Eine wie wir. Dana Mele

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Название Eine wie wir
Автор произведения Dana Mele
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783038801214



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Moment der Ruhe und nehme den Duft ihrer Haare wahr – ein Augenblick in einem anderen Universum, wo ich ein guter Mensch bin und Brie und ich zusammen sind.

      Dann zwinge ich mich zu einer Frage. »Hast du versucht, Justine anzurufen?«

      Sie holt ihr Handy aus der Tasche und wählt, während sie mir antwortet. »Sie geht nicht ran. Sie schläft samstags immer lange.«

      Justine und Brie sind ein Paar. Brie und ich gehen grundsätzlich nicht mit Bates-Schülerinnen aus, deshalb landen wir meistens bei den Schülern von der Easterly, der hiesigen staatlichen Highschool. Ich habe mich kürzlich von meinem Easterly-Freund getrennt, dem »überaus Untreuen« Spencer Morrow. Tai hat sich den Namen für ihn ausgedacht, nachdem wir erfahren hatten, dass er fremdgegangen war, und wir leidenschaftlich über ihn herzogen. Aus irgendeinem Grund fand ich das zum Totlachen und es wurde sein Spitzname.

      Ich höre eine schwache, raue Morgenstimme am anderen Ende der Leitung und Bries Gesicht hellt sich auf. Sie drückt mich weg und das Zimmer kommt mir plötzlich kälter und leerer vor, als sie aufsteht, sich ihren Kaffee nimmt und auf den Flur hinauseilt. Ich wünschte, Justine würde samstags noch länger schlafen. Ich wünschte, sie würde das ganze Wochenende schlafen. Ich bahne mir einen Weg zum Fenster, wobei ich aufpasse, nicht über die Landminen aus Klamotten und Lehrbüchern und Trainingssachen zu stolpern. Waschtag ist erst morgen.

      Draußen wimmelt es von Menschen wie an einem Einzugstag, aber das sind nicht nur Schülerinnen und ihre Familien. Es stehen eine Reihe TV-Übertragungswagen am Straßenrand, davor hasten Frauen mit Clipboards ungeduldig umher und erteilen großen Kerlen Befehle, die Kameras um ihren Oberkörper geschnallt haben. Da sind auch Dutzende Leute mit den gleichen hellblauen T-Shirts, auf denen ein Logo abgebildet ist, das aussieht wie ein Unendlichkeitssymbol aus zwei verbundenen Herzen. Und überall drängen sich verwahrloste, obdachlos wirkende Städter mit trüben Blicken. Einige von ihnen weinen sogar. Es herrscht das totale Chaos. Die T-Shirt-Leute haben einen Tisch aufgestellt und bieten Kaffee und Bagels an. Vielleicht sollte ich dorthin gehen anstatt in die Mensa, wo ich bei diesem Gewühl wahrscheinlich sowieso nie ankomme.

      Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, renne ich die Treppe hinunter und hoffe, dass ich nicht auf Jessicas Familie stoße, die bestimmt ihr Zimmer ausräumt. An der Vordertür treffe ich auf Jenny, die dort Wache steht, und lächle ihr kurz zu.

      »Konntest du schlafen?«, frage ich.

      Sie schüttelt den Kopf. »Pass auf dich auf, Kay.«

      »Möchtest du einen Kaffee oder so?«

      Sie lächelt schwach. »Das wäre toll.«

      Ich hüpfe zum Tisch, wo die Leute in den blauen T-Shirts Kaffee ausschenken und Bagels verteilen, und greife nach zwei leeren Bechern. Ich will sie gerade füllen, als mir ein Typ hinter dem Tisch die Becher aus der Hand reißt. Ich starre ihn erschrocken an. Ich kenne sein Gesicht, aber nicht seinen Namen. Er geht auf die Easterly wie Spencer und Justine und ist regelmäßig auf ihren Cast-Partys. Weil Justine die Hauptrolle in den meisten Theaterstücken spielt, habe ich ihn ziemlich oft gesehen, aber nie auf der Bühne. Wahrscheinlich ist er für die Technik zuständig.

      Sleeve-Tattoos bedecken seine nackten, muskulösen Arme vom Handgelenk bis zu den Ellbogen. Seine Unterlippe ist gepierct und seine lockigen, dunklen Haare fallen ihm über die Augen, als wäre er gerade aufgestanden. In der hautengen Jeans und dem zerrissenen schwarzen Sweater sieht er wie ein abgewrackter Rockstar aus, was die Koks-Schniefnase und die blutunterlaufenen Augen noch verstärken. Ich bemerke das zusammengeknüllte Papiertaschentuch in seiner Hand und frage mich, ob er nicht doch eher geweint hat, als sich in aller Frühe an einem Samstagmorgen ein paar Lines zu ziehen.

      Doch meine vorübergehende Sympathie löst sich augenblicklich in Luft auf, als er den Mund aufmacht.

