Название | Samba tanzt der Fußballgott |
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Автор произведения | Mirco Drewes |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783864081644 |
1970 schlug die Stunde Vater Santanas. Seit dem Titelgewinn 1958 hatte Vasco die Meisterschaft nicht mehr gewonnen. Dieser Umstand wurde allgemein als Comeback des verwunschenen Froschs gewertet. Vater Santana trommelte, als die Saison erneut zu kippen drohte, etwa zwei Dutzend Kumpel, allesamt Dämonenbeschwörer wie er, zusammen, um in einer nächtlichen Zeremonie die Sache endgültig zu Ende zu führen. Die Candomblé-Kombo ließ diverse Dämonen Besitz von ihren Körpern ergreifen und streute Muscheln auf das Spielfeld, aus denen sie die Handlungsanweisungen der Dämonen entnahmen. Die launischen Götter forderten zur Neutralisierung des Fluches allerhand, beispielsweise musste ein großes Holzkreuz hinter einem Tor begraben werden. Solcherart gefordert hatten Vater Santana und seine Freunde Arbeit bis fünf Uhr morgens.
Was der skeptische Westeuropäer für eine alberne Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Esoterik-Freaks halten mag, wird in Brasilien anders gewertet. Vasco gewann die Meisterschaft und Vater Santana wurde fortan von den Anhängern des Klubs als Superstar behandelt und in jedem Spiel mit Sprechchören gefeiert. Seine Arbeit wurde erst in den Neunzigerjahren etwas eingeschränkt, als der Gesetzgeber die rituelle Opferung von Tieren für Vascos Erfolg verbot. Der Erfolg heiligt eben doch nicht mehr alle Mittel.
Das brasilianische Verständnis des Begriffs „Fußballmärchen“ ist zweifelsohne komplexer und reicher an Schattenseiten, als es hierzulande der Fall ist. Denn wie in den alten Märchen ist der brasilianische Fußballkosmos bevölkert von blutigen Legenden, absurden Verwünschungen und schutzbringenden Talismanen. Im Vergleich zu unsichtbaren Fröschen, magischen Mischlingshunden und Voodoo-Zauber erscheint eine böse Stiefmutter als recht banales Problem.
Vom britischen Societyevent zum brasilianischen Volkssport
„Mein Uniabschluss!“, Fußballpionier Charles Miller, bei seiner Landung in Brasilien zwei Fußbälle unter den Armen tragend, auf die Frage seines Vaters: „Was ist das, Charles?“
„Es erfüllt die Beteiligten mit großer Befriedigung oder versetzt sie in große Niedergeschlagenheit, wenn diese Art von gelblicher Blase ein Rechteck passiert, das aus Holzstangen zusammengesetzt ist.“ Ein Journalist berichtet über ein Fußballspiel im Jahre 1896
Die Rolle des Fußballs für das kulturelle Selbstverständnis Brasiliens kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Nicht wenige Wissenschaftler und Schriftsteller beschreiben das im Kern recht simple Spiel zwischen den beiden Toren als den mythischen Ort, an dem sich das brasilianische Volk als eine Nation zu fühlen begann und bis heute fühlt. Darf England zweifelsfrei als das Mutterland des Fußballs gelten, so halten sich doch die Brasilianer zugute, dass dieses Spiel erst durch ihre Interpretation zu sich selbst gekommen sei. Als Sport, als Ausdruck eines Lebensgefühls und als wahrhafte, praktizierte Kunst. Der Weg zu diesem Verständnis des Spiels als ureigene brasilianische Angelegenheit und Erfahrungsraum soziokultureller Identität ist jedoch ein langer gewesen – und durchaus steinig.
Wie so viele Geschichten des südamerikanischen Kontinents ist auch die Geschichte des Futebol eine solche des Kolonialismus – und der kreativen Aneignung importierter Kulturformen der Herrschenden durch die ehemals unterdrückten Massen. Die erste bekannte Ausübung des Sports datiert auf das Jahr 1878, als britische Seeleute vor dem Palast der Prinzessin Isabell in Rio kickten. Kein Mensch wusste, was die Männer dort trieben, und ihren Ball nahmen sie auch wieder mit. Die eigentliche Geschichte beginnt etwas später – und zwar mit zwei Fußbällen.
