SPES. Martin Creutzig

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Название SPES
Автор произведения Martin Creutzig
Жанр Научная фантастика
Серия
Издательство Научная фантастика
Год выпуска 0
isbn 9783934900554



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zu dicht lag der Geist beim Dämon. Sie empfand sich überhaupt nicht als Dämon. Wenn sie eine andere Form angenommen hatte, dann musste sie ein Engel geworden sein. Engel hatten eine gewisse Körperlichkeit, so wie sie. Wenn es Engel auf der Welt gab, hatten sie keinesfalls Flügel, fand sie, während sie sicherheitshalber verstohlen ihren Rücken abtastete und Roccos betrachtete. Denn sie waren bei den Menschen, um sie zu beschützen und ihnen zu helfen. Allein dafür brauchte kein Engel Flügel.

      Sie waren Engel. Sie beide waren Engel, die im Augenblick in den Himmel über Berlin sahen, obgleich dieser Himmel sich in einer Hitze entlud, die für sie zu viel schien.

      Sie wusste, dass auch er es wusste. Ein Engel geworden zu sein.

      Einige Zeit nach der Öffnung des Reichstages ebbte der Strom der Besucher merklich ab. Jenny war von den Menschen abgelenkt, die sie nicht sahen, vor und hinter ihr liefen oder durch sie hindurchgingen. So war es ihr entgangen, dass Rocco sie eine ganze Weile mit einer nachdenklichen Miene ansah. Denn mit einer fast lakonischen Selbstverständlichkeit hatte er die keinen Abstand zu ihm haltenden Menschen um sich ertragen, offenbar war er so jemand, der immer aushielt oder oft hatte einfach aushalten müssen. »Du hast mich gerettet«, sagte er sich ihr nähernd und verstummte abrupt. »So habe ich es nicht sagen wollen.« Er ruderte hilflos mit seinen Armen. »Du hast mich gerettet«, korrigierte er seine Betonung und lachte unsicher. »Ich kann deine Sprache sprechen, aber jedes Wort hört sich falsch an!«

      »Vielleicht sprichst du ja eigentlich deine Sprache, aber weil du in Deutschland bist, klingst du wie ich«, schlug Jenny zur Güte vor. Dann wich sie von ihm ein Stück zurück und hielt sich die Nase zu, als er ihr zu nah gekommen war. »Du musst duschen und brauchst neue Sachen. Du stinkst wie ein Iltis!« Sie lächelte ihn entschuldigend an, eine Beleidigung lag ihr fern, aber er hatte sie verstanden.

      Indem sie sich vom Dach abwandten, verabschiedeten sie sich vom Himmel über Berlin, um in die Welt der Menschen einzutauchen, die ihr doch so sehr bekannt zu sein schien. Den Weg nach unten nahmen sie über das Treppenhaus. Jenny hatte im Handumdrehen die Initiative ergriffen, zog Rocco mit sich. Gerade erst hatte sie herausgefunden, ein Engel zu sein, zumindest hatte sie das so für sich geschlossen. Zuvor war sie eine Tote, was sie in gleichem Maß befremdete wie ihr Engeldasein, war sie doch bislang die einzige Tote gewesen, die sie kannte, bis Rocco aufgetaucht war, der offenbar wie sie ein Toter war. Je mehr sich die Erkenntnis in ihr langsam, Stück für Stück, verbreitete, ein anderes Wesen geworden zu sein, desto wackeliger fühlte sie sich den Menschen gegenüber. Die Menschen, vermutete sie, waren Menschen geblieben, aber sie, sie war nun anders. Etwas anders, ganz anders? Jenny wusste es nicht. Ihre Hand griff nach dem Geländer.

      Auf den Stufen nach unten unterwegs betastete sie ihren Arm. Sie untersuchte ihn, um herauszufinden, ob sie überhaupt noch einen Körper hatte, den man anfassen konnte, da es Menschen ja offenbar nicht möglich war. Oder war etwa alles an ihr nicht nur durchsichtig, sondern komplett ungegenständlich? War sie schlicht ein Schleier, der in einer körperähnlichen Form lebte? Oder eine glibberige Masse, wobei sie der Gedanke ekelte, die Konsistenz einer Qualle zu haben. Sie befühlte ihren Arm. Sie sah die Haut ihres Arms und spürte die Knochen ihres Unterarms. Obwohl es ein wenig eklig war bei seinem Gestank, übermannte sie die Neugier und sie fasste nach Roccos Arm. Sie war erleichtert, dass sie seinen Arm deutlich ertastete, und hatte darüber vergessen, dass sie ihn ja bereits berührt hatte, als sie ihn von der Kante gezogen hatte. Sie lächelte ein wenig, denn sein Arm fühlte sich unglaublich kräftig an, ein muskelbepackter Arm, wie sie ihn zuvor weder gesehen noch gefühlt hatte. Er löste ein Gefühl in ihr aus. Das Gefühl war seltsam, weil es alles in ihr aufwühlte. In diesem Moment, in dem Menschen ihr fremd geworden waren und ihr Begleiter ohne sein Zutun sie für einen kurzen Moment im Treppenhaus schwindelig werden ließ, empfand sie alles um sich herum als zu viel. Derzeit und für einige Zeit war es das Sicherste, sich diese neue Welt einfach anzusehen, Beobachter zu sein. Diesen erstaunlichen Mann neben sich eingeschlossen. Bis sie mehr Klarheit hatte, mehr verstand.

