SPES. Martin Creutzig

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Название SPES
Автор произведения Martin Creutzig
Жанр Научная фантастика
Серия
Издательство Научная фантастика
Год выпуска 0
isbn 9783934900554



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nicht waschen und dann wieder in diese Sachen springen. Wir brauchen erst eine Jeans und ein Shirt oder so etwas für dich. Dann kannst du dich waschen und die neuen Sachen anziehen«, erläuterte Jenny ihre Überlegung.

      »Ah«, machte er. Solch profane Fragestellungen hatte immer seine Frau für ihn beantwortet und dann unternommen, was nötig war.

      »Könnte ich mal Ihr Handy benutzen?«, fragte Jenny einen jungen Mann inmitten einer Besuchermenge im Erdgeschoss, der ziellos dastand, wohl zu einer Schülergruppe gehörte und gedankenverloren daddelte. Erst in diesem Moment, als sie sich auf den jungen Mann konzentrierte, fiel ihr auf, dass er merkwürdige Klamotten trug.

      Ganz schwarz war er gekleidet, die Haare hochgegelt wie bei einem Irokesenschnitt. Er stach aus der Masse der Menschen hier heraus. Er wirkte wie ein Punk. Gab es Punks noch? Aber so ein richtiger Punk war er nicht, fand Jenny. Denn ein