Samba tanzt der Fußballgott. Mirco Drewes

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Название Samba tanzt der Fußballgott
Автор произведения Mirco Drewes
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783864081644



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Die professionelle Trainergilde dürfte die Episoden mit dem Radiofritzen, als Coach aus dem hohlen Bauch heraus, skeptisch betrachten. Washington Rodrigues wurde durch diese persönliche Erfahrung eine gewisse Demut vor dem Beruf des Trainers zuteil: „In vierzig Jahren lernte ich nicht so viel wie in jenen acht Monaten. Ich sah die Spieler zum ersten Mal in einem anderen Licht, was sie die Woche über machen, wie sie leben. Ich musste einsehen, dass vieles, was ich früher gesagt oder geschrieben hatte, falsch war. Es tut mir wirklich leid, und heute bin ich mit Kritik an Trainern viel vorsichtiger.“ Immerhin, möchte man sagen, wenn auch der Trainerberuf leichten Schaden genommen haben mag, so wurde zumindest ein wilder Sportreporter gezügelt.

      Pilgergänge und das Blau der Jungfrau

      Die Kreativität, mit der Brasilianer alle Möglichkeiten ausloten, ihrem Verein zum Erfolg zu verhelfen, zeigt sich auch in den absurden Exzessen, die der Aberglaube hervorbringt. Im religiösen Synkretismus Brasiliens gehen der Katholizismus, die besonders in den letzten Jahren wachsenden evangelikalen Sekten, traditionelle Religionen wie Voodoo oder Candomblé und der „ganz normale“ Aberglauben tolle Bündnisse ein.

      Traditionell beten Katholiken bestimmte Heilige an, um Beistand bei konkreten Lebensproblemen zu erhalten. Im Gegenzug geloben die Gläubigen symbolische Bußetaten zu vollbringen. In einem Land, in dem der Fußball im Gefühl der Menschen vielleicht das zentrale Lebensproblem ist, welchem man mit der allergrößten Hingabe begegnet, mag der Pilgergang Didis, der mit Brasilien 1958 und 1962 Weltmeister wurde und bürgerlich Valdir Pereira hieß, nicht überraschen. Im Jahr 1957 gelobte Didi öffentlich, dass er zu Fuß vom Maracanã-Stadion zum Klubhaus Botafogos wandern würde, wenn Gott seinem Team die Meisterschaft schenken würde. Ein kräftiges „Amen“ und den erteilten Segen des Fußballgottes später durfte Didi tatsächlich zu seiner Pilgerschaft antreten. Womit er nicht gerechnet hatte, war, dass ihn 5.000 Fans auf seiner Wanderung begleiteten. Als er am Klubhaus ankam, trug er nichts mehr am Leib als die Unterhose. Unterwegs hatten sich die Fans tatkräftig um Souvenirs bemüht. Vor der Weltmeisterschaft 1958 in Schweden verzichtete Didi auf öffentliche Schwüre.

      Legendär ist der Wallfahrtsort Juazeiro do Norte im nordöstlichen Bundesstaat Ceará. Jedes Jahr pilgern zwei Millionen Menschen in die 250.000-Einwohner-Stadt. Die Legende des Ortes geht zurück auf das Jahr 1899, in welchem sich bei der Kommunion des legendären Priesters Cicero die Hostie im Mund einer Laienschwester in Blut verwandelt haben soll. Solch Wunderwerk lockt natürlich neben christlichen Pilgern auch den abergläubischen Fußballliebhaber an, der es für geraten hält, sich mit dem (Fußball-)Gott gut zu stellen.

      Mittlerweile weist die Kultstätte einen Devotionalienraum auf, in welchem sich Tausende Exvotos, kleine Opfergaben, für erbrachte Gunst von oben befinden. Fans, Spieler und Vereinsfunktionäre aller sportlichen Ebenen legen im Fußballtempel Trikots, Schuhe, Fotos, Haarbüschel, Totems und allen erdenklichen symbolischen Krimskrams ab, der dort gesammelt wird. Der riesige begehbare Devotionalienschrein trägt den Namen „Raum der Wunder“. Dem Abergläubischen beweist jede der Gaben selbstverständlich das Gelingen der Anbetung. Neben dem Raum der Wunder werden im „Nippesbasar“ die Kultgegenstände nach einer pietätsvollen Inkubationszeit wieder verhökert. Die ehemals profanen Gegenstände kommen mit geheiligter Aura wieder in den Umlauf.

      Von nicht weniger magischer Aura umgeben ist die Pilgerstätte Aparecida do Norte im Bundesstaat São Paulo. Deren Geschichte beginnt im Jahr 1717, als Fischer in einem Netz eine Terrakotta-Statuette der heiligen Jungfrau fanden. Der Erzählung nach füllte sich der kaum Wasser führende Fluss nach der Bergung der Aparecida („unverhofft Erschienene“) getauften Dame mit Fischen. Die heilige Unverhoffte wurde seit dem 19. Jahrhundert mit einem blauen Samtmantel behangen ausgestellt und für so zahlreiche Wunder verantwortlich gemacht, dass der stetig anschwellende Pilgerstrom im Jahr 1955 mit dem Bau der Basílica de Nossa Senhora Aparecida gleich die Errichtung des zweitgrößten katholischen Gotteshauses erforderlich machte.

