SPES. Martin Creutzig

Читать онлайн.
Название SPES
Автор произведения Martin Creutzig
Жанр Научная фантастика
Серия
Издательство Научная фантастика
Год выпуска 0
isbn 9783934900554



Скачать книгу

      Der Reichstag war ein Gewerbebetrieb wie jeder andere und selbstverständlich gab es Waschräume für die Beschäftigten. Es war nur ein glücklicher Zufall, dass sie vorhin ihren Weg nach unten durch das Treppenhaus genommen hatten, denn die Waschräume lagen in Höhe der Zwischengeschosse – dort, wo die gesamte Logistik des Reichstages geschützt vor den Blicken der Besucher untergebracht war. Am späten Vormittag waren sie die Einzigen in den Duschen, worüber beide froh waren, denn so ganz waren sie sich ihrer Unsichtbarkeit noch nicht sicher. Was war, wenn sie halbsichtbar wurden, wenn sie die frischen Klamotten anhatten? Oder wenn ihre alte Kleidung herumlag und dadurch von den Lebenden gesehen wurde?

      Rocco duschte und wurde den Gestank des Massengrabs los. Irgendjemand hatte ein Duschgel mit Moschusaroma stehen gelassen, mit dem er sich lustvoll einrieb, bevor der Wasserstrahl alles wieder abspülte, aber den Geruch des Moschus zurückließ. Er passte zu ihm und zu seiner Herkunft, fand er. Er atmete tief ein, seine Hände strichen über die Kleidungsstücke, ein Genuss, saubere Sachen auf seiner Haut zu fühlen. So tot konnte er gar nicht sein, wenn er das alles fühlte und roch.

      Sie trafen sich wieder vor der Tür der Mitarbeiterwaschräume. »Ich habe Hunger«, sagte Jenny und schnüffelte mit einem Lächeln in seine Richtung. Er roch so wundervoll.

      Rocco sah sie von der Seite fragend an und meinte: »Seit ich wieder lebe, kenne ich das Gefühl von Hunger und Durst gar nicht mehr. Glaube ich jedenfalls. Aber sicher bin ich mir nicht.«

      »Ich möchte etwas schmecken. Ich habe Lust auf einen Geschmack auf meiner Zunge«, ihr Lächeln war zaghaft, das eines kleinen Mädchens, »aber, ob ich überhaupt essen kann, weiß ich nicht. Ausprobieren. Wäre schade, wenn ich nicht mehr essen könnte!« Aus ihrem Lächeln formte sich ein süßer Schmollmund. Er nickte beifällig. Ihr schien er ein wortkarger Mann zu sein, er erzählte wenig von sich. Das sollte sie irgendwann ändern!

      Im Erdgeschoss des Reichstages war es laut, denn viele Menschen aus vielen Ländern waren hier, um das Gebäude zu besichtigen. Jenny sah sich ängstlich um und hielt sich die Ohren zu. Doch die Hände auf ihren Ohren halfen nicht, denn sie hörte nicht nur die Vielzahl an Stimmen, sondern auch die Gedanken der Menschen. Diese Menschen sprachen nicht nur, sondern dabei dachten sie auch noch! Und das, was sie sagten, passte zudem oft nicht zu ihren Gedanken. Es war eine schreckliche Kakophonie in ihrem Kopf.

      Sie versuchte, sich auf einzelne Personen zu konzentrieren. Aber der Schwall aus Stimmen und Gedanken schien fast übermächtig. »Das ist ja wirklich ein beeindruckendes Beispiel deutscher Geschichte! Dass ich dieses Erlebnis in meinem Alter von hundertfünf Jahren überhaupt noch haben kann …«, fabulierte die grell geschminkte übergewichtige Dame vor sich hin, die ihrer Sprache nach aus den USA kam – wie auch immer verfügte Jenny über eine Fähigkeit, die verschiedenen Sprachen ausmachen und zugleich zu verstehen – und mit Rock und Bluse die Ausnahme bezüglich ihrer Bekleidung in ihrer Gruppe war. Ob das ihre Begleiter aus Texas hören wollten, schien ihr egal. So nahm Jenny auch die Gedanken ihrer Begleiterinnen und Begleiter der Reisegruppe auf: ›Soll sie endlich ihre Klappe halten, sie nervt, seit sie dabei ist‹, dabei lächelten die meisten die Dame jedoch freundlich an. Noch während die ältere Dame diesen Satz gesagt hatte, fing Jenny ihren wahren Gedanken auf: ›Ein Steak oder ein Burger und eine Riesencola, das wäre es jetzt! Dieser Reichstag ist doch einfach nur langweilig!‹

      Jenny verstand die Stimmen aller im Foyer des Reichstages versammelten Menschen. Ihr schien der Kopf zu platzen, es trieb sie hier heraus – sofort!

      Rocco bemerkte ihre Blässe und stieß sie fragend an. »Boah, ich höre die Stimmen dieser ganzen Menschen und gleichzeitig ihre Gedanken. Zumindest der Menschen um uns herum. Mein Kopf dröhnt. Ich halte das nicht aus!«, kodderte sie heraus, biss sich auf ihre schmalen Lippen. Sie mochte es gar nicht, wenn sie sich nicht im Griff hatte. Daraufhin sah sie ihn verwundert an: Hörte er das alles denn nicht?

