Название | Samba tanzt der Fußballgott |
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Автор произведения | Mirco Drewes |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783864081644 |
Das Vermächtnis des Stadions verhalf dem zweiten Schwiegersohn des Bürgermeisters zur Nachfolge auf diesem Posten. José Vanderlei begegnet aufklärerisch denkenden Menschen auf deren Einwände, ein Stadionbau in einer verarmten Region sei doch sehr anrüchig, wenn nicht korruptionsverdächtig, auf ganz eigene und an einer womöglich zynischen Realität geschulten Art: „Okay, wir haben 75.000 Dollar ausgegeben. Ein anderer Bürgermeister hätte vielleicht nichts getan, und die 75.000 Dollar wären auch so einfach weg gewesen.“
José Vanderlei gewann seine Wahl übrigens mit dem Versprechen, dass Fassungsvermögen der Tribüne von 3.000 Plätzen (etwa ein Sitzplatz pro Einwohner) auf 10.000 Plätze zu erhöhen. Die drei vorhandenen Kassenhäuschen wurden bisher einmal benutzt, wegen der Armut der Bevölkerung erhebt der Amateurverein normalerweise keine Eintrittspreise.
Welch interessante Bauprojekte die brasilianische Liebe zum Fußball hervorbringen kann, zeigt ebenfalls eindrucksvoll das Stadion in der Stadt Macapá in dem zu 90 Prozent mit Urwald bedeckten Bundesstaat Amapá. Das 1990 eingeweihte Stadion wird „Zerão“ genannt, die „große Null“. Der Grund: Die Mittellinie verläuft genau über dem Äquator. Nach dem Münzwurf vor einem Spiel werden die Kapitäne vom Schiedsrichter gefragt, auf welcher Erdhalbkugel sie beginnen wollen. Eine Mannschaft beginnt auf der südlichen, die andere auf der nördlichen Hemisphäre.
Vor so viel Entschlossenheit zum Fußballwahnsinn erscheinen die nach dem Bau des Stadions zutage getretenen Mängel als Randerscheinungen. Den Bauherren war es bei der Errichtung ihres Prestigeobjekts weniger um solide Planung zu tun als um rasche Fertigstellung. So riss der erstbeste tropische Sturm, beileibe keine Seltenheit in diesen Breitengraden, das Dach des Stadions fort.
Heute ragen die acht Stützpfeiler aus Beton als nackte Säulen in den Himmel. Mit einer grundsätzlichen Sichtbehinderung im Stadion müssen die Besucher ohnehin leben: Die Flutlichtmasten stehen im Innenraum des Stadions direkt um das Spielfeld. Dass es für die ausführende Firma der erste Stadionbau war, erübrigt sich zu erwähnen.
Zwischen Sprecher- und Trainerkabine
Was den Dilettantismus authentisch macht, ist die dahinterstehende Motivation, die in der Sache selbst liegt. Frei von derartigen Hemmschuhen wie einer soliden Grundlage für das eigene Handeln lassen sich auch Selbstzweifel leichter beiseite wischen. Und wo Populismus auf ein empfängliches Publikum trifft, können die merkwürdigsten Wege eingeschlagen werden. Aus dieser Gemengelage lassen sich die Karrieren so mancher Rundfunkreporter Brasiliens erklären.
Das Radio hatte seit den 1950er-Jahren nicht unwesentlich zur Entwicklung des Fußballs zum unbezweifelbaren Nationalsport beigetragen. Für die nicht geringe Zahl an Analphabeten im Brasilien jener Zeit war die Radioübertragung die einzige Möglichkeit, über das Fußballgeschehen im riesigen Land auf dem Laufenden zu bleiben. Der journalistische Umgang mit dem Sport war von Anfang an eher auf leidenschaftliche Dramatisierung gepolt als auf nüchterne Berichterstattung.
Der Fußball in Brasilien sprach eine eigene Sprache. Noch heute klingen südamerikanische Fußballkommentatoren in europäischen Ohren wie Schamanen oder Derwische, wie enttäuschte Liebhaber oder ekstatische Enthusiasten. Das weltberühmte, opernhaft intonierte „Gol“, angemessen ausgeschrieben mit mindestens zehn „o“, wurde 1942 vom Reporter Rebelo Júnior erfunden und trat einen Siegeszug durch die südamerikanische Fußballwelt an. Júniors Kollege Raul Longas heulte bei jedem Tor Ewigkeiten wie eine Sirene ins Mikrofon. Dies hatte den einfachen Grund darin, dass der kurzsichtige Sportbeobachter von seinem Platz aus nie erkennen konnte, welcher Spieler den Treffer erzielt hatte. Aus der Not ein Markenzeichen machend heulte er solange infernalisch herum, bis ihm ein Mitarbeiter den Namen des Torschützen schriftlich anreichte. Den Rundfunkreportern lagen die Massen zu Füßen. Und die Journalisten, die sich als Sprachrohr der Fans verstanden, lebten ihre Leidenschaft frei von jeglicher Zurückhaltung aus.