      »Jetzt mach dich vom Acker.«

      »Tut mir leid, hätte ich dafür bezahlen sollen?«

      Er funkelt mich nur böse an.

      Dieser Typ ist echt asozial, ein kompletter Spinner, auch wenn er ohne seine »Gequälter Künstler«-Ausstrahlung und sein selbstgefälliges Auftreten ziemlich heiß sein könnte.

      »Der ist nicht für dich«, sagt er schließlich.

      Ich schaue mich verwirrt um. »Für wen denn dann?«

      Er deutet wortlos auf das Gedränge.

      »Was?«

      Er seufzt und seine dunklen Augen verengen sich, dann beugt er sich vor und flüstert verlegen: »Wir sind wegen Jessicas Leuten hier, den Obdachlosen.«

      »Oh …« Ich richte mich auf. »Ich dachte, es geht um die Menschenmenge.«

      »Ich meine die Menschenmenge.«

      Ich blicke mich noch einmal um und mir wird klar, dass er recht hat. Die Leute, die den Parkplatz bevölkern, sehen nicht nur obdachlos aus, sie sind obdachlos. Die meisten hier sind wahrscheinlich aus Obdachlosenheimen.

      Ich drehe mich wieder zum Sleeve-Tattoo-Typ um. »Warum?«

      »Sie trauern um eine verlorene Freundin. Im Gegensatz zu anderen.« Er schnipst mit den Fingern. »Nun hau schon ab.«

      Ich mustere die Kaffeebecher, die er mir weggenommen hat, und schaue dann zu Jenny hinüber. »Kann ich wenigstens einen haben?«

      Er sieht mich verächtlich an. »Nein, kannst du nicht. Geh zu Starbucks.«

      »Das ist ein Fünf-Meilen-Fußmarsch. Und der Kaffee ist nicht für mich.« Ich zeige auf Jenny. »Das ist Officer Jenny Biggs. Sie hatte Dienst, als die Leiche gefunden wurde, und hat seitdem nicht geschlafen. Kannst du dir vorstellen, so lange wach zu sein, nachdem ein Mädchen gestorben ist, das du geschworen hast zu beschützen?«

      Er seufzt, gießt Kaffee ein und reicht mir den Becher. »Na gut. Aber wenn ich dich davon trinken sehe, setze ich dich auf die schwarze Liste.«

      Ich verdrehe die Augen. »Von deinem Obdachlosenheim?«

      »Das Glück kann sich schnell wenden, Kay Donovan.«

      »Okay, Hank.«

      Er wirkt irritiert. »Mein Name ist Greg.«

      Ich zwinkere. »Gut zu wissen. Und zieh deine Ärmel runter, es ist eiskalt.«

      Ich schlängele mich durch die Menge und bringe Jenny den Kaffee, die ihn wie Schnaps in einem Zug runterkippt.

      »Ich hoffe, der Fall wird schnell gelöst, Kleine.« Sie wirft mir ein aufmunterndes Lächeln zu, sieht mir dabei aber nicht in die Augen, was mich ein wenig verunsichert. Ich bemerke, wie sie ihr Handy gegen den Oberschenkel drückt, und frage mich, ob sie etwas Neues erfahren hat, während ich mich mit Greg unterhalten habe.

      »Sieht es denn danach aus?«, frage ich, obwohl ich weiß, dass sie nicht darauf antworten wird.

      Sie zuckt mit den Schultern und deutet auf das Wohnheim. »Danke für den Kaffee.«

      Ich gehe zurück in mein Zimmer, verschlinge ein paar Energieriegel und einen Vitamindrink, dann öffne ich meinen Laptop und googele nach den neuesten Nachrichten. Ich erfahre, dass Jessicas Familie aus der Gegend kommt und dass Jessica eine gemeinnützige Organisation gegründet hat, die Obdachlosen hilft, einen Job zu finden, und ihnen über ein von Jessica entwickeltes Online-Lernprogramm einen Computer-Grundkurs ermöglicht. Ziemlich beeindruckend für eine Highschoolschülerin, selbst an der Bates. Ansonsten finde ich nicht viel. In den Artikeln steht, dass sie kurz nach Mitternacht im See gefunden wurde, die Todesursache aber noch nicht geklärt ist. Ich lese noch ein paar weitere Beiträge. Nirgendwo werden ihre Handgelenke erwähnt.

      Außerdem ist in keinem der Artikel von einer mutmaßlichen Fremdeinwirkung die Rede, nur in einem steht, dass ihr Tod untersucht wird. Ich werfe einen Blick auf die verbliebenen Spieltermine, die auf meinem Kalender eingekreist sind. Die Uhr tickt. Jedes Datum ist ungeheuer wichtig und es gibt keinen Grund davon auszugehen, dass die Ermittlungen rechtzeitig abgeschlossen sind, um die Saison fortzusetzen, damit ich von den Scouts