      Er verstand sofort, was sie meinte: »Ich höre nur das Stimmengewirr hier; ist nichts Außergewöhnliches. Aber klar, es nervt ziemlich, wir sollten hier heraus.« Er stockte kurz und schien über das nachzudenken, was sie erzählt hatte. »Wenn ich das alles hören könnte, was du hörst, würde mir der Kopf platzen!« Er lächelte sie an, ein weiches, mitfühlendes Lächeln.

      Es stand außer Zweifel, dass Rocco ein Engel war wie sie. Aber es stand auch fest, dass er anders war. Er hörte keine Gedanken, die versehen mit den Stimmen der Menschen in seinen Ohren landeten. Sie lächelte ihn erleichtert an, als er sie durch Massen zum Ausgang des Reichstages nach draußen schob. Weil sie so lächelte, ergriff er ihre Hand und drückte sie zärtlich und zuversichtlich, um sie nach draußen zu führen. Er lenkte sie mit Bedacht, das gemeinsame Ziel im Blick. Sie sah nach oben in seine Augen und spürte etwas in ihrem Leben bislang nie Dagewesenes. Sie konnte gar nicht anders, als ihren Blick von unten nach oben gleiten zu lassen, wie zufällig, auch wenn es nicht zufällig war, ein Blick hilfesuchend nach Beistand wie ein streunender Hund. Aber in ihrem Blick lag noch viel mehr.

      Kurz bevor sie den Ausgang erreicht hatten, ließ eine dröhnende Lautsprecherstimme das babylonische Stimmengewirr versiegen. Ein Sprecher sagte mit durchdringender tiefer und etwas hallender Stimme: »Wir begehen heute den Globalen Trauertag. Dies ist eine Minute des Gedenkens.«

      Die Ankündigung wiederholte sich in fünf Sprachen. Stille war im Reichstag eingekehrt. Das allein war der Grund, weshalb für einige Minuten die Kirchenglocken in der Stadt selbst noch im Reichstag zu hören waren. Tatsächlich schienen die meisten Besucher in ihrer Bewegung für einen Moment zu erstarren, so machtvoll wirkte der Klang der Vielzahl an Kirchenglocken. Aber in ihrer Macht merkwürdig hohl, wie Jenny fand. Sie hatte in diesem Moment nicht nur die Glocken, sondern die Stimmen von der Straße im Ohr. Kinderstimmen, Geschrei und Gepose von Jugendlichen, herausgerotzt in vielen Sprachen, hier in Berlin waren sie.

      Die der Gedenkminute nachfolgende Sprecherin aus dem Lautsprecher klang wie Britney Spears in ›Oops, I did it again‹. ›I played with your heart, got lost in the game. Oh Baby, Baby‹, kam Jenny sofort in den Sinn. Die Stimme klang billig. Zunächst überrascht und etwas verwirrt von der Ansage sah sich Rocco immer wieder auf der Suche nach dem Lautsprecher um. Ein technikversessener großer Junge, der eindeutig noch nicht angekommen war in ihrer neuen Welt.

      »Fünfundzwanzig Jahre«, flötete die Britney-Spears-Stimme seltsam fröhlich aus den Boxen, »nach dem Pariser Klimaabkommen ist es nicht gelungen, den Anstieg der weltweiten Durchschnittstemperatur auf eins Komma fünf Grad zu begrenzen. Die rettenden Verfahren zur Entnahme von CO2 kamen zu spät. Wir trauern um die Toten, die durch Überflutung der Meere, Versteppung fruchtbarer Böden und Wälder und durch Staubstürme in Metropolen ihre Heimat verloren haben und ums Leben gekommen sind, und mit denen, die deswegen seit Jahren auf der Flucht sind. Wir bitten um Vergebung bei Völkern, die wir auf der Suche nach Rohstoffen ausgebeutet haben, wie vor noch gar nicht langer Zeit die Bevölkerung der Anden, deren Süßwasservorräte wir abpumpten, um an das Lithium in den Salzwasserseen zu kommen, damit unsere Autos mit Batterien elektrisch fahren können. Das ist umso bedauerlicher, als die Elektromobilität sich als ein fataler Irrtum herausgestellt hat.« Die Stimme machte eine kurze Betroffenheitspause und fuhr dann mit neuer Verve fort, die nicht zu dem Inhalt ihrer Worte passen wollte. Jenny verzog leicht angewidert das Gesicht. »Pandemien der letzten Jahre kosteten die Bevölkerung mehr Menschenleben als jeder Krieg, der jemals stattgefunden hat. Die Globalisierung hat die Welt zu einem Kontinent zusammenwachsen lassen. Die Viren sind stets mitgereist und damit zu einer globalen Bedrohung geworden. Wir verneigen uns vor den Opfern von AIDS, SARS, CORONA, XY-5, HOUSE und FIVE. Aber sie waren nur Ausdruck eines grundlegenden Fehlers, der nach wie vor ein Verbrechen an der Schöpfung ist.

      Denn es fehlte uns an Respekt gegenüber anderen Völkern und Kulturen, als wir begannen, sie mit dem Beginn der Kolonialisierung auszubeuten. Heute erkennen wir in der Globalisierung das Erbe der Kolonialisierung als nicht wieder gutzumachenden Fehler. Wir können mit den Folgen dieser Fehler nur dann eine Zukunft haben, wenn wir Gerechtigkeit in der Welt schaffen. Denn der Virus sind wir selbst.«

      Es waren deutliche und erstaunliche Worte, die zu einer kollektiven Betroffenheit aufriefen. Und doch war dieser Lautsprecherstimme die Trauer fremd. Sie verkaufte Katastrophen wie Sex