Название | Samba tanzt der Fußballgott |
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Автор произведения | Mirco Drewes |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783864081644 |
Die Wohlhabenderen unter den Strandkickern verließen hingegen das öffentliche Territorium Strand wieder und besannen sich auf die Exklusivität der Fußballanfangsjahre. Ihr Rückzug vom Strandfußball führte die Mittel- und Oberschicht zurück in die Stadtzentren. Zu jener Zeit wirtschaftlicher Prosperität und die durch den WM-Sieg 1958 angeheizte Fußballbegeisterung galt es in den höheren Schichten als enorm statusfördernd, sich in den Städten private kleine Rasenplätze anzulegen, um Sport und gesellschaftliche Begegnung zu verbinden. Wer über genügend Mittel verfügte, sich die aufwendig zu pflegende Rasenfläche im tropischen Klima leisten zu können, der empfing Geschäftspartner und bedeutende Persönlichkeiten zu Grillfesten, auf denen dem Bier und privaten Kick gefrönt wurde. Diese vorwiegend reinen Männergesellschaften stellten sozialen Zusammenhang sicher und waren Nährboden für allerlei Geschäftliches.
Der Strandfußball selbst war natürlich nie totzukriegen. Wo immer ein Ball ist, wird gespielt. Doch nach der wilden und freien Anfangszeit erlebte der Strandfußball seine Phase der Domestizierung und schließlich der Anpassung an die neuen Gesetze der Kommerzialisierung. Anfang der 1990er-Jahre wurde für das Fernsehen der „Beach Soccer“ erfunden, bei welchem jeweils fünf Spieler in drei Perioden à zwölf Minuten gegeneinander antreten. Seit 1998 ist Beach Soccer an der Spitze offiziell Profisport. Frühere brasilianische Nationalspieler wie Romário oder Zico verdienten sich nach ihrer Fußballkarriere ein paar Reals dazu und dienten als populäre Zugpferde der Vermarktung.
Traum und Wirklichkeit
Die brasilianische Variante des Tellerwäscher-Mythos ist der Fußballer, der vom Strand oder Bolzplatz weg verpflichtet wird und zu Ruhm und Reichtum gelangt. Von der Wirklichkeit ist er weit entfernt, zumindest, wenn man die Wirklichkeit an den Strukturen misst, die die riesige Masse armer Fußballer ausbeuten, und nicht an den sehr seltenen Ausnahmen.
Das gewaltige Reservoir an Fußballtalenten wurde und wird von den brasilianischen Vereinen weidlich genutzt und ausgenutzt, wobei aus der Not der meisten begabten Spieler Kapital geschlagen wird. Der heutige Traum vom Profifußball führt nicht mehr über den spielerischen Freizeitkick, sondern über die Peneiras, die Spielersichtungen der Vereine. An diesen zentral organisierten Fußball-Assessment-Centern nehmen jedes Jahr Tausende Jugendliche teil. Katrin Sturm und Carsten Bruder nennen in Zwischen Strand und Stadion die Zahl von 20.000 Teilnehmern pro Jahr allein bei den Sichtungen des FC São Paulo. Von diesen 20.000 Spielern werden etwa 90 Spieler im Durchschnitt in die Jugendmannschaften des Vereins aufgenommen. Aus dem Kreise dieser Auserwählten schaffen ca. zwei Prozent den Sprung in den Profikader. Die Spieler opfern diesem Traum die wichtigsten Jahre ihrer Jugend und bekommen in den Akademien der Vereine, in denen sie jahrelang untergebracht werden, zumeist keine Schulbildung. Schaffen Sie es nicht, stehen sie vor dem Nichts, und diejenigen, die es schaffen, geraten sehr häufig in die Hände von Beratern, die den Vereinen zuarbeiten und die mangelnde Bildung ihrer Mandanten weidlich zum eigenen Vorteil ausnutzen. Von dem brasilianischen Elend und dem Traum vom Profifußball nähren sich Vereine und eine ganze Wirtschaft drum herum prächtig.
Um diesem Missstand bei der Ausbeutung der Talente Einhalt zu gebieten, haben in den vergangenen Jahren vermehrt ehemalige Spieler die sogenannten Escolinhas gegründet. Das Problem an den privat betriebenen Talentschulen ist jedoch, dass diese, abgesehen von einigen Förderstipendien für besonders talentierte arme Jugendliche, kostenpflichtig sind, wodurch sie in der Regel ausschließlich von Mittel- oder Oberschichtkindern besucht werden können.
Auch muss erwähnt werden, dass viele Spieler in den letzten Jahren, unter ihnen Weltstars wie Kaká, eng mit den zahlreichen evangelikalen Sekten Brasiliens in Kontakt gekommen sind und niemand beurteilen kann, welchen Formen der Indoktrination junge Fußballschüler in den Escolinhas ausgesetzt sind.
