Название | Samba tanzt der Fußballgott |
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Автор произведения | Mirco Drewes |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783864081644 |
Doch schien ein solches Spiel für die Brasilianer und ihre Liebe zu Spektakel und Mischformen aller Art allzu prädestiniert zu sein, um nicht dort eine Renaissance zu erfahren. Und tatsächlich: Nach gut dreißig Jahren in völliger Vergessenheit begannen Anfang der 1970er-Jahre in Rio de Janeiro plötzlich junge wohlhabende Großstädter sich in Gebrauchtwagen um einen gewaltigen Lederball zu balgen.
Die Frage, ob zuerst das Huhn oder das Ei dagewesen sei, lässt sich im Fall der brasilianischen Autoball-Ära eindeutig beantworten: Am Anfang war der Ball.
Nach einem wichtigen Sieg der brasilianischen Fußballnationalmannschaft hatte eine Firma aus São Paulo zur Ehrung der Spieler und als Werbegag einen riesigen Ball aus Büffelleder herstellen lassen. Einmal in der Welt musste mit diesem Ungetüm von Spielgerät doch irgendetwas anzufangen sein.
Nach einigen Jahren der Ratlosigkeit fand sich eine Gruppe von Leuten, die auf Pferdestärken setzten, wenn auch nur auf jeweils eine. In der Stadt Taubaté sollte eine Alternative zum Polo angeboten werden, die die fußballverrückten Brasilianer begeistern sollte: Pferdefußball hieß die Idee. Doch die Premiere misslang. O Globo schrieb: „Das Spiel hätte ein Publikumserfolg werden können, das Stadion war voll. Nur die Pferde waren vor dem runden Ungetüm zu Tode erschrocken. Eines wagte einen Tritt und brach sich sogleich ein Bein.“ Dass sich die beteiligten Akteure vor dem Spielgerät fürchteten und sich an diesem die Knochen brachen, machte den erwarteten neuen Trendsport bei aller Euphorie unmöglich.
Der Zuführung des riesenhaften Spielgeräts, zu dem es noch kein Spiel gab, zu seiner nachhaltigen Verwendung half der Zufall auf die Sprünge. Der Ball geriet in die Hände des Mannschaftsarztes des Fußballteams América. Jener Mário Tourinho, früheres Mitglied des Motorsportverbandes, fuhr in seinem Auto an der Copacabana entlang, als er plötzlich einen Fußball vom Strand kommend auf sein Auto zufliegen sah. Statt auszuweichen hielt Tourinho voll drauf und sah, justament getroffen von einem Geistesblitz, dem in hohem Bogen weit zurück „geschossenen“ Ball hinterher. Mehr Pferdestärken! Das war es.
Böse Zungen mochten behaupten, dass sich der Erfinder des Autoballs als Chirurg bloß neue Patienten zuführen wolle. Doch nicht nur Tierschützer dürften sich über das Substitut zum Pferdefußball gefreut haben. Tourinho selbst sah sich mit seiner Idee Autoball in bester hippokratischer Tradition: „In unserer heutigen Zeit, da der Alltagsstress bei so vielen Menschen immer mehr Neurosen hervorruft, ist Autoball keine schlechte Therapie.“
In der Halbzeit des Fußballspiels zwischen Flamengo und Madueira fand am 19. September 1970 das erste Autoballspiel auf einem Nebenplatz statt. Doch noch zog der neue Sport die Massen nicht an. Die klapprigen Gebrauchtwagen und das niedrige Spielniveau vergraulten anfangs viele Zuschauer. Mário Tourinho erinnerte sich der zwei unschlagbaren Komponenten, die zusammengenommen stets die Massen seiner Landsleute zu überzeugen wussten. Es musste ein publicityträchtiges Spektakel her und die Nähe zum Fußball, nicht nur über das ähnliche Reglement, ausgebaut werden. Also organisierte Tourinho 1971 eine Sperrung der Avenida Atlântica, der auf mehreren Kilometern entlang der Copacabana läuft, für ein Autoballspiel, das niemand ignorieren konnte. Die Fahrer hatten sich von Leihfirmen nagelneue Sportwagen geliehen und konnten so die Massen beeindrucken.
1973 war Autoball bereits als Massensport etabliert, die Fahrer fuhren unter den Flaggen der großen Fußballvereine Rios. Die erste Stadtmeisterschaft Rios sah Teams von Fluminense, Vasco, Flamengo und América vor. Die Autos waren in den Vereinsfarben lackiert, Nummern und Vereinsembleme schmückten die Türen. Sportreporter motivierte dies, die Spiele wie Fußballspiele zu kommentieren und weitere Rituale aus dem Fußball wurden übernommen: Einem Mannschaftssport entsprechend kamen unterschiedliche Fahrzeugtypen zum Einsatz, um ihre spezifischen Qualitäten einzubringen. Ein VW-Käfer war dank der gekrümmten Motorhaube in der Lage, hohe Bälle vor das gegnerische Tor zu „flanken“, wo Fahrzeuge mit höherem Dach, wenn man so will die „Dachballungeheuer“, diese ins Tor zu lenken versuchten. Fahrzeuge mit rechteckiger Motorhaube waren Spezialisten für präzise Pässe oder Standardsituationen.
