Eine wie wir. Dana Mele

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Название Eine wie wir
Автор произведения Dana Mele
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783038801214



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Kopf weit genug zu heben, um den Anblick der Leiche noch einmal ertragen zu müssen. »Ich hab sie schon mal gesehen. Sie geht hier zur Schule.« Gedankenverloren dreht sie ihre seidigen schwarzen Haare zusammen und lässt sie dann über die perfekte Kopie des Ballkleides von Emma Watson in Die Schöne und das Biest fallen.

      »Jetzt nicht mehr«, sagt Tai.

      »Nicht witzig.« Brie funkelt sie böse an, aber früher oder später musste jemand etwas gegen die angespannte Stimmung tun. Es bringt mich wieder ein bisschen zu mir. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, wie sich die Dicke der Eiswände verdoppelt und verdreifacht, bis kein Platz mehr ist für die Sirenen in meinem Kopf, kein Platz mehr für mein Herz, um in einem völlig chaotischen Rhythmus zu klopfen.

      Ich stehe jetzt aufrechter da und mustere Maddys Kostüm – Rotkäppchen mit einem skandalös kurzen Kleid und einem warmen Umhang.

      »Kann ich mir deinen Umhang borgen?« Ich strecke einen Finger aus, sie schiebt den Umhang von ihren blassen, knochigen Schultern und reicht ihn mir. Ich fühle mich nur ein bisschen schlecht dabei. Es ist kalt und ich bin ein Jahr älter. Irgendwann ist sie an der Reihe.

      Eine heulende Sirene erfüllt die Luft und rot-blau blinkende Lichter rasen über den Campus auf uns zu.

      »Das ging schnell«, murmele ich.

      »Klein hat wahrscheinlich beschlossen, auch die Cops zu informieren«, sagt Brie.

      Cori taucht aus der Dunkelheit auf. Sie umklammert eine Flasche Champagner, ihre katzenartigen grünen Augen leuchten förmlich im dämmrigen Licht. »Ich hätte Klein anrufen können. Aber niemand hat gefragt.« Cori lässt nie eine Gelegenheit aus, die Verbindung ihrer Familie zur Schulleiterin zu erwähnen.

      Maddy wärmt sich mit ihren Armen. »Tut mir leid. Ich habe nicht nachgedacht.«

      »Typisch Notorious«, sagt Tai und schüttelt den Kopf.

      Maddy starrt sie wütend an.

      »Ist doch egal. Sie wird auch bald hier sein.« Brie legt einen Arm um Maddy. Ihr Bademantel sieht dick und weich aus und Maddy schmiegt ihre Wange dagegen. Ich verenge die Augen zu Schlitzen und will ihr den Umhang zurückwerfen, schieße jedoch weit übers Ziel hinaus, sodass er im See landet.

      Tai stochert mit einem Ast nach dem durchnässten Haufen, fischt ihn schließlich heraus und klatscht ihn mir vor die Füße. »Ich erinnere mich an sie. Julia … Jennifer … Gina?«

      »Jemima? Jupiter?«, blaffe ich sie an und wringe den Umhang so gut es geht aus.

      »Wir wissen ihren Namen nicht und zuerst hat sie nicht mal jemand erkannt«, sagt Brie. »Es wäre irreführend, wenn wir der Polizei erzählen, dass wir wüssten, wer sie ist.«

      »Ich kann ihr nicht ins Gesicht sehen. Sorry. Ich kann einfach nicht. Also …« Maddy steckt die Arme in ihr Kleid und sieht mit ihrer kreidebleichen Haut und der verschmierten Wimperntusche wie eine gruselige, armlose Puppe aus. »… sollen wir lügen?«

      Brie schaut mich Hilfe suchend an.

      »Ich glaube, das hat Brie nicht gemeint. Wir sollten einfach sagen, dass wir sie nicht identifizieren können, und es dabei belassen.«

      Brie drückt meine Hand.

      Die Campuspolizisten sind zuerst da, der Wagen bremst vor dem Henderson-Wohnheim ab, sie springen raus und preschen auf uns zu. So habe ich sie noch nie gesehen und es kommt mir auf eine erbärmliche Art beängstigend vor. Natürlich sind die beiden keine echten Cops. Ihr einziger Job ist es, uns umherzufahren und Partys aufzulösen.

      »Beiseite, Ladys.« Jenny Biggs, eine junge Beamtin, die uns nach Dienstschluss oft über den Campus begleitet und gern ein Auge zudrückt, was unsere privaten Abendgesellschaften betrifft, scheucht uns aus dem Weg. Ihr Partner, ein echter Hüne von einem Officer, walzt an uns vorbei und watet ins Wasser. Ein bitterer Geschmack bildet sich auf meiner Zunge und ich grabe die Fingernägel in meine Handflächen. Es gibt keinen wirklichen Grund dafür, aber ich verspüre der Leiche gegenüber eine Art Beschützerinstinkt. Ich will nicht, dass er sie mit seinen behaarten Händen anfasst.