      Sie sah zu Rocco herüber. Seine Mimik strahlte Ruhe und Selbstsicherheit aus, doch seine Augen flackerten. War das Angst oder zumindest Unsicherheit? ›Was Wunder‹, dachte Jenny, sich in seine Lage versetzend, in einem völlig fremden Land und dann in diesem Moloch Berlin gelandet zu sein. Wobei er Berlin ja noch gar nicht kannte.

      Jenny war erleichtert, nicht nur ein konturloses schleierhaftes Wesen geworden zu sein, das dahinschwebte. Vielleicht war es ja ein Geschenk, ein Engel zu sein. Sie war neugierig, zu was Engel fähig waren und was sie brauchten. Mussten Engel essen? Konnten sie fliegen? Waren sie in der Lage, mit Menschen zu sprechen, oder nur miteinander? Und …, sie warf Rocco einen Seitenblick zu in der Hoffnung, dass er ihre Gedanken nicht hörte, hatten Engel die Fähigkeit, Engel zu küssen? Wäre es möglich, dass Engel ja sogar Sex hatten!? Sie sah Rocco genauer an, aber in seinem augenblicklichen äußeren Zustand wollte sie es dann doch nicht so genau wissen. Außerdem fühlte sich dieser Gedanke fremd an wie noch nie erlebt. Möglicherweise hatten Engel noch ganz andere Fähigkeiten, von denen sie als Mensch keine Ahnung hatte. Es könnte spannend werden, fand sie.

      Genau in diesem Moment erinnerte sich Jenny an etwas aus ihrer Zeit als Mensch. Es gab keinen genauen Zusammenhang, nur Bruchstücke. Sie sah in ihrer Erinnerung jemanden, der etwas vortrug, mehr ein Schatten als ein Mensch – nicht zu erkennen. Einzelne Bilder hatte sie vor Augen. Vielleicht ein Kurs in einer Schule. Fast wäre sie gestolpert, weil ihre Füße unachtsam die Stufen nicht mehr trafen, und sofort ergriff ihre Hand instinktiv den Lauf des Geländers – ohne hindurchzugleiten. Verletzte sich ein Engel, wenn er fiel? Vorhin hatte sie sich ja nichts getan. Sie grinste. ›Gefallener Engel‹, schoss ihr für einen Moment durch den Kopf. Doch der Gedanke war ein loses Ende, der in einem erinnerten Klassenzimmer wie auf einen Puffer lief. Ein Referat zu einem Film über Engel, im Fach Kunst oder einer ›AG Film‹? Preisgekrönt war der Film gewesen. Irgendetwas im Titel mit ›Himmel‹ und ›Berlin.‹ Zwei männliche Engel. Sie hatte ein paar Schnipsel vor Augen, in Schwarz-Weiß, zwei beobachtende Engel waren es gewesen, ja! Genau hier in Berlin. Wie sie. Nur – und das gaben die Bilder und die wenigen Tonsequenzen in ihrem Kopf her, ohne jede Körperlichkeit.

      Sie blickte wieder Rocco an. Und wie körperlich er war! Seine Füße trafen jede Stufe genau in der Mitte. Aber er sah traurig aus. Er sah nur auf die Stufen. Seine Haltung war aufrecht, doch sein Blick jämmerlich, ohne zu jammern!

      Sie brauchten neue Bekleidung für ihn und vorher eine Dusche. Wenn Engel einen Körper hatten und Stufen berührten, mussten sie doch auch duschen, oder? Sie konnte eine Dusche gebrauchen; sie sah auf ihre Finger, die sie weit von ihrer Hand abspreizte. Jenny war sich nicht sicher, wie es mit der Körperpflege bei Engeln so war, aber sie würde es herausfinden. Sie war eben eine Anfängerin als Engel. Obwohl sie innerlich nach diesen Entdeckungen zitterte, umspann sich um ihren Mund ein zartes Lächeln.

      Sie waren am Ende des Treppenhauses im Erdgeschoss angekommen, eine schwere Metalltür bewachte den Zugang zur menschenüberfüllten Fläche. Da würden sie wieder sein, die vielen Menschen, die zu beobachten so seltsam war. Sie fröstelte ein wenig – ihre Unsicherheit. Aber im gleichen Moment eine Freude darauf, mit den Leben realer Menschen in Kontakt zu kommen, um zu spiegeln, wer sie selbst, Jenny, nun geworden war.

       Handyamputation und Identitätskrisen

      Ich muss mich waschen«, sagte Rocco mit seiner dunklen Stimme, als sie im Erdgeschoss des Reichstages angekommen waren.

      »Es ist ein Reihenfolgeproblem«, erwiderte Jenny mit einer folgerichtigen Präzision, als ob sie über eine mathematische Aufgabe nachgedacht hätte. So kam es ihr auch wirklich vor. Als ob das Letzte, was sie damals getan hatte, das Lösen einer mathematischen Aufgabe gewesen wäre.

      Auf dem Weg nach draußen gingen sie einfach durch Schlangen von Besuchern des Reichstages hindurch. Wenn sie schon ein Engel geworden war und nicht mehr Mensch sein durfte, war diese Eigenschaft zumindest sehr vorteilhaft. Nirgendwo mehr anstehen. Nur durchgehen. Klappte das immer? Mit einem Fetzen ihres Gedankens erinnerte sie sich an die steinerne Stele. Die Berührung hatte ein wenig weh getan.

      »Reihenfolgeproblem?«