Название | Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm! |
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Автор произведения | Tim Renner |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783862871087 |
Auf dem Weg ins Krankenhaus begriff ich es endlich: Ich hatte mich schon lange in Ute verliebt. Sechs Jahre Altersunterschied, aus meiner damaligen Perspektive eine gewaltige Spanne, waren plötzlich egal. Ich hatte mich vorher nur nicht getraut, mir diese Liebe einzugestehen. Ich kratzte so lange in meinem Pass herum, bis 1964, mein Geburtsjahr, wie 1954 ausah. Ich hätte noch viel mehr getan, um mit Ute zusammen zu sein.
Als ich wieder entlassen wurde, war die Sache mit ihr und Bob längst gelaufen, die beiden waren ein Paar. Voller Bitternis und Hass auf mich selbst verlangte ich von ihm die vereinbarten 1.000 Mark. Ich wollte Ute damit zu einer Reise nach Paris einladen, aber Bob verwehrte mir den üblen Lohn. Ich fuhr sofort zu ihr, gestand meine Liebe, erzählte alles. Zu spät. Es war früher Nachmittag, und sie tröstete mich auf dem Balkon ihrer kleinen Wohnung mit viel Aufmerksamkeit und noch mehr Wein.
Irgendwann dämmerte mir, dass ich noch einen Termin hatte: Tears For Fears, ein New-Wave-Pop-Duo aus England, gaben in der Hamburger Markthalle ihr erstes Deutschlandkonzert. Im Club wurde ich aufgefangen von einem warmen Synthie-Sound und einer traurigen Stimme, die mir aus der Seele sprach: »You don’t give me love. You gave me pale shelter!« Das Konzert war eine Offenbarung, die ich mir unter Tränen anguckte. Wie vereinbart, aber betrunken und verheult, torkelte ich danach zum Interview hinter die Bühne. Das Gespräch hatte ich nicht vorbereitet. Es blieb mir gar nichts anderes übrig, als mit Roland Orzabal und Curt Smith über meine Geschichte mit Bob und Ute zu reden und was das mit der Musik von Tears For Fears zu tun hat.
Genau davon, wie ich meine große Liebe versehentlich verkaufte, handelte auch der Artikel über die Band, den ich bei der Zeitschrift Scritti ablieferte. Ihn zu schreiben war für mich liebeskranken Teenager wie eine Therapie. Die Reaktionen waren überwältigend: jede Menge Zuschriften, vornehmlich von Mädchen, die mich trösten wollten oder selbst Trost suchten. Dazu noch einige Jobangebote. Der Ton der Zeit war gnadenlos subjektiv, da fand selbst Teenage-Romantik ihren Platz. Dafür hatten die Fanzines gesorgt. Kid P., der in einem seiner letzten Artikel für Sounds öffentlich der Redaktionsassistentin Tina seine Liebe gestand (die das angeblich erst beim Korrekturlesen erfuhr, ihn aber verschmähte), hatte das zur Kunstform veredelt. Leute, die es beherrschten, über die eigene Geschichte zu den Themen der Zeit zu führen, wurden damals händeringend gesucht.
Überall entstanden neue Zeitungen, die großen Verlage bekamen vielfältige Konkurrenz, und das nicht nur von der Musikpresse. Auch der Markt der Stadtzeitungen boomte. Es gab jede Menge Neugründungen, und die alten Titel erhielten ein völlig neues Gesicht. Ausgestattet mit einem Selbstverständnis als studentische Kampfpresse, der von den Fanzines erlernten Subjektivität und dem Glamour des Pop, den The Face und andere britische Post-Punk-Magazine vormachten, legten sie los und gelangten Mitte der Achtziger zu ungeahnter Blüte. Deutlich über eine Million Exemplare wurden in Westdeutschland verkauft – diese Zahl kam durch die Addition kleiner, unabhängiger Titel zustande. Starke Regionalität, große Glaubwürdigkeit, maximale Unabhängigkeit, das waren die Stärken der Stadtmagazine.
Die großen Häuser, allen voran der Jahreszeiten Verlag aus Hamburg, wollten mitspielen. Die Brüder Edmund und Werner Marcinowski machten es möglich. Mit dem Geld des Großverlages im Rücken kauften sie ab 1988 eine Stadtzeitung nach der anderen auf und fassten sie unter dem Namen ihrer eigenen Ruhrpost-Postille Prinz zusammen. Im Sinne der Kostenoptimierung wurden Redaktionen zusammengelegt, das Big Business hatte man stets im Auge. Die Szene hatte ihre Unschuld verloren und damit erstaunlich schnell ihre Relevanz als Trendsetter. Im Jahreszeiten Verlag behinderten sich das innovative Magazin Tempo und die Stadtzeitungskette Prinz gegenseitig, sie kämpften als so genannte »Zeitgeist-Presse« um die Gunst eines identischen Publikums.
Diedrich Diederichsen, Lothar Gorris, Wolfgang Höbel, Thomas Hüetlin, Christian Kracht, Andrian Kreye, Hans Nieswandt, Kester Schlenz, die Gebrüder Seidel, Helge Timmerberg, Moritz von Uslar und viele andere mehr, die heute in den großen Wochenmagazinen und Tageszeitungen schreiben oder über die dort geschrieben wird, sind in der Welt des Sounds der Stadtzeitungen und Fanzines groß geworden. Und sie versuchen noch immer, ihrer Art von Journalismus treu zu bleiben. Vielleicht gibt es deshalb in der Presse mehr Freiräume: Sie steht am ehesten noch für Haltung, Inhalt, Verantwortung und den Mut, gegen den Strom zu schwimmen.
