Splitter im Sand. Birgit Biehl

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Название Splitter im Sand
Автор произведения Birgit Biehl
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783898968300



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zur Stelle, durchsucht die Insel. Moudou begleitet mich zu den Soldaten, an ihrem Stand am Strand lösen wir die Fahrkarte gegen den Pass ein. Moudou ist einer der Schätze, die die Welt an dieser Stelle bereit hält, uneigennützig, hingebungsvoll helfend, sie geben mit Selbstverständlichkeit, uneingedenk eines ökonomischen Wertes ihres Handelns. Etienne zieht mich einfach mit sich, mit seiner Pirogue fahren wir zum Schiff hinaus, dann bin ich wirklich gefordert. Ist die Pirogue in einem Wellental, schwebt die Plattform des Schiffes einige Meter über uns; auf dem Wellenberg habe ich eine Chance, klammere mich an die glitschige Leiter, vorn einen Rucksack, hinten einen Rucksack, und springe beim dritten Mal auf die nasse Metallfläche, rutsche aus und fliege in einen Korb mit lebenden Barracudas.

      Nach 10 Jahren schon ist das Schiff völlig heruntergekommen, verdreckt und verrostet, die Schlagseite ist ein Konstruktionsfehler. Durch stinkende Fischbrühe im Schiffsinneren, in dem sich schon viele Frauen mit Kindern niedergelassen haben, denn hier kostet die Überfahrt nichts, quälen wir uns durch die dicht gedrängte Menge die enge Treppe hoch zu einem Aufenthaltsraum mit Schlafsesseln, das Gepäck kommt auf einen großen Haufen in die Obhut der Armee. Im Chaos der mehrfach belegten Sessel entsteht eine friedliche Ess- und Trinkszene, alles wird geteilt. Ich bin schrecklich zerstochen, auf dem Boden laufen seltsame Ungeziefer, über der Mündung des Flusses donnern Gewitter, Regen peitscht auf die undichten Fenster des Schiffes, auf dem Boden überall Rinnsale, an Schlaf ist nicht zu denken auf diesem schwül-heißen Sklavenschiff. Der Gang zur Toilette wird zur Mutprobe, die Türen sind herausgerissen, die Kabinen voller Exkremente, die Wasserpumpen funktionieren nicht, alle Frauen entleeren sich mitten in den Vorraum, der keinerlei Luftabzug hat.

      Draußen auf dem Vorschiff ist es herrlich, die Casamance-Mündung, im aufgewühlten Meer rollt das Schiff bedenklich unter dem Sternenhimmel vorbei an Banjuls Lichterkette, überall flackern die kleinen Laternen der Fischerboote, groß und nah Orion. An der Reling sitzt auf einem Poller eine dicke Nutte in rotem Kleid, die ganze Nacht bereit, zwischen den Tauen hocken wir zusammen und reden, reden.

      Als wir in Dakar einlaufen, ist es noch Nacht, ich bin völlig zerschlagen, habe Halsschmerzen von der ständigen Zugluft, schleppe mein Gepäck durch das dunkle Hafenviertel Richtung Plateau, versuche, den Gedanken an Gefahren auszublenden. Das ›St. Louis‹ ist noch verschlossen, aber der hinter der Tür auf dem Boden schlafende Wächter wacht von meinem Klopfen auf, ich darf auf den Ledersesseln im ›Salon‹ schlafen, später wird ein Zimmer frei. Im Spiegel sehe ich mich zerlumpt, verdreckt, zerkratzt und blutig, hier erst merke ich, wie ich stinke.

      Schreiben im ›Café de Paris‹ an der avenue Mohammed V, Wunden lecken, Pläne machen, ein café crème, noch einmal die Katen, Laubengänge und Werkstätten im Plateau-Viertel. Durch Zufall treffe ich Sophie und Marion wieder, also essen und erzählen im ›Poty‹, dem skurrilen Treff der ehemaligen französischen Kolonialbeamten, die von alten Zeiten schwadronieren, einschlafen mit Radio France International aus dem kleinen Weltempfänger, wunderbar.

      In einem der bunt bemalten Kleinbusse, die Farben verdecken den deplorablen Zustand dieser Wagen, geht es nach Norden, nach St. Louis, die französische Handelsstation an der Mündung des Senegal-Flusses. Drei Pannen, natürlich, mit dem Öl, dem Wasser und den Reifen, schmerzhaft stechen die scharfen Kanten der Sitze. Es zieht mich wieder auf die Langue de Barbarie, die sandige Landzunge zwischen Flussmündung und Ozean, zu Nicole in eine Hütte am Strand. Der Senegal ist mächtig angeschwollen, führt braunen Schlamm mit sich. Wieder wird die Phantasie beflügelt von dem Denkmal an der Hydrobase, hier liegt der Ursprung der ›Aéropostale‹, auf dieser Landzunge startete Mermoz 1930 seinen ersten Postflug nach Brasilien. An der Mündung bin ich in Sand und Wind allein mit den wilden Hunden, die umeinander spielen. Sie haben sich über und neben mich gelegt, als ich im letzten Jahr hier im Sand geschlafen habe. Im Radio höre ich von schlimmen Überschwemmungen am Casamance, von Schießereien in Ziguinchor, es gab drei Tote.