1894 lief ein gewisser Charles William Miller mit dem Schiff in den Hafen von São Paulo ein. Der junge Mann, Sohn schottischer Einwanderer, kehrte kaum 20 Jahre alt, von seinem zehnjährigen Schulaufenthalt in England zurück. Dessen Vater, John Miller, war als Eisenbahningenieur dem Lockruf des schwarzen Goldes nach Brasilien gefolgt, wie viele Immigranten seiner Zeit. Miller senior arbeitete an dem Ausbau des Schienennetzes in Brasilien. Die Hafenstadt Santos sollte mit den Kaffeeplantagen im Inland des Staates São Paulo verbunden werden, um das lukrative Geschäft mit dem anregenden Heißgetränk zu befördern. Den eigenen Spross hatte der schottische Brasilianer einer soliden Schulbildung wegen im Alter von zehn Jahren gen Hampshire verschifft, wo dieser im Internat lebte und erfolgreich die Schulbank drückte. Besonders sportlich tat sich der junge Student hervor und übte die angesehenste Sportart des Commonwealth, Kricket, mit ebensolcher Bravour aus, wie die in England beliebte und anderswo noch weitgehend unbekannte junge Sportart Fußball.
Als John Miller seinen Sohn im Hafen São Paulos in Empfang nahm, stellte er zu seiner Überraschung fest, dass sein Sohn in jeder Hand zwei große Lederbälle trug. Verwundert stellte er den Filius zur Rede, was dies zu bedeuten habe. „Das ist mein Uniabschluss“, antwortete Charles gelassen, „dein Sohn hat die Fußballprüfung bestanden.“ In der Tat hatte sich Charles Miller in dem an den Universitäten beliebten Sport, der durch die Gründung der Football League 1888 bereits ein gut organisierter Amateursport geworden war, derart hervorgetan, dass er als Linksaußen für St. Mary’s spielte, Vorläufer des FC Southampton.
Jene historisch so wirkmächtigen Utensilien, es ist post festum nicht vermessen, das Bild eines eingeschleppten Virus zu beschwören, landeten jedoch nach Millers Ankunft zunächst im Schrank. Die britische Gemeinde São Paulos befand sich in der Kricket-Saison, wer hätte da Notiz von dieser außerhalb der britischen Inseln kaum bekannten Sportart genommen …
Nach dem Ende der Kricket-Saison begann Charles Miller die ersten Fußballspiele unter Bekannten zu organisieren. Die erste nach Regeln geführte Fußballbegegnung auf brasilianischem Boden fand zwischen britischen Angestellten der Eisenbahngesellschaft und der Gasverwaltung statt. Die Bühne jener legendären Stunde Null des brasilianischen Fußballs bildete eine Weide, die den Maultieren, die die Straßenbahnen São Paulos zogen, ansonsten zum Grasen diente. Charles Miller erinnerte sich 50 Jahre später an die positive Resonanz der Spieler dieses ersten regelrechten Kicks Brasiliens: „Das allgemeine Gefühl war damals: Was für ein großartiger Zeitvertreib, was für ein nettes kleines Spielchen.“
350 Kilometer weiter nördlich sollte ein weiterer Anglo-Brasilianer einige Jahre später parallel an der Etablierung dieses neuen Ballspiels arbeiten. Oscar Cox kehrte 1901 von seinem Studium in Lausanne zurück und führte einen weiteren Fußball in das Riesenreich ein. Bei dem von ihm arrangierten Spiel zwischen Mitgliedern des Kricket- und Leichtathletikverbandes von Rio de Janeiro und jungen Männern aus der Oberschicht bildete sich erstmals so etwas wie eine Fan-Kulisse: Der Vater und die Schwester eines Spielers, zwei Freunde und eine zufällig vorbeischauende Tennis-Mannschaft verfolgten das Aufeinandertreffen. Waren die Anfänge auch bescheiden, so trat der Fußball doch in atemberaubender Geschwindigkeit seinen Siegeszug an.
Anfangs konnte der Fußball noch nicht als brasilianischer Sport gelten. Erst Jahre später wurde der Sport erstmals Brasilianern zugänglich, wenn auch vorerst nur Mitgliedern der Oberschicht: 1898 wurde die College-Mannschaft Mackenzie in São Paulo gegründet, als Spielgerät diente ein aus den USA mitgebrachter Basketball eines Sportlehrers. Ein Jahr später fand das erste Vereinsmatch statt: Mackenzie wurde durch die Mannschaft deutscher Auswanderer, Germania, gegründet durch Hans Nobiling, der als Vereinsfarben gleich diejenigen des HSV mitbrachte, herausgefordert. Auch das ernüchternde Ergebnis von 0:0 konnte das aufblühende Interesse an dem neuartigen Sport nicht stoppen.
1902 wurde die erste Meisterschaft Brasiliens in São Paulo ausgetragen: Das siegreiche Team, der São Paulo Athletic Club, wurde von Kapitän und Torjäger Charles Miller angeführt und bestand aus elf Engländern. Bereits 1904 berichtete Miller brieflich über ein Spiel unter Jugendlichen, zu dem er als Schiedsrichter gebeten wurde: „In jeder Mannschaft waren 20 von ihnen, sie wollten es so. Ich dachte natürlich, dass das Ganze ein wüstes Durcheinander werden würde, aber ich sah, dass ich im Irrtum war ... zu dieser Veranstaltung kamen 1.500 Leute.“ Begeistert