      Die sich bald ergebende Verbindung dieser Heiligen zum Fußball mag dem rational denkenden und säkularisierten Europäer absurd erscheinen, für Brasilianer ist sie es keineswegs. Im WM-Endspiel 1958 hatte Brasilien gegen Gastgeber Schweden anzutreten, welcher wie Brasilien in Gelb antrat. Die abergläubischen Spieler der Seleção waren wegen der Tatsache, dass man plötzlich auf die blauen Ausweichtrikots zurückgreifen musste, schwer beunruhigt. Kurz vor dem Anpfiff stürmte der Leiter der brasilianischen Delegation, Paulo Machado de Carvalho, in die Kabine und erklärte den Spielern, dass das Blau im Gegenteil ein gutes Zeichen von oben sei, denn die Aparecida trage schließlich auch: Blau.

      In dem Moment, in welchem der Schlusspfiff den Sieg Brasiliens besiegelte, war auch die „unverhofft Erschienene“ als Nationalheilige in Sachen Fußball etabliert.

      Genau wie in Deutschland gelten auch in Brasilien die Torhüter als die Abergläubischsten aller Spieler. Im Unterschied zu den Gepflogenheiten hierzulande – Deutschland ist für seine grundsolide ausgebildeten Torwächter berühmt – erwartet man in Brasilien vom Torhüter nicht, dass er einen grundsoliden und sachlichen Job macht und keine Patzer begeht. Brasilianische Torhüter stehen vor der Alternative als Aussätzige oder Heilige angesehen und behandelt zu werden. Barbosa, der unglückliche Torhüter des verlorenen Finales 1950, wurde zeitlebens als Totengräber Brasiliens diskriminiert; hingegen wurde Claudio Taffarel, der Weltmeistertorhüter von 1994, nach dem gehaltenen Endspiel-Elfmeter des Italieners Daniele Massaro in mehreren Songs als „Schutzengel Sankt Taffarel mit den wundersamen Händen“ besungen und geehrt. Vor dieser zugespitzten Erwartungskonstellation mag es kaum Wunder nehmen, wenn brasilianische Torhüter einen ausgeprägten Wunderglauben entwickeln und einen besonders guten Draht zum Fußballgott aufzubauen trachten. Exemplarisch für diese besonders prekär lebende Fußballspezies Brasiliens stand der Tormann Darci, der stets einige Minuten vor Spielbeginn sein persönliches Ritual aufführen musste, um sich sicher zu fühlen: Er dribbelte mit dem Ball im Mittelkreis einmal rund um den Schiedsrichter, kniete anschließend zum Gebet nieder, drosch danach einige Bälle ins leere gegnerische Tor, um schließlich, zwischen die eigenen Pfosten zurückgekehrt, seine Torlinie mit dem Fuß nachzuzeichnen und das eigene Tor auratisch zu versiegeln. Danach durfte es losgehen.

      Botafogo und der magische Hund

      Es war für Darci gewiss wichtig, seinem Beruf in einem Umfeld nachgehen zu können, in dem derartige Marotten auf Verständnis stießen. Die Grenzen dessen, was selbst für einen abergläubischen Menschen noch nachvollziehbar ist, lotete in den 1940er- bis 1950er-Jahren Carlito Rocha aus. Jener Rocha war Präsident des Klubs Botafogo aus Rio de Janeiro, was bedeutete, dass sein persönlicher Glaube an Rituale qua Amtsautorität den gesamten Klub in Atem hielt.

      Als der Fahrer des Mannschaftsbusses einst in falscher Richtung in eine Einbahnstraße einbog und umkehren wollte, untersagte dies der Präsident persönlich umgehend: „Botafogo geht niemals rückwärts. Das bringt Unglück.“ Für die Spieler bedeutete dies, dass sie den Weg zum Stadion zu Fuß fortsetzen mussten. Sollten die Kicker beabsichtigt haben, auf dem Fußmarsch zum Stadion ihre Fußballschuhe einzulaufen, so hätten sie in ihren Tretern Zettel mit den Namen ihrer jeweiligen Gegenspieler vorgefunden. Der Präsident präparierte die Schuhe seiner Angestellten am Tag des Spiels dergestalt, dass das Herumtrampeln auf den kleinen, die Gegner verkörpernden, Voodoo-Zetteln deren Aura negativ beeinflussen sollte. Unterstützend wurden die Vorhänge im Botafogo-Klubhaus vor jedem Spiel zusammengeknotet, eine symbolische Fesselung des Gegners.

      Bei Auswärtsspielen verstreute der Präsident ein Kilo Zucker auf der Stadionmauer des Gegners. Die magische Wirkung des Zuckers lässt sich womöglich auf die frühere Sklavenarbeit der Afrobrasilianer in den Zuckerrohrplantagen zurückführen, die seit dem 17. Jahrhundert den Voodoo nach Brasilien gebracht hatten. Neben diesem Schadenszauber, den Präsident Rocha dem Gegner angedeihen ließ, führte er eine im Laufe der Zeit wachsende Zahl an Talismanen mit sich. Um diese beisammenhalten zu können, ließ sich der Präsident schließlich eine riesenhafte Sicherheitsnadel anfertigen, an der er sie nun gesammelt um den Hals tragen konnte. Der edlen Überlegenheit Botafogos angemessen wurde die im doppelten Sinn Sicherheit gebende Nadel aus Gold hergestellt.

      Die Spieler Botafogos waren selbst vor körperlichen Übergriffen ihres Vereinsvorsitzenden, natürlich im Dienste der gemeinsamen guten Sache, nicht sicher. Um zu verhindern,