      »Dürft ihr überhaupt einen Tatort betreten?«, raune ich Jenny in der Hoffnung zu, dass sie eingreift. Sie war in all den Jahren immer nett zu uns, hat Witze gemacht und es mit den Regeln nicht so genau genommen, fast wie eine große Schwester.

      Sie sieht mich scharf an, aber bevor sie etwas erwidern kann, tauchen die echten Cops und ein Krankenwagen auf. Die Rettungssanitäter sind vor den Cops am See und einer von ihnen watet hinter Jennys Kollegen ins Wasser.

      »Bleiben Sie weg vom Opfer!«, schnauzt eine Polizistin, eine groß gewachsene Frau mit einem starken Bostoner Akzent, die gerade zum Seeufer rennt.

      Der Campusofficer, inzwischen hüfttief im Wasser, dreht sich um und stößt mit dem Rettungssanitäter zusammen.

      »Die reinste Olympiade der Inkompetenz«, murmelt Tai.

      Ein anderer Officer, ein abgebrochener Tony-Soprano-Verschnitt, nickt Jenny geringschätzig zu, als wäre sie irgendeine Dienerin. »Holen Sie den Kerl da raus«, sagt er.

      Jenny wirkt leicht angefressen, winkt ihrem Kollegen aber zu, der den Rettungssanitäter widerstrebend am Arm packt. Sie begleiten ihn zum Ufer hinauf und werfen den echten Cops vernichtende Blicke zu. Die Polizistin, die die Rettungsaktion zurückgepfiffen hat, schaut uns plötzlich an. Sie hat ein spitzes Kinn, glänzende Knopfaugen und übertrieben gezupfte Augenbrauen, was sie wie eine Art halb fertige Übung aus einem Kunstkurs für Anfänger wirken lässt.

      »Ihr seid also die Mädchen, die die Leiche gefunden haben.« Ohne auf eine Antwort zu warten, führt sie uns zum Wasser, während weitere Polizisten eintreffen und das Gebiet weiträumig absperren.

      Brie und ich sehen uns fragend an und ich versuche, Jennys Blick aufzufangen, aber sie ist zu sehr damit beschäftigt, den Schauplatz des Geschehens abzusichern. Nach und nach kommen Schülerinnen aus den Wohnheimen. Sogar die Hausmütter – für jedes Wohnheim ist eine Erwachsene verantwortlich – treibt es nach draußen an den Rand der neu errichteten Sicherheitsgrenze aus Absperrband.

      Die groß gewachsene Polizistin lächelt steif. »Ich bin Detective Bernadette Morgan. Wer von euch hat angerufen?«

      Maddy hebt die Hand.

      Detective Morgan zieht ein Smartphone aus ihrer Hosentasche und richtet es auf uns. »Ich habe ein schreckliches Gedächtnis, Mädchen. Was dagegen, wenn ich das aufzeichne?«

      »Natürlich nicht«, sagt Maddy. Dann huscht ihr Blick mit einem entschuldigenden Ausdruck zu mir.

      Detective Morgan verfolgt die Szene interessiert. Sie wirft mir ein schiefes Lächeln zu, bevor sie sich wieder an Maddy wendet. »Du brauchst keine Erlaubnis von deiner Freundin.«

      Tai starrt auf das Smartphone. »O mein Gott, ist das ein iPhone 4? Ich wusste gar nicht, dass die noch hergestellt werden. Oder dass es legal ist, Aussagen von Minderjährigen damit aufzunehmen.«

      Das Lächeln der Polizistin hellt sich auf. »Zeugenaussagen. Habe ich eure Zustimmung oder sollen wir aufs Revier fahren und eure Eltern dazuholen?«

      »Na, machen Sie schon«, sagt Tai und legt zitternd die Arme um sich.

      Die anderen nicken, nur ich zögere eine Millisekunde. Jenny ist eine Sache, aber ansonsten vertraue ich Cops nicht besonders. Ich musste die halbe achte Klasse lang mit verschiedenen Polizisten reden und das war eine höllische Erfahrung. Andererseits würde ich eine Menge tun, um meine Eltern da rauszuhalten.

      »Na schön«, sage ich.

      Detective Morgan lacht. Es klingt nasal und bissig. »Bist du dir sicher?«

      Die Kälte beginnt an mir zu nagen und ich kann nichts dagegen tun, dass meine Stimme vor Ungeduld und Ärger förmlich trieft. »Ja, sprich weiter, Maddy.«

      Aber Bernadette ist noch nicht fertig mit mir. Sie zeigt auf Maddys nassen, zusammengeknüllten Umhang in meinen Händen. »Hast du den aus dem Wasser geholt?«