Название | Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm! |
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Автор произведения | Tim Renner |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783862871087 |
Wie er seinen Traum von einer Plattenfirma umsetzen sollte, davon hatte Ahmed Ertegun allerdings keinen Schimmer. Bis er in New York auf seinen alten Bekannten Herb Abramson stieß, der neben seiner Ausbildung zum Zahnarzt jede Menge Jazzkonzerte veranstaltete und in seiner Freizeit zudem Platten für National Records produzierte. Er führte Ertegun vom Konsumenten zum Produzenten, dafür infizierte ihn Ertegun mit der Idee eines eigenen Labels.
Atlantic Records hieß die Firma der beiden Freunde. Ihre Stärke war die innovative Produktionsarbeit, gekoppelt mit einer fairen Art, Künstler zu behandeln. Das bedeutete damals vor allem: Atlantic zahlte Lizenzen. Vertragsgemäß und pünktlich. Das war selbst bei großen Plattenfirmen wie Columbia oder RCA keineswegs üblich, und deshalb kamen die Künstler immer wieder zu Ertegun, unterschrieben langfristige Verträge und vertrauten ihm blind. »Sie lieben Ahmed«, erzählte der Produzent Phil Spector später im Rolling Stone: »Er sieht aus wie Lenin, trägt diesen Bart, ist smart und sensibel, hat die Sprache der Schwarzen gelernt, hängt in Harlem rum, raucht Shit und alle stehen auf ihn.« In einer Zeit, in der die meisten Amerikaner Schwarze bestenfalls als Bedienstete, aber nicht als ernst zu nehmende Künstler, geschweige denn als passendes soziales Umfeld für einen Diplomatensohn betrachteten, tauchte Ertegun in ihre Welt ein. Nicht als Voyeur, sondern als ein Teil davon. Gleichzeitig blieb er Geschäftsmann, er wurde zur Brücke zwischen den beiden Kulturen, lebte das Gegenteil von Rassentrennung und verdiente gutes Geld dabei. Seine Glaubwürdigkeit half ihm, Größen wie Ray Charles, Joe Turner oder Aretha Franklin zu einem neuen, moderneren und erfolgreicheren Stil zu verhelfen. Und Atlantic feierte schnell große Erfolge. Es gelang Ertegun, die fordernde, neuartige, schwarze Musik des Nachkriegsamerikas auch für Weiße interessant zu machen – nicht für die Upper Class, aber für Millionen Menschen in ganz Amerika, deren Erfahrungen, Gefühle und Träume der neue Sound besang. »Die meisten Leute im Musikbusiness wussten nicht, was der echte ›American taste‹ war«, erinnert sich Ahmed Ertegun. »Die großen Labels machten Musik für eine bourgeoise Gesellschaft. Sie verstanden nicht, dass der Hafenarbeiter in Seattle oder der Baumwollpflücker in Alabama unsere Musik hören wollte – egal ob er schwarz oder weiß war.«1
Das Gespür für den Crossover machte Ertegun aus – die Übergänge zwischen den Szenen, zwischen R&B und Pop interessierten ihn. Er war getrieben von der Vision, seiner geliebten schwarzen Musik einen Markt zu verschaffen. Atlantic wurde so zum Synonym für einen musikalischen und gesellschaftlichen Aufbruch. 1967 verkauften Ahmed Ertegun, sein Bruder Nesuhi und Partner Jerry Wexler Atlantic an Warner Music – für 17,5 Millionen US-Dollar plus wohldotierte Jobs an der Spitze der neuen Firma WEA (Warner Elektra Atlantic). Nach zwanzig Jahren als Independent ein wenig ermüdet, suchten sie Sicherheit, und das Geld war eine zusätzliche Honorierung. Ertegun verkaufte seine Firma, nicht aber die Verantwortung für seine Künstler. Er schaffte es, Atlantic als eigenständiges Label unter dem Dach des Konzerns zu erhalten. Er machte den Warner-Managern klar, dass man am stärksten sei, wenn sich der Konzern als Verbindung von verschiedenen, autarken, internen Kulturen verstünde. Man hörte auf den erfahrenen Musikmanager Ertegun und erlebte so mit der WEA in den Folgejahren einen ungeahnten Boom. Ertegun gelang es, dem Unternehmen Warner immer wieder neue inhaltliche Impulse zu geben und mit seinem kleinen Label den Riesenkonzern vor sich her zu treiben. Selbst heute, als 81-Jähriger, ist Ertegun bei Atlantic noch als Founding Chairman aktiv und mischt sich immer wieder in die Tagespolitik der Konzernmutter Warner Music ein.