Auch für das medizinische Wohl der Sportler wollte gesorgt sein. Es kamen zwar selten ernsthaft die Fahrer zu Schaden, dafür blieben umso häufiger „verletzte“ Autos auf dem Feld liegen. In diesem Fall eilten Mechaniker, die man in schönster Fußballmetaphorik „Masseure“ nannte, mit Werkzeug auf den Platz und behandelten die Patienten. Der berühmteste „Masseur“, ein Mechaniker namens Castro, bekam den Künstlernamen „Doktor“ verliehen, weil es diesem in zwanzig Minuten gelang, ein eben noch brennendes Auto wieder fahrtüchtig zu machen.
Ein lauter, dreckiger und chaotischer Spaß für alle großen Jungs der Strandmetropole war geboren. Im Autoball ließen sich wie in einem großen Kinderspiel die Triumphe der brasilianischen Fußballmannschaften und des Rennsports, den der Brasilianer Emerson Fittipaldi dominierte, nachspielen und -empfinden. Der frühere Autoball-Fahrer Ivan Sant‘Anna, im Brotberuf Finanzmakler, erinnerte sich im Gespräch mit Autor Alex Bellos: „Es war wirklich ein teurer Sport. Ich gab viel Geld aus. Pro Spiel etwa 3.000 Dollar. Für jedes Spiel musste man einen Wagen kaufen. Meistens alte Taxis, die wir für unsere Zwecke frisierten. Einige Leute leisteten sich sogar zwei oder drei Autos pro Spiel.“ Aus diesem Grund taugte Autoball verständlicherweise nicht zum aktiv ausgeübten Breitensport. Selbst die Heroen des motorisierten Ballsports konnten sich aus finanziellen Gründen kein Training erlauben. Bis zu 15.000 Zuschauer strömten dennoch zu den Spielen der tollkühnen Männer in ihren rasenden Kisten. Adrenalin, Benzin und eine gehörige Portion Testosteron machten den Sport derart attraktiv, dass sich selbst das US-Magazin Time des Autoball-Helden Walter Lacet exemplarisch annahm: „Walter Lacet verzichtet verächtlich auf den Sturzhelm; der Reißverschluss seines schwarzen Fliegeranzugs steht offen, sodass seine Brusthaare zu sehen sind, und so donnert er mit überdrehtem Machismo, der für den neuen Sport unverzichtbar zu sein scheint, über den Platz. Wenn der Ball zwischen zwei Autos festhängt, setzt Lacet bis zum äußersten Spielrand zurück und schießt von dort mit heulendem Motor auf das gegnerische Auto los. Wenn dessen Fahrer stur bleibt, ist es an den Mechanikern, mit Vorschlaghämmern die Wracks zu entwirren.“
Das Akquirieren von Plätzen stellte neben den Kosten für die Fahrzeuge ein weiteres Problem dar. Ebenso wie von den Fahrzeugen blieb von den Spielstätten häufig nicht viel übrig. Die Attraktivität des Sports für die Massen war jedoch unweigerlich mit dessen verschwenderisch-destruktivem Potenzial verbunden. Ein Dilemma. Ivan Sant’ Anna resümierte nach dem Ende der großen Zeit des Autoballs drastisch: „Die vier, fünf Jahre, in denen Autoball gespielt wurde, waren eine interessante Zeit. Wir hatten gute Publicity. Aber es hätte zu einem tödlichen Unfall kommen müssen. Mir war das immer klar, egal was passiert, Autoball würde beim Publikum nur ankommen, wenn es Tote gab.“
Neben den aus Sicht des Marketings bedauerlicherweise fehlenden Todesopfern war ein zweiter Grund hauptsächlich für das Aus des Sports verantwortlich: Die Ölkrise. 1974 verbot die brasilianische Regierung alle Arten von Motorsport. Autoball geriet in Vergessenheit. Bis es in Zeiten zunehmender Knappheit fossiler Brennstoffe von Stefan Raab für Deutschland wiederentdeckt wurde, wenn auch lediglich als Fernsehereignis, mit Sturzhelmen und zeitgemäß spritsparenden Fahrzeugen (beispielsweise: VW Fox mit Durchschnittsverbrauch zwischen 6 und 9 Litern auf 100 Kilometern). Wäre wohl nicht Walter Lacets Ding gewesen.
Knopfballduelle
Weiter zurück reichen die Anfänge einer anderen Promenadenmischung des Fußballs. Knopffußball heißt die an das deutsche Tipp-Kick erinnernde brasilianische Variante der Fußballimitation im Miniaturformat. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als auch der brasilianische Fußball noch in den Kinderschuhen steckte, waren es eben Kinder, die begannen, Fußballspiele mit Knöpfen spielerisch nachzuvollziehen. Mit jeweils elf Knöpfen wurde auf Tischen nach einem Miniaturball geschnippst, um diesen im gegnerischen Tor unterzubringen. Dieses Kinderspiel hat bis heute einen ungebrochenen Siegeszug in Brasilien angetreten.
Alex Bellos berichtet über das „Knopfbüro“ von Marcelo Coutinho. Dieses Fachgeschäft des Knopffußballs in Rio zieht Jungs und Männer