SPES. Martin Creutzig

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Название SPES
Автор произведения Martin Creutzig
Жанр Научная фантастика
Серия
Издательство Научная фантастика
Год выпуска 0
isbn 9783934900554



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er leicht gewesen, als sie an ihm gezogen hatte. Sonst hätte sie es nie geschafft, ihn vom Abgrund wegzuzerren.

      »Danke«, sagte er mit einer tiefen Stimme, die seinem Dank wahre Glaubwürdigkeit verlieh.

      »Ist mir eine Ehre«, entgegnete Jenny und hätte sich im gleichen Moment selbst eine herunterhauen können, weil sie so geschwollen sprach. Sie sprach sonst nicht so. Sie redete direkt ohne Umschweife, manches Mal ein bisschen Slang von der Straße.

      Doch das war dem Schwarzen gar nicht aufgefallen. Er sah sich an, als ob er sich unglaublich fühlte. Es schien, dass er nicht wagte, sich selbst anzufassen. Mit einem ungläubigen Blick berührte sein Zeigefinger seinen Arm. Er lächelte. Aber sein Lächeln war unsicher, fast verzagt.

      Jenny hockte neben ihm. Ihre Hand strich ihm über seine vom Schweiß feuchte Wange.

      Er war wie sie. Aber wie war sie?

      Er lächelte sie an. Nicht nur, weil sie ihn gerettet hatte. Sondern auch, weil er sofort verstanden hatte, dass sie war wie er, irgendwie gleich, zumindest ähnlich. Aber wieso sprach er eine Sprache, die nicht Arabisch und nicht Englisch war? Und wo eigentlich war er hier überhaupt? Er hatte sich aufgesetzt und seine Arme umfassten seine Schienbeine, was ihm ein ursprüngliches Gefühl von Sicherheit gab.

      Jenny musterte ihn von oben bis unten. Er sah aus, als ob er eine lange Reise hinter sich hätte. Strapazen seiner Reise waren eingemeißelt in seiner hohen Stirn und in seinen Wangen, tiefe Falten der Entbehrung, die nicht zu seinem Alter passen wollten. Denn er war sicherlich nicht so viel älter als sie, höchstens fünfzehn Jahre. Aber sein Gesicht sah aus, als wäre er gerade aus einer Achterbahn gefallen, fassungslos, unverletzt geblieben zu sein, und nicht in der Lage, zu erklären, wieso er nach einem solchen Sturz wie selbstverständlich dasaß. Aber er war gar nicht hinuntergestürzt. Sie hatte ihn ja gerettet.

      Er trug eine verdreckte Hose und ein Shirt, dessen ursprüngliche Farbe nicht zu erkennen war. Das Shirt klebte vor Dreck und – Jenny sah genau hin – Blut, altes geronnenes Blut. Vor Entsetzen rückte sie ein Stück weg von ihm, was nicht nur an seinem Anblick lag. Denn er stank zudem fürchterlich, geradezu widerwärtig, war das Wort, das Jenny richtig erschien. Er stank beißend süßlich, als ob er postwendend einem Grab entstiegen wäre.

      War er Jesus? Jesus war ein Palästinenser, meinte Jenny, denn er war in Palästina geboren, erinnerte sie sich, obwohl sie viel mehr von Jesus nicht wusste. Außer, dass Jesus in Krippen inmitten irgendwelcher Nutztiere lag oder an Kreuzen hing, und die Schuld der Welt auf sich geladen hatte – was kein Kreuz aus normalem Holz aushalten dürfte, wie sie schon immer gefunden hatte. Sie wusste, sie war lakonisch. Aber so war die Wirklichkeit.

      Ahnte er, was sie dachte, oder konnte er ihre Gedanken dechiffrieren? »Massengrab«, sagte er nur mit einem Wort, lächelte dabei unschuldig entschuldigend, und: »Weiß nicht, wie lange.«

      In diesem Moment drehte sich ein Schlüssel im Schloss einer der Zugänge zum Dach. Ein Mann in einer grauen Uniform mit einem gelben Bären am Oberarm schaute sich auf dem Flachdach des Reichstages um und war augenscheinlich zufrieden. Niemand Unbefugtes war hier zu sehen. Kein Fotograf, der Bilder von der Stadt machte, kein anderer nächtlicher Eindringling. Erleichtert schloss er die Tür, ohne den Schlüssel wieder umzudrehen und abzusperren. Er hatte sie nicht gesehen. Für ihn gab es sie scheinbar nicht. Er hätte sie sehen müssen. Eigentlich hätte er sie sehen müssen. Sie saßen doch da! War der Mann etwa blind? ›Ein Blinder als Wachmann, eine merkwürdige Besetzung‹, dachte Jenny. Da wurde ihr plötzlich klar, dass der Kontrolleur sie nicht sehen konnte, weil sie für ihn unsichtbar sein mussten. Für ihn saß niemand auf dem Flachdach des Reichstages. Jenny wurde mulmig. Sie wusste, sie war gestorben. Tot war sie, obwohl sie hier und jetzt lebte und nicht zu sehen war. Sie sah den Mann neben ihr an. Ging es ihm genauso? War auch er gestorben und lebte überraschend weiter, ohne dass man ihn sehen konnte? Wenn er aus einem Massengrab stammte, war das der naheliegende Schluss … Sie musste mehr über ihn erfahren, um über sich selbst klarer zu werden.