In seiner dreijährigen Zeit als außerordentlicher Sportminister legte Pelé ein Programm für öffentliche Fußballschulen auf, die Kindern aus allen Schichten offen stehen. Nicht nur Karriereförderung und karitative Motive waren ausschlaggebend: Die wachsende Jugendkriminalität in den Ballungsräumen machte politisches Engagement nötig. Der Erfolg nicht nur im Hinblick auf die Entwicklung der Jugendkriminalität gibt diesen Projekten recht. Professor Mauricio Murad von der Universität des Bundesstaates Rio de Janeiro stellt im Hinblick auf die soziale Bedeutung des Fußballs für sein Land fest: „Mithilfe des Fußballs als einem sehr wichtigen kollektiven Ritual erhalten wir Zugang zu den grundlegenden Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens und der brasilianischen Geschichte. Fußball ist in Brasilien mehr als ein Massensport und unser Sport Nummer eins. Fußball ist eine Metapher des gesellschaftlichen Lebens in Brasilien, eine Zusammenfassung seiner wichtigsten Charakteristika“; und zieht für die öffentlichen Fußballprogramme das positive Fazit: „Sogar die UNO unterstützt und finanziert zusammen mit der FIFA seit einigen Jahren Zehntausende von Fußballsportzentren, deren Konzept in der Zusammenführung und gegenseitigen Beeinflussung der Kulturen besteht. Über ihre Funktion als Freizeitzentren hinaus dienen sie Kindern und Heranwachsenden auch als Treffpunkt, als Ort des Gedankenaustauschs und der Solidarität, erst recht, wenn sie in einem schwierigen sozialen Umfeld leben. Vom Elitären und Exklusiven zum Populären und Demokratischen, das ist die wesentliche historische Kurve des Fußballs in Brasilien.“
Wenn sich das Geschäft mit dem Fußball einem weltweiten Umsatzvolumen von jährlich 300 Milliarden Dollar annähert, sollte dessen sozial-pädagogische Bedeutung nicht nur Thema für Sonntagsreden sein, sondern mit entsprechenden Mitteln gefördert werden. In all seiner Widersprüchlichkeit, Schönheit, Grausamkeit und Komplexität bleibt der Fußball in erster Linie ein kultureller Ausdruck vieler Gesellschaften in der ganzen Welt.
Brot oder Spiele?
Dass der Ausdruck der die Gesellschaft prägenden Gegensätze und Paradoxien in Brasilien besonders deutlich ausfällt, zeigt auch die Ausstattung mit ansprechenden Fußballstadien, die sich unzählige ansonsten sehr arme Gemeinden leisten – und dies nicht selten nicht einmal gegen den Willen der Einwohner. Vorreiter des fast massenweisen Baus von Fußballstadien war während der 1970er-Jahre die Militärregierung, die mit prachtvollen Fußballarenen Symbole des Nationalstolzes errichten wollte. 1978 verfügte Brasilien laut dem Guiness-Buch der Rekorde über 27 Stadien mit einem Fassungsvermögen von mindestens 45.000 Zuschauern und fünf Stadien, die mehr als 100.000 Zuschauer aufnehmen konnten. Die Mentalität des „Hast du was, bist du was“ wurde und wird bis heute auch von kleinen und wirtschaftlich marginalen Gemeinden gelebt.
Alex Bellos berichtet über die kleine Stadt Brejinho im staubtrockenen und glutheißen Nordosten des Landes. 1993 war die Gegend von einer anhaltenden Dürreperiode betroffen, deren Folgen für die ärmere Bevölkerung Ausmaße einer humanitären Katastrophe hätte annehmen können. Öffentlich organisierte Notfallhilfe mit Lebensmittellieferungen konnte das Schlimmste verhindern. Die allgemeine Not in der Region führte bei den lokalen Politikern zu der Einsicht, dass es vor allem an einem mangele: einer schmucken Fußballarena!
Im Jahr der Dürrekatastrophe ließ Bürgermeister João Pedro die Arbeiten am Bau eines Stadions für 10.000 Zuschauer beginnen. Der Ort Brejinho kam zu jener Zeit, die ländliche Umgebung bereits mitgerechnet, übrigens auf 4.000 Einwohner.
Der Bürgermeister, ganz brasilianischer Fußballvisionär, begründete seine kurios bis wahnsinnig anmutende Maßnahme gleichermaßen mit Nachhaltigkeit wie auch mit dem Willen seiner Einwohner: „Ich habe nicht bloß an die Gegenwart gedacht. Ich machte etwas, das für lange Zeit bleiben wird. Die Menschen hier wollten mehr als alles andere ein Stadion. Ich versprach ihnen, dass ich es für sie bauen werde. Und ich hielt mein Versprechen.“ Das Stadion benannte João Pedro nach seinem verstorbenen Schwiegersohn, Dr. Antônio Alves de Lima.
Das Bemerkenswerte: Diese Geschichte ist nicht bloß ein Beispiel politischen Größenwahns oder reiner Anmaßung, denn die Menschen Brejinhos sind ihrem Bürgermeister dankbar. Sie tauften das Stadion eigenmächtig und liebevoll Tonhão (= der große Antonio) und verzichten zugunsten fußballerischen