Der beliebteste Sportreporter der 1940er-und 1950er-Jahre, Ary Barroso, komponierte nebenher äußerst erfolgreich Songs, u. a. für die populäre Sambasängerin Carmen Miranda, war Schriftsteller, Politiker und Fernsehstar. Als Komponist war er Anfang der 1940er-Jahre derart erfolgreich, dass Walt Disney ihm die musikalische Leitung einer Filmproduktion anbot. Mit der Begründung, „Was soll ich in Kalifornien, wo Flamengo nicht ist?“, lehnte er das lukrative Angebot ohne zu zögern ab. Die Liebe zu seinem Verein war das Einzige, das zählte. Diese Leidenschaft erkannte man auch daran, dass der musikalische Barroso Tore Flamengos, statt diese schnöde anzusagen, mit einer triumphalen Fanfare auf der Mundharmonika begleitete. Gegnerische Treffer hatten ein tonloses ausgenudeltes Gekrächze des Instruments zur Folge. Doch bemerkenswerter als seine originelle Performanz war, wie Barroso den Einflusskreis seines Berufszweigs vergrößerte: Nicht nur, dass er eine Übertragung eines Flamengo-Spiels nach einem Treffer für mehrere Minuten unterbrach, um aus seiner Kabine auf den Platz zu stürmen und mit den Spielern zu jubeln; Barroso erstritt eigenmächtig das Privileg des brasilianischen Reporters, jederzeit am Spielfeld Interviews führen zu dürfen.
An die Traditionen der extrovertierten und unberechenbaren Radioreporter anknüpfend etablierte sich bald die Radialista, eine Mischung aus Show und Sportübertragung, die dem Wunsch nach Spektakel perfekt entsprach und vielen ihrer Macher eine Karriere auch jenseits des Sports einbrachte. Der Populärste der Radialistas war gewiss Washington Rodrigues. Dass er kein Problem mit ungewöhnlichen Herausforderungen hatte, erkannte man daran, dass er vor wichtigen Spielen schon mal den Ball interviewte. Die Quadratur des Kreises gelang ihm schließlich, als er von der Radiotribüne, traditionell ein Ort der fußballerischen Besserwisserei, direkt auf die Trainerbank des Traditionsvereins Flamengo wechselte.
1995 ging es mit Flamengo sportlich bergab. Dessen Präsident, übrigens selbst ein ehemaliger Radialista, kam in seiner Not auf die populistische Idee, dem Flamengo-Fan und Radiokritiker Washington Rodrigues den Trainerposten anzubieten. Dieser sagte ohne zu zögern zu. Im Gespräch mit Alex Bellos bekundete er, zwar kein ausgewiesener Fachmann zu sein, aber mit der nötigen Chuzpe ausgestattet fügte er hinzu, dass jeder Brasilianer wisse, wie Fußball funktioniere.
Nach kurzer Zeit musste er jedoch feststellen, dass seine Kompetenzen wohl nicht ausreichten, um den Zampano zu geben, und so entschied er sich, im Herzen doch Journalist, seine Spieler zu interviewen. Rodrigues befragte seinen Kader nach den Gründen für den sportlichen Niedergang und stellte nach der Auswertung dieser Interviews einige Vorschläge vor, aus denen die Spieler die beste taktische Marschroute auswählen durften. „Fußballtaktik ist wie ein Büffet. Wenn da vierzig Gerichte vor dir stehen, probierst du vielleicht vier oder fünf. Du isst nicht alle vierzig.“
In den deutschen Profiligen schreibt der DFB verbindlich die Fußballlehrer-Lizenz für die Trainer vor. Man mag sich fragen, wozu diese Humorlosigkeit gut ist, wo es doch so einfach sein kann. Nörgelt im Fernsehen ein sogenannter Experte zu viel herum, setze man diesen einfach auf die Trainerbank. Soll er es doch besser machen. Nach diesem Prinzip der ungefragten Wortmeldung bewirbt sich unverdrossen Lothar Matthäus, der in Brasilien bekanntlich anderthalb Monate trainiert hat (wovon er freilich 30 Tage wegen Schiedsrichterbeleidigung gesperrt war), auf die meisten freien Trainerstühle.
Ein weiteres Problem in der Wahrnehmung des Radialistas stellte sich bald heraus: An seine Vogel-Perspektive von der Pressetribüne aus gewohnt, war Rodrigues nicht in der Lage, das Spiel seiner Mannschaft von der Seite aus zu lesen. Kurzerhand bat er den brasilianischen Verband, einen Fernseher neben seine Trainerbank stellen zu dürfen, um auf diesem die Live-Übertragung der Flamengo-Spiele, die drei Meter von ihm entfernt stattfanden, sehen zu können. Der Brasilianische Verband wand sich mit diesem Anliegen an die FIFA, die jedoch zu diesem merkwürdigem Antrag schlechterdings den eigenen Statuten keine rechtsverbindliche Anweisung entnehmen konnte. Achselzuckend bekam Rodrigues seinen Wunsch genehmigt und schaute fortan auf der Trainerbank die Spiele seiner Mannschaft auf einem kleinen Fernseher.
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