Als die Branche in den sechziger und siebziger Jahren durch den Boom von Rock und Soul in Amerika erwachsen wurde, brauchte es Menschen, die sie anführten, ihr Charakter gaben. Menschen wie Clive Davis, der einer bitterarmen jüdischen Familie aus Brooklyn entstammt und seiner glamourösen Vision von Pop bis heute hinterherjagt, oder David Geffen, der als schwuler Manager in einer homophoben Gesellschaft auf seine Weise Erfolg haben wollte, und eben Typen wie Ahmed Ertegun. Leidenschaftliche Menschen, die nicht nur rational handelten und deshalb für Künstler so glaubwürdig waren. In der breiten Öffentlichkeit machte sie das jedoch angreifbar. Es gefiel bei Weitem nicht allen, dass eine Industrie, die für liberales Gedankengut stand, eng mit der Gegenkultur verbunden war und von Außenseitern geführt wurde, so viel wirtschaftliche Macht erlangte. US-Präsident Richard Nixon setzte sogar eine Untersuchungskommission ein, um der merkwürdigen Branche auf den Zahn zu fühlen. Er wusste wohl aus eigener Anschauung nur zu gut, dass Menschen mit einer Mission auch über das Ziel hinausschießen können. In Deutschland gab es nicht viele Menschen, die nach dem Krieg noch bereit waren, irgendeiner Mission zu folgen. Die meisten Impulsgeber und Innovatoren deutscher Kultur waren vor den Nazis geflüchtet oder von ihnen ermordet worden. Darüber hinaus war man nach diesem ungeheuren Verbrechen nicht in der Lage, auch nur ansatzweise über eine eigene popkulturelle Identität nachzudenken. Die braucht es aber, wenn man glaubwürdig agieren will. Zutiefst verunsichert und zugleich überrollt vom amerikanischen Nachkriegs-Entertainment machten die Deutschen stattdessen zweierlei: Sie suchten Unterhaltung und Trost in der Tradition des deutschen Schlagers, eines der wenigen authentischen Elemente unserer Kultur, das die Katastrophe überlebte, oder sie hörten importierten Besatzer-Pop aus den USA oder England. Und die großen, internationalen Plattenfirmen gaben ihnen, was sie wollten.
In Siggi Loch fanden die Brüder Ertegun einen der wenigen Macher mit anderen Zielen. Auch Loch liebte den Jazz. Als 15-Jähriger hatte er in Hannover ein Sidney-Bechet-Konzert besucht, war hingerissen und für die Banalitäten des Schlagers fortan verloren. Er brachte den Mut auf, nach einem eigenen Sound zu suchen. Er sollte seine Erfahrungen als Jugendlicher in Deutschland mit den musikalischen Einflüssen aus den USA verbinden.
Als Verkäufer für den Importdienst der EMI Electrola kam er in die Industrie und sammelte ab 1962 erste Erfahrungen als Produzent und Jazzlabel-Manager bei Philips. Mitte der Sechziger war er dann als Deutschlands jüngster Plattenfirmen-Chef in der Position, an der Entwicklung eigener, lokaler Musik und Künstler arbeiten zu können. Er entdeckte und förderte Amon Düül und CAN, produzierte die Debüt-Alben von Katja Ebstein, Sigi Schwaab und Jean-Luc Ponty. Immer an der Schwelle vom Jazz zum Pop, immer auf der Suche nach etwas Eigenem.
1970 entschied er sich nach vier Jahren an der Spitze von Liberty/United Artists zur Kündigung. Siggi Loch wollte sein eigenes Jazz-Label gründen. Doch dann sprach ihn Nesuhi Ertegun an, der internationale WEA-Chef: Er solle die Filiale in Deutschland aufbauen. Siggi Loch bewunderte die Erteguns schon lange für ihre Jazzproduktionen und die kluge Label-Politik mit Atlantic. »Es war eine Entscheidung für die Persönlichkeit Ertegun«, sagt Siggi Loch.2
Und er nutzte die Chance. WEA Deutschland entwickelte sich prächtig – nicht nur wegen des starken internationalen Repertoires, sondern gerade aufgrund der lokalen Erfolge: Mit Klaus Doldingers Passport, mit dem er zuvor schon als Produzent gearbeitet hatte, entstand die erfolgreichste deutsche Jazzband, mit Marius Müller-Westernhagen der erste deutsche Stadionstar, mit Alphaville wurde deutscher Synthie-Pop weltweit zum Begriff. 1980 wurde Siggi Loch zum Präsidenten von WEA Europe ernannt, um die europäische Ausdehnung des Konzerns zu steuern. Ein Deutscher in dieser Position war damals eine Sensation.
Siggi Loch ist von Kunst besessen, und wie jeder Besessene hat er sich auch Feinde geschaffen. Sein Verständnis für Menschen, die seine Leidenschaft nicht teilten, war als WEA-Chef durchaus begrenzt. In seiner Funktion war er auch für die Computerspiel-Tochter Atari zuständig und musste selbstverständlich deren Präsidenten Ray Kassar zum Essen ausführen, als dieser in Deutschland weilte. Nach der Vorspeise teilte Loch seinem amerikanischen Gast unverblümt mit, dass Computerspiele doch von erheblich geringerem Wert seien als gute Musik. Es fehle den Games der künstlerische Ausdruck. Kassar schäumte. Atari trennte sich im Jahr darauf von der Mutterfirma, um bereits zwölf Monate später die WEA an Umsatz und Rendite deutlich hinter sich zu lassen.
Dass Kunst sein Motiv, sein Antrieb ist, war nicht zu übersehen. Auch bei meinem ersten Besuch bei ihm zu Hause in Hamburg-Uhlenhorst. Das war 1988. Bevor ich die Marketingkampagne für den damaligen Pop-Sänger Wigald Boning präsentieren konnte, den Siggi Loch auf seinem Label ACT unter Vertrag genommen hatte, wurde ich mit den Bildern vertraut gemacht. Die Wände waren tapeziert mit geschmackvoll ausgewählter Kunst, die Erklärungen zu den Bildern auch für mich, der ich wenig beschlagen war in der Materie, einleuchtend und spannend.