      »Wie heißt du?«, fragte sie ihn. Er lächelte sie freundlich an, aber er antwortete nicht auf ihre Frage. Er zog stattdessen das T-Shirt über seinen Kopf und betrachtete seinen muskulösen Oberkörper. Sein rechter Arm musste mehrfach gebrochen sein. Das zeigten die Spuren auf seiner Haut, die nicht wirklich Narben waren, mehr so etwas wie Nahtstellen ohne Fäden, einfach zusammengefügt. So provisorisch seine dunkle Haut an diesen hellen Stellen auch aussah, er hatte einen absolut funktionsfähigen rechten Arm. Ungläubig zog er seine Jeans über seine trainierten Unterschenkel nach oben, dann zog er sie kurz von oben herunter. Jenny sah an ihm vorbei, weil sie einen derart entblößten Mann erst selten gesehen hatte. Sie verspürte Scham, aber sie wusste nicht, ob sie rot wurde. Jenny befühlte ihr heißes Gesicht.

      »Rocco«, sagte er und zog sich wieder ordentlich an, »ich bin aus dem Sudan.« Jenny bemerkte, wie schwer es ihm fiel, diese für ihn wohl fremde Sprache zum Ausdruck zu bringen, obwohl er sie perfekt sprach. Der andere Klang dieser Sprache verfing nicht mit seinen Gedanken. »Ich weiß nicht, warum ich hier bin. Ich weiß auch nicht, wo ich bin.«

      »Berlin«, war Jennys knappe Auskunft.

      »Das ist in Deutschland?«, fragte er zögerlich, jedes Wort gedehnt.

      »Ja, Deutschland.«

      »Du kommst von hier?«

      »Ja.« Jenny schwieg für einen Moment, sie wollte nicht erzählen, dass sie eigentlich gestorben war, denn vielleicht stimmte das nicht und sie hatte überlebt, wie auch immer, ein großer Irrtum war das. Sie war Jenny, die Person, die sie immer war, nur eben jetzt auf dem Dach des Reichtags. Das war ihre Hoffnung.

      »Ich war tot, begraben in einem Massengrab in der Nähe von Khartoum«, vervollständigte Rocco seine Auskunft, die er ihr vorhin mit nur einem Wort an den Kopf geworfen hatte. So viele Fragen an ihn sausten ihr durch den Kopf, so viele Fragen, die er vielleicht auch ihr stellen wollte. Doch die Fragen überschlugen sich in ihren Gedanken, ließen keine Formulierung zu – vor allem angesichts der einen Tatsache, die sie als Fakt erst einmal verarbeiten musste. Jennys trügerische Hoffnung, möglicherweise wieder am Leben zu sein, hatte sich in der Selbstverständlichkeit des Faktischen aufgelöst. Sie war gestorben, so wie er gestorben war. Doch, es war wahr, sie lebten beide, oder waren zumindest da.

      Erst waren es einzelne Touristen, die am frühen Morgen durch die Türen des Eingangs auf das Flachdach liefen. Doch schon bald bevölkerten viel mehr Menschen die Attraktion mit dem fantastischen Blick über die Stadt. Die Besucher auf dem Flachdach waren nicht nur amerikanische Touristen. Es gab viele von ihnen. Aber auch viele Europäer strömten herein, aus den Niederlanden, aus Großbritannien, aus Dänemark, Norwegen und Schweden. Inder waren unter den Besuchern und Araber, aus welchem Land sie auch immer kamen. Sie waren Menschen aus den USA, aus Malaysia, den Malediven, aus Vietnam, Thailand, Kambodscha und es gab viele aus Russland unter ihnen. Die Besucher kamen aus einer erstaunlich großen Zahl von Ländern. Viele Sprachen erkannte Jenny nicht einmal, obwohl sie verstehen konnte, was die Menschen redeten.

      Die Touristen sahen sie nicht. Sie gingen sogar durch sie hindurch, dort, wo sie standen, Rocco und Jenny, um einen Blick von oben auf die Hauptstadt zu erhaschen. Jenny wich immer wieder zurück, um Platz zu machen, wenn ein Tourist auf sie zuging. Aber der Nächste ging an dieser Stelle durch sie hindurch. Sie sah zu Rocco hinüber, der sich die Hände vor die Augen hielt, weil er offenbar nicht sehen wollte, wie er überrannt wurde. Jenny blieb regungslos dort, wo sie stand, und ließ die Touristen durch sich passieren. Sie spürte es ja nicht, auch wenn der Gedanke eigenartig war. In diesem Moment stand ein Mensch aus England vor ihr, lächelte, erkannte ein Ziel für die Kamera seines Smartphones und ging schnurstracks durch sie hindurch, um wenige Sekunden danach hinter ihr zu stehen, von der Balustrade des Dachs fotografierend. Das passierte nicht nur ein Mal. Es passierte andauernd, denn Jenny war fast eingekesselt von neugierigen Touristen.

      In diesem Moment war es ihr klar geworden. Ihr Mund stand weit offen, so unfassbar war ihre Erkenntnis, dass sie fast selbst nicht daran glauben konnte. Aber so wurden sie beschrieben, die Wesen, die es nur nach Hörensagen gab.

      Zunächst war Jenny auf die Idee gekommen, ein Geist geworden zu sein.