Samba tanzt der Fußballgott. Mirco Drewes

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Название Samba tanzt der Fußballgott
Автор произведения Mirco Drewes
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783864081644



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Plastikmarken in der Größe von Dominosteinen, die an Pokerchips erinnern. Die Chips sind in den Farben aller populären Fußballmannschaften zu haben, tragen Rückennummern oder Namen berühmter Spieler und bieten so der Fantasie allen Raum, den es braucht, um sich in die große Welt des Fußballs zu träumen. Die „Buttonistas“, wie die Anhänger des Spiels heißen, bewahren ihre Teams in Holzschachteln auf, die „Umkleidekabinen“ genannt werden. Auf Reisen zu Auswärtsspielen darf die medizinische Versorgung der Spieler nicht zu kurz kommen: Möbelpolitur, Reiniger, Wachs und Tücher werden zur Behandlung der Knöpfe mitgeführt.

      Ähnlich wie moderne Computer- oder Konsolenfußballspiele bietet Knopffußball den Spielern die Möglichkeit, Knopf-Alter-Egos an die Seite der großen Stars zu setzen. So spielte beispielsweise in Marcelo Coutinhos Wettkampfteam, nachempfunden dem FC Porto, auch dessen Frau Monica im rechten Mittelfeld. Auch Gandhi und Nelson Mandela sollen im Sturmzentrum zu Einsätzen gekommen sein. Der Verdacht liegt nahe, dass der Knopffußball mit der Zeit den modernen elektronischen Fußballspielen zum Opfer fallen könnte. Doch der Knopffußball scheint auf beste analoge Art zu trotzen und schlägt gar den Weg sportlicher Institutionalisierung ein. Nach Jahren regionaler Streitigkeiten über das Spielgerät und die Anzahl der Schnippser pro Mannschaft (Rio: größerer Tisch, drei Schnippser; São Paulo: kleinerer Tisch, zwölf Schnippser) veröffentlichte das Sportmagazin Placar „Die Zehn Gebote des Buttonistas“. Das erste Gebot lautet salomonisch: „Es gibt keine falschen Regeln, nur verschiedene Meinungen und Geschmäcker.“ Die Zeit des konstruktiven Miteinanders im Tischfußball, der wie der große Fußball seine Zeiten der regionalen Eifersüchteleien zu überstehen hatte, hatte begonnen. Der nationale Sportrat gab am 29. September 1988 bekannt, dass der Tischfußball wegen der weit verbreiteten Praxis und der Meisterschaften auf nationaler Ebene als Sport anerkannt werde. Da ein „Buttonista“ während eines Spiels angeblich dreieinhalb Kilometer laufe, war auch der Nachweis physischer Herausforderung erbracht. Mittlerweile haben große Fußballclubs wie Internacional Porto Alegre und Corinthians eigene Tischfußball-Abteilungen und der Knopffußball ist beliebter denn je.

      Brasilianische Ruhmeshallen

      Ein Außenseiterdasein fristet das von Alex Bellos beschriebene „Ökoball“, welches im Regenwald in der Stadt Macapá gespielt wird: Das pädagogisch sinnvolle Spiel sieht einen Fußballplatz mit Bäumen vor, denen unbedingter Respekt entgegenzubringen ist. Trifft ein Spieler einen der Bäume, wird er des Feldes verwiesen – und, noch nicht genug bestraft, muss der Herausgestellte zudem eine Limone lutschen.

      Es gibt wohl unzählige Abwandlungen des Spiels, die den jeweiligen Gegebenheiten fröhlich Rechnung tragen. Die brasilianische Kultur, deren beredter Ausdruck der Karneval ist, lebt von der Improvisation, Mischung und Travestie verschiedenster Einflüsse und Praktiken. Wo immer ein runder Gegenstand zu finden oder herzustellen ist – viele Indianerstämme produzieren eigene Fußbälle aus dem Harz der Kautschukbäume –, denken sich Brasilianer die merkwürdigsten Fußball-Spiele aus.

      Wesentlich bekannter als die unzähligen lokalen Fußballhybriden sind die dem Ursprungsspiel enger verwandten Varianten wie Futsal oder Beach Soccer, die von Brasilien ausgegangen sind und mittlerweile als global bekannte Spielarten gelten können.

      Futsal, ein Akronym für Futebol de Salão (Hallenfußball), ist ein Indoorsport mit zwei Teams à fünf Spielern. Mit einem schweren und sprungreduzierten Ball wird auf zwei kleine Tore gespielt, wobei es im Unterschied zum klassischen Fußball in der Halle keine Banden gibt. Die erste Idee zu diesem Sport geht auf den Uruguayer Juan Carlos Cerani zurück, der im Montevideo der 1930er-Jahre ein Fußballspiel auf einem Basketballplatz veranstaltete. Erstmals wurde als Spieluntergrund ein Kunststoffboden verwendet. In São Paulo wurde dieser Einfall in den 1950er-Jahren aufgegriffen und im Rahmen des CVJM-Sportprogramms zu einer eigenen Sportart weiterentwickelt.

