SPES. Martin Creutzig

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Название SPES
Автор произведения Martin Creutzig
Жанр Научная фантастика
Серия
Издательство Научная фантастика
Год выпуска 0
isbn 9783934900554



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zu halten waren und alle Funktionen einhändig ausgeführt werden konnten. Doch das war nicht der wahre Grund. Der Begriff ›Smartphone‹ lag in seiner Bedeutung zu dicht bei ›Apple‹ und der angebissene Apfel war auch in der Technikwelt zum Sinnbild der Verführung geworden, nachdem Apple, saturiert, aber nicht mehr kreativ, vor zehn Jahren begonnen hatte, Minderjährigen Finanzierungsangebote für immer noch beneidenswertere Topmodelle eines Smartphones zu senden – was arme Familien mit mehreren Kindern in ernste Schwierigkeiten brachte, nachdem die Kinder das Angebot angenommen hatten und aus den Verträgen nicht mehr herauskamen. So hatte Apple ›Jobs‹ retten wollen, den Gründer und seinen Nimbus – nicht die Arbeitsplätze.

      Rocco nickte nachdenklich, während sie referierte. Der arme junge Mann ohne Handheld saß zusammengekauert in der Hocke, er weinte hemmungslos. Die Ordnungskraft tippte Ziffern in ihr Handheld. Der Rettungsdienst, vermutete Rocco.

      Jenny beschloss, ihn zu erlösen. ›Hier ist es‹, sagte sie ihm wortlos und hielt ihm das Handheld mit zwei Fingern entgegen, sodass es wieder in der Luft schwebte. Schlagartig richtete er sich auf und sah das Gerät ungläubig an. Gierig griff er danach und atmete erleichtert aus. Das so wichtige Körperteil war wieder angenäht.

      ›Wann waren zehn Jahre zuvor?‹, schoss Jenny plötzlich noch diese für sie wichtige Frage erschrocken durch ihren Kopf. Das Handheld zeigte ganz sicher das aktuelle Datum wie die Smartphones zu ihrer Zeit. Sie hatte einfach darüber hinweggesehen. Doch das Gerät war weg! Sie selbst hatte es zurückgegeben. Was für ein Mist! Jenny stampfte ihren Fuß, ihr Kreuz durchgedrückt, trotzig auf den Betonboden. Rocco legte seine Hand beruhigend auf ihre Schulter, auch wenn er nicht wusste, was sie aufregte.

      Die Ordnungskraft steckte ihr eigenes Handheld ein und legte ihre Hand tröstend auf den Arm des jungen Mannes. »Sie haben es in einer Tasche gehabt, in Ihrer Thermo-Funktions-Scanner-Hose vielleicht«, versuchte sie den jungen Mann zu beruhigen, da sie offenbar nicht gesehen hatte, wie es zu ihm zurückgekommen war.

      Doch er war geistesgegenwärtig. Schließlich hatte er sein Gehirn ja nun wieder. Er sah sich an, was zuletzt gescribbelt worden war. Das war ein Jeansladen, nicht weit weg. So etwas hatte er nicht gesucht. Hier ging etwas vor, das er sich nicht erklären konnte. Ratlos schüttelte er seinen Kopf. Er steckte das Handheld mit spitzen Fingern in seine Jackentasche, als ob es verseucht wäre. Jenny neigte ihn beobachtend ihren Kopf zur Seite. ›Vielleicht vermutet er fremde Krankheitserreger auf seinem Gerät?‹, dachte sie. So wie er das Gerät kaum berührt hatte, musste seine Angst vor Viren und Bakterien sehr ausgeprägt sein. Ob diese Angst auch zu dieser Zeit gehörte?

      Jenny machte sich mit Rocco auf den Weg. Langsam wurde es unerträglich heiß in Berlin. Sie hatte also ihre Körperlichkeit nicht ganz verloren, denn sie spürte die Hitze und sie schwitzte. Ein beruhigendes Gefühl. Es musste ein besonderer Sommer sein.

      »Du kannst da nicht rein!«, erklärte sie ihm, als sie vor dem Jeansladen angekommen waren. »Du stinkst zu sehr!«

      »Das merkt doch keiner!«

      »Eben doch«, sagte sie im Brustton der Überzeugung. Er fragte nicht nach. »Welche Größe hast du?«

      »Keine Ahnung, hat immer Gianna gemacht.« Der Ton in seiner Stimme war verunsichert, nicht gerade verzweifelt, aber ein wenig beunruhigt.

      »Deine Frau?«, fragte sie nach und Rocco nickte langsam. »Warst du also so einer, der sich nicht allein versorgen konnte, was, oder sogar ein Chauvi?«, neckte sie und stieß ihn an. Rocco sah auf sie hinab, doch es schien, als wüsste er nicht recht, was er dazu sagen sollte, und Jenny wandte sich ab.

      Sie stand neben ihm vor dem Jeansladen, beiläufig erkannte sie im Vorübergehen einen A1-großen Aufkleber mit ›SPES‹ auf der Scheibe, weißer Grund und der in Rot fett gedruckte Eindruck, wahrscheinlich eine Werbung für irgendwas. Sie wollte gerade den Jeansladen betreten, da schoss eine junge Frau, eine Schwarze, sehr schlank, großgewachsen, in brauner Funktionskleidung, vermutlich aus Nordafrika, nach ihrem Äußeren zu urteilen, an ihr vorbei und riss das Plakat ab, um es in einen Rucksack zu stopfen, der ihr auf dem Rücken überzuquellen schien.