      Vorbei am muslimischen Fischerfriedhof kommt man in das afrikanische Viertel der Fischer, die Frauen haben den Fang zerlegt, gesalzen und zum Trocknen auf Holzgestelle gelegt. Hier herrscht in zahllosen kleinen Moscheen Serigne Touba, die Bruderschaft der Mouriden. Das Leben auf der Insel im Fluss ist bestimmt von der französischen Kolonialarchitektur mit dem Charme des Verfalls, hier steht die erste Kathedrale auf afrikanischem Boden, hierher kamen die ersten Nonnen, hier finde ich auf Marmor am Eingangsportal so einfache und darum so schockierende Forderungen: Bevor du hier eintrittst – Va d’abord te réconcilier avec ton frère! – versöhne dich erst mit deinem Bruder! Celui qui manque trop du pain quotidien n’a plus aucun goût au pain de Jésus-Christ – Wer allzu sehr des täglichen Brots ermangelt, hat keinen Appetit mehr auf das Brot Christi!

      Auf der Nordhälfte der Insel, hinter den baumbestandenen Alleen mit den restaurierten belgischen und französischen Konsulaten, ist afrikanisches Leben in die Welt hinter den Fassaden eingezogen, in den Innenhöfen Lehmhütten und Brunnen, Tiere, die um die Wäsche streifen, spielende Kinder unter Bäumen. Ich ziehe weiter über den pont Faidherbe auf das gegenüberliegende Festland nach Sor, will unbedingt den alten Kolonialbahnhof sehen. Wie so oft frage ich mich, warum ich das alles hier mache, mein Leben lang gemacht habe. Ein Gedanke hat sich festgesetzt, vielleicht all das, weil mein ›Onkel Adi‹, Freund meiner geschiedenen Mutter, Afrika-, Indien- und Amazonasforscher, nicht mein ›Vater‹ hat werden können, ihm, der bedingungslosen Liebe des Kindes, habe ich immer folgen wollen, habe immer in der Fremde Väter gesucht. Der Bahnhof, lange schon stillgelegt, ist arg heruntergekommen, aber wunderschön, davor ein lebhafter Markt, die Händler haben Wartehalle und Schienengelände vereinnahmt, auf dem Bahnsteig brodelt das Leben der Familien, eine Rückeroberung. Der pont Faidherbe aber rostet gefährlich, über den Eisenträgern der Fußgängerspur liegen dünne alte Holzbretter, viele sind zerbrochen oder in den Fluss gefallen, so dass wir auf den Trägern über den Fluss balancieren müssen.

      Auf dem Rückweg spricht mich ein vielleicht 30-jähriger Mann an, er arbeitet als Fischer für einen patron, seine Eltern sind tot, als einziger Mann ist er für fünf Töchter und unverheiratete Schwestern verantwortlich. Das Vermögen für die Verheiratung der Schwestern aufzubringen ist für ihn eine untragbare Bürde, er verdient viel zu wenig. Sein Verdienst von 2.500 FCFA reicht gerade aus, dass er eine Zigarette am Tag für sich hat. Jetzt hat er Syphilis in fortgeschrittenem Stadium, fühlt sich immer schwächer, bräuchte Antibiotika für 20.000 FCFA, zeigt mir die Anweisung des Arztes. Diese Summe kann er nicht aufbringen, er muss arbeiten gehen, kann aber nicht mehr, sieht keine Chance auf Behandlung, da es weder Kranken- noch Sozialversicherung gibt, der patron hilft ihm nicht. Er bittet mich, die Kosten für die Behandlung zu übernehmen, ich schlage ihm vor, das Geld aus Deutschland schicken zu lassen, er solle seine Adresse aufschreiben und bei Nicole abgeben. Er hat es nicht getan.

      An der gare routière geht ein Wagen mit 7 Plätzen Richtung Rosso in Mauretanien, unterwegs liegen etliche verbeulte oder ausgebrannte Wagen. Die Frau neben mir hat 10 l Dickmilch mitgebracht, beugt sich mit ihrem voluminösen Bauch ächzend nach unten und säuft wie eine Kuh aus dem Eimer, wir alle müssen probieren. Die Straße wird immer schlechter, in Flussnähe schlingern wir durch den Matsch bis zur Grenzstation. Da drüben ist Mauretanien, der Ponton liegt in der Strömung fest, also springe ich zwei Meter tief mit dem Gepäck in die überfüllte Pirogue. Einige Meter vor dem anderen Ufer läuft das Boot auf, also das Gepäck über Kopf und bis zu den Rippen im Wasser durch den Fluss auf den Strand, wo mich der Grenzbeamte breitbeinig, die Arme in die ausladenden Hüften gestemmt, schon erwartet.

      Fortbewegungen III

       Auch hier eine neue Facette, Entwürfe eines Lebens auf diesem ›Traumpfad‹, ernsthafte, gut vorbereitete Entwürfe, die gelebt sein wollen in dem Drang, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, keine Lügen, ein Spiel der Splitter im Kaleidoskop, Gier nach 1001 Leben, auch das ist Überleben

      Passkontrolle, Einwanderersteuer, Eintragen in das große Buch der immigrants, dann die Devisenerklärung, mangels Formularen wird sie auf einen fettigen Zettel geschrieben. Eine alte Pappe wird auf den Sand gelegt, alle Männer der Umgebung bilden einen Kreis um den Zöllner und mich, und nun muss ich alle meine Zahlungsmittel ausbreiten. Der Zöllner hat die größte Mühe, die Summen zu addieren, die Männer stehen staunend, murmeln, das haben sie noch nicht gesehen. Billige Unterkunft