Das entspricht auch der Historie großer, traditionsreicher Titel wie Spiegel, Stern und mancher Objekte aus dem Hause Axel Springer. Die Gründer wollten mit ihren Medien gestalten, sie stellten aber, geprägt durch die Erfahrungen des Dritten Reichs und der damit einhergehenden Gleichschaltung der Massenmedien, ihre gesellschaftliche Verantwortung all ihrem Tun voran. Man mag politisch nicht auf einer Linie gewesen sein, aber ihre Publikationen verbreiteten immer eine klare Meinung, eine klare Haltung war stets erkennbar. Sie richtete sich nicht nach den jeweiligen vermeintlichen Mehrheiten in der Bevölkerung. Über diese Haltung definierten sich die Werte der Verlagshäuser, so entstand Identität. Sie wurden gepflegt, auch wenn das richtig teuer wurde und bedeutete, dass man all seine Mitarbeiter am Unternehmen beteiligte, wie es Rudolph Augstein tat, oder ein einzigartiges, millionenschweres Sozialprogramm für sie auflegte wie Axel Cäsar Springer.
Der Konsument dankte es ihnen, über mangelndes wirtschaftliches Wachstum ihrer Häuser konnten Henri Nannen, Rudolph Augstein und Axel Cäsar Springer in ihrer aktiven Laufbahn nicht klagen. Die Krise der Presse begann erst, als Manager die Unternehmer ersetzten und der Glanz der alten Herren verblasste. So schwärmte selbst die taz über die großen drei Presse-Mogule: »Diese Männer waren nicht pc. Aber sie wussten, was sie wollten. Sie hatten eine Vision und sie hatten Charisma. Sie waren Persönlichkeiten. Keine Etat verwaltenden Knödelpupser, die über die Lage jammern, statt ihre Ideenlosigkeit als Ausgang des Niedergangs zu begreifen. Vielleicht ist die Lösung der medialen Krise ganz einfach: Vielleicht sollten die Magazine und Zeitungen dieses Landes mal wieder von Leuten gemacht werden, die etwas zu sagen haben. Von Menschen, die bereit sind, für die Wahrheit ins Gefängnis zu gehen, oder so naiv sind, anzunehmen, die Welt würde ein Stück fairer werden, wenn sie selbst mal ein Staatsoberhaupt aufsuchen.«
Das Paradies – das Fazit
Ja, es war ein Paradies. Ein Paradies der klaren Verantwortlichkeiten. Menschen wie der erste A&R-Manager Fred Gaisberg setzten im Zweifel ihr eigenes Geld ein und gingen in Führung. Radioredakteur Klaus Wellershaus riskierte Kopf und Kragen, aber er sah seine Verantwortung darin, neuen Ideen Flächen zu schaffen und stand für sie ein. Auch bei der Polydor erlebte ich Verantwortung. Meine Chefs ließen mich machen. Und nahmen mich damit schlauerweise umso mehr in die Verantwortung.
Große Systeme an sich sind nicht das Problem, solange sie die Verantwortung in geschlossenen Blöcken verteilen. Der Einzelne darf sich nicht als Rad im Getriebe fühlen, der nur einen Auftrag für »die da oben« ausführt und nicht begreift, in welchem Gesamtzusammenhang sein Tun steht. Am Satz »Dafür bin ich nicht zuständig« kann ein ganzes Projekt, eine ganze Karriere scheitern. Gefährlich wird es immer dann, wenn die Organisationsform sich nicht am Prinzip Verantwortung orientiert. Segmentierte Arbeitsabläufe sind grausam gegenüber dem Künstler. Er wird durch die Firma gereicht: vom Artist & Repertoire Manager, mit dem er sich verbunden fühlt und wegen dem er eigentlich unterschrieben hat, zur Marketingabteilung und dann rüber zur Promotion. Keiner ist und fühlt sich wirklich verantwortlich, denn jeder kann immer die andere Abteilung beschuldigen. Den Künstler kann aber nicht interessieren, wer denn eigentlich schuld ist, ihn muss interessieren, dass sein Vertragspartner funktioniert.
Je arbeitsteiliger, je abstrakter eine Firma ihre Arbeit organisiert, desto schwieriger wird für den Einzelnen die Identifikation. Die Plattenfirma WEA Deutschland teilte ihre Künstler Ende der achtziger Jahre in der Presseabteilung nach Alphabet auf. Als Mitarbeiter war man also angehalten, sich beispielsweise nur mit Künstlern von A bis K zu identifizieren und nur sie vertreten. Ist nicht wahrscheinlicher, dass man sich für seine Arbeit begeistert, wenn einem die Inhalte wichtig sind – und zwar von A bis Z? Braucht man deshalb nicht gerade innerhalb großer Firmen viele kleine Einheiten, die ihre Künstler von vorne bis hinten betreuen, sie verstehen, ihnen Heimat geben und voll verantwortlich sind? Nicht mehr wegen des Künstleregos, auch wegen der Erfolgswahrscheinlichkeit.
Es ist schwer zu verstehen für Manager, die keinen oder einen überholten Kunstbegriff haben,