      ›XL oder XXL werden schon passen, bei der Jeans und beim Shirt‹, dachte Jenny, nachdem die Frau verschwunden war und sie den Laden betreten hatte und sich an den Schildern der Größen orientierte. Bei den Shirts war es simpel. Was die Jeans anging, war es komplizierter. Die Hosen hatten immer zwei Größenangaben, eine für die Bundweite und die andere für die Länge.

      Jenny kannte Jeansläden gut. Für die eigene Attraktivität war es wichtig, einen Jeansladen des Vertrauens zu haben. Auch wenn sie mit ihrer Attraktivität augenblicklich nichts anzufangen wusste. Wichtig war es aber dennoch. Weil es früher wichtig gewesen war. Und weil nicht alles plötzlich eine ganz andere Bedeutung haben konnte! Oder doch?

      Der Laden war um diese frühe Uhrzeit recht gut besucht. Hier gab es Jeans, aber es gab zudem etwas, das Jenny nie zuvor gesehen hatte. Die Hinweise darauf, alles auch online kaufen zu können, kannte sie schon. Das war old-school. Aber die Abteilung hinter den Jeans weckte ihr Interesse. Dort gab es diese Funktionskleidung. Hosen, Shirts und Jacken, Schuhe und Mäntel nach Farben sortiert.

      Sie wandte sich um, um sich orientieren zu können. Die angebotene Bekleidung für Asien war hellbraun. ›Asian‹ besagte das Schild, das über dem ganzen Angebot thronte. ›Pacific‹ war blau, wie das Meer und das Angebot für ›South America‹ erschien in einem erdigen Braun. Diese Kleidung war ihr völlig neu und warum die Farben Kontinenten zugeordnet waren, verstand sie nicht. Aber sie hatte nicht genug Zeit, es herauszufinden. Draußen wartete Rocco auf sie. Wahrscheinlich gab es in der Tiefe des Raums noch mehr Funktionstextilien in weiteren Farben, die anderen Kontinenten oder einzelnen Ländern zugeordnet waren.

      Jenny schnappte sich einen Stapel unterschiedlich geschnittener Jeans und ging damit zu Rocco zurück. Vor dem Laden hielt sie ihrem Mit-Engel eine Jeans nach der anderen an, bis sie die richtige Größe gefunden hatte. Der Fußweg vor dem Laden war gut frequentiert. Unsicheren Blicks prüfte sie aus den Augenwinkeln, ob die Leute sahen, wie sie die Jeans Rocco anhielt. Denn die Unaufmerksamkeit der Menschen war ihr nicht sicher, konnte einer oder eine unter ihnen doch bemerken, wie eine Jeans haltlos in der Luft hing. Sanft drückte sie Rocco zum Schaufenster. Er öffnete fragend seine Arme vor ihr. Was machte sie mit ihm? Sie justierte ihn in Höhe einer der männlichen Schaupuppen und hielt ihm die Jeans an. Sie hoffte darauf, die eilig an ihr vorbeihetzenden Menschen würden nicht bemerken, dass die Jeans vor dem Schaufenster hing und nicht im Schaufenster. Besorgt sah Rocco sich zum Schaufenster um. Doch dann grinste er, als er sich nach hinten umsah. Seine Jeans vor dem Schaufenster unterschied sich kaum von der Jeans im Schaufenster. Und die eilenden Menschen fielen auf das Trugbild herein. Sie gingen achtlos an den beiden vorbei. Nur eines fiel ihr auf: so viele Menschen verschiedener Hautfarben hatte sie in Berlin noch nie gesehen.

      Hellblau und verwaschen stand ihm besser als dunkelblau, stellte Jenny fest. Ein hellgraues Shirt in XL würde ihm passen. Rocco nickte dazu, es war ihm offensichtlich recht egal, was er trug.

      In dem Gewusel im Laden fiel überhaupt nicht auf, dass Jeans unbemerkt die Stapel verließen und zurückkehrten, dafür andere Jeans ihren Weg auf die Straße vor dem Laden nahmen. Als Jenny ihre Wahl getroffen hatte, verpackte sie ihren Einkauf, die Jeans und das Shirt wie auch mehrere Slips und T-Shirts zum Wechseln, in einer Papiertüte, die sie von der Kasse gemopst hatte und auf Bodenhöhe an ihren Fingern baumeln ließ. Sie hielt die Tüte unten, fast über das Trottoir schleifend. Dort sah niemand hin und niemand interessierte sich dafür. Selbst wenn da ein Mensch von Krämpfen geschüttelt und mit Schaum vor dem Mund am Boden im Sterben läge, würde kaum jemand mit diesem Anblick etwas zu tun haben wollen. Denn dass die Menschen ebenso ignorant gegenüber Unterschichten waren wie zu ihrer Lebenszeit, nahm Jenny ganz selbstverständlich an. Diese seltsame Funktionskleidung schien ihr ein starker Hinweis darauf. Also war es am sichersten, die Beute weit unten zu tragen. Jenny atmete erleichtert aus, als sie ungesehen die Friedrichstraße verließen, wie sie gekommen waren. Von der merkwürdigen Funktionskleidung erzählte sie Rocco nichts. Er war bestimmt auch so schon genug verunsichert, sich unvermutet in Berlin wiedergefunden zu haben.

      »Ich habe im Reichstag