      Um auf dem Hallenboden ein wildes Herumhüpfen des Fußballs zu unterdrücken, wurden die Bälle anfangs mit Sägemehl, Kork oder Pferdehaaren beschwert, weswegen der Sport den Spitznamen „Spiel mit dem schweren Ball“ erhielt. Bereits 1954 wurde der erste Futsal-Verband in Rio gegründet, bis Ende der 1950er-Jahre zogen diverse brasilianische Landesverbände nach. Die Reglements unterschieden sich anfänglich deutlich und brachten interessante Nuancen hervor. Diese reichten von einem Sprechverbot für die Spieler, über ein Lärmverbot für die Zuschauer, bis hin zu einem Verbot der Ballberührung, wenn gleichzeitig eine Hand des Spielers den Boden berührte. Nachdem sich zahlreiche Spieler, beim Versuch einen Sturz durch Abrollen zu kompensieren, die Schultern gebrochen hatten, nahm man die Regel zurück.

      1971 wurde der Internationale Verband für Hallenfußball (FIFUSA) in Brasilien gegründet und 1989 in den Weltfußballverband FIFA integriert. In Brasilien ist der Sport kaum weniger beliebt als der klassische Fußball, die einheitliche Profiliga floriert und mit Futsal lässt sich längst eine Menge Geld verdienen. Die brasilianischen Profis dominieren den Sport weltweit, fünf der sieben Futsal-Weltmeisterschaften wurden gewonnen.

      Die Übergänge zwischen dem Futsal und Fußball sind in Brasilien gerade im Jugendbereich fließend, sodass viele berühmte Fußballstars der Seleção ihre Grundausbildung im Futsal erhalten haben. Falcão, der wohl beste Futsalspieler aller Zeiten, beschreibt die Vorzüge des Sports, bei dem äußerste Körper- und Ballbeherrschung vonnöten sind, aus Sicht brasilianischer Ballverliebtheit: „Beim Futsal hat man immer den Ball am Fuß. Auf dem großen Fußballfeld muss man manchmal fünf Minuten auf ihn warten.“ Für einen waschechten Brasilianer ein untragbarer Zustand.

      Klar ist, dass der Futsal mit seiner Begünstigung individueller Ballbeherrschung und tänzerischen Geschicks alle Elemente bedient und fördert, die Brasilianer auch beim Fußball wertschätzen. Am Zuckerhut fragt niemand nach Taktik, Athletik und Disziplin! Und falls doch, so hört dem Langweiler niemand zu.

      Samba, Sonne, Strandfußball

      Über noch mehr brasilianisches Flair verfügt der Strandfußball. Die Strände der Copacabana sind ohne braungebrannte Strandkicker kaum vorstellbar. Samba, Sonne, Strand – diese Erlebnistrias scheint den brasilianischen Spielern, auch fern der Heimat, eingeschrieben zu sein.

      Wie so häufig wurde auch im Falle des Strandfußballs aus der Not, die erfinderisch macht, schließlich ein eigenes Markenzeichen. Zu Beginn der 1920er-Jahre hatte das Fußballfieber bereits weite Teile der Bevölkerung gepackt, doch eine Aufnahme in die Vereine stand größtenteils nur wohlhabenden und weißen Spielern offen. Das Anwachsen der Metropole Rio de Janeiro brachte ein zunehmendes Verschwinden innerstädtischer Freiflächen mit sich. Wo also sollten die ärmeren Fußballfreunde ihrem Vergnügen nachgehen? Die Zeit des Strandfußballs war gekommen. Dieser breitete sich so rasch aus, dass der Bürgermeister Rios ein Verbot in die Wege leiten wollte – das Einreichen einer Petition mit 50.000 Unterschriften ließ ihn rasch von diesem Vorhaben Abstand nehmen. Zwar waren die Vereinsstrukturen elitär und von kolonialem Rassismus geprägt, doch bereits zu jener Zeit ließ sich das Volk nicht um seinen Fußball betrügen. Mit der zunehmenden Etablierung des Fußballs schwang sich auch der Strandfußball zu neuen Höhen auf.

      In den 1950er- und 1960er-Jahren wimmelten Rios Strände von Fußballern, die elf gegen elf auf Sand um Ball, Sieg und Selbstverwirklichung rangen. Teams steckten ihre Strandabschnitte an der Ipanema und der Copacabana wie Claims ab und beanspruchten zu regelmäßigen Spielen ihr Territorium. Den Scouts der Vereine, die sich zu dieser Zeit Spielern aus allen Schichten geöffnet hatten, blieb das Treiben nicht verborgen. Der Strand wurde zum leicht anarchischen Laufsteg für zukünftige Profikarrieren. Mit der Zunahme des Strandfußballs, des Tourismus und der Bevölkerungszahl in der Metropole aufgrund der Arbeitsmigration nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es eng an den Stränden. Zwischen 1940 und 1960 hatte sich die Bevölkerungszahl Rios annähernd verdoppelt. Die räumliche Enge, der Kampf um die Plätze und das zunehmende Spektakel führten zu teils wilden Auseinandersetzungen an den Stränden. Die Folge waren Reglementierungen und Einschränkungen des spielerischen Wildwuchses. Anfang der 1960er-Jahre war Strandfußball erst ab 14 Uhr erlaubt, Plätze wurden ausgewiesen und die Ordnung überwacht.

      Doch Brasilien wäre nicht es selbst, wenn nicht auch diesem neuen Notstand durch Erfindungsreichtum begegnet worden wäre. So kamen zu dieser Zeit einige verscheuchte Strandfußballer auf die Idee, einfach auf die am Strand