlfarben die wohl wichtigste Band der Neuen Deutschen Welle hervorging. Deren Sänger Peter Hein stand zu der Zeit bei Xerox in Lohn und Brot: »Innerhalb kürzester Zeit begann ein Spiel mit Formen und Inhalten, es wurde Kunst der zwanziger Jahre, Propaganda und Pop-Art in die Gestaltung der Zeitung und der Zettel eingebracht, geschrieben, wie man gerade las, hardboiled, surreal, Stream-of-consciousness, was man will«, begeistert Hein sich noch heute. »Und wer beim Kopierhersteller arbeitet, wird ja unfreiwillig bestens gesponsert, so konnten herrliche, endlos vergrößerte Detailausschnitte und Mehrfachbelichtungen zu unerkennbaren Konzertankündigungen und Plattencovern werden.«5

      Weil die Szene bewusst und spielerisch auf eine neue Technik zuging, verschaffte sie sich einen gewaltigen Vorsprung. Die Medienindustrie beschäftigte sich noch mit den Auswirkungen der epidemieartig auftauchenden Kopierer auf das Urheberrecht, stritt um den Kopiergroschen, während die Maschinen längst ein Fanzine nach dem anderen ausspuckten. Auch die Leerkassetten, vor denen die Musikwirtschaft so viel Angst hatte, trugen zur Freiheit der Punks bei. Eine Mark-II-Kassette aus Taiwan, die ich auch für mein Fanzine Festival der guten Taten verwendete, kostete nur noch 90 Pfennig im Handel. Der kleine HiFi-Händler ums Eck in Hamburg-Poppenbüttel wunderte sich, dass ich und andere merkwürdige Gestalten sie immer gleich kistenweise kauften.

      Die Musik wurde über kleine Kassettenlabels zum Selbstkostenpreis ausgetauscht. Nur scheinbar eroberte die Neue Deutsche Welle die Republik später im Sturm. Als die Massenmedien entdeckten, dass Punk und die Neue Welle weit mehr waren als der Mut zur Hässlichkeit (»Schocken ist schick« schrieb die Cosmopolitan Ende der Siebziger), hat sich jenseits des Mainstreams schon längst eine unabhängige, gefestigte Kultur entwickelt. Das Medienestablishment hatte unterschätzt, wie selbstständig der Underground mithilfe von neuer Technik werden konnte. Ratlose Artdirektoren saßen Anfang der achtziger Jahre über Fanzines wie Willkürakt, Bauernblatt oder Arschtritt und versuchten, deren ästhetische Codes, die plötzlich so gefragt waren, zu entschlüsseln. Die Anzeigen von Musikkonzernen sahen nun wie die von Independents aus. Die Bertelsmann-Tochter Ariola verteilte quietschgelbe Buttons, die wie Badges der Punks wirken sollten, auf denen in roten, zusammengewürfelten Buchstaben »Keine Angst vor den Achtzigern« stand, während dem Management die Knie schlotterten, weil sie glaubten, den Trend verschlafen zu haben. Auch in der Bravo waren auf einmal die Schriften schief und krumm. »Wir dachten schon, das ist der Sieg«, sangen Peter Hein und die Fehlfarben.

      Wenn mein Nachbar eine Zeitung machen kann, wieso soll ich dann einem Journalisten glauben, den ich doch gar nicht kenne? Eine berechtigte Frage. Die klassische Musikpresse kam durch die Fanzines enorm unter Druck. Man versuchte, Musik zu objektivieren, schrieb seitenlang über Keyboardflächen, Gitarrenarbeit und Live-Qualität eines Sängers oder versuchte, jeden Ton in einen gesellschaftspolitischen Kontext zu zwängen. Über den Schreiber erfuhren die Leser in der Regel nichts. Das Private im Politischen gab es nicht. Das Feuilleton schrieb über Emotionen, doch die eigenen blieben außen vor? Unglaubwürdig.

      Als Erstes ließen die Mitarbeiter des Sounds die Maske fallen und wurden dadurch zum Zentralorgan der Neuen Deutschen Welle. Allen voran Andreas Banaski alias Kid P. Seine Artikel handelten fast ausschließlich von seinen Befindlichkeiten, die Musik wurde so beschrieben, wie sie in seinem Leben vorkam. Der Leser tauchte in Banaskis Tagesablauf ein, begann zu verstehen, warum dieser das eine mochte und das andere strikt ablehnte, ohne mit ihm einer Meinung sein zu müssen. Journalisten waren plötzlich angehalten, ihr Innerstes nach außen zu kehren. In ihrer Subjektivität wurden sie so angreifbar wie die Musik, die sie rezensierten. Objektivität war natürlich einfacher, aber nicht ehrlicher und schon gar nicht fairer.

      Offenheit wird belohnt. Ich erfuhr das durch einen Artikel über Tears For Fears, den ich unter Tränen schrieb. Der fünf Jahre ältere Bob hatte alles, was man braucht, um Erfolg bei den Frauen zu haben: reiche Eltern, gutes Aussehen, einen Honda Civic und jede Menge Charme. Aber er war furchtbar schüchtern. Mit einer Mitschülerin, die ich ihm vorgestellt hatte, war es schon wieder vorbei. Er bat abermals um meine Hilfe als Kuppler. Im Visier hatte er diesmal Ute, ein 23-jähriges Mädchen aus der Independent-Szene, auf deren Freundschaft ich als 17-Jähriger mächtig stolz war. Bob mit der extrem coolen Ute zu verkuppeln war nicht leicht, und es nervte mich sowieso, ständig für ihn die Mädchen klarzumachen. Ich verlangte für den Erfolgsfall 1.000 Mark Honorar. Kein Problem für Bob.

      Also spannte ich beide in die Dreharbeiten meines Abschlussfilms für den Kunstkurs meiner Schule ein. Film und Beziehung waren fast im Kasten, als wir alle am Abend des 30. April 1982 in Bobs Auto saßen; ich hinten, Ute fuhr. An einer Kreuzung wurde der Wagen von links mit voller Wucht gerammt. Jemand hatte die rote Ampel übersehen. Ich sprang nach vorne und riss Ute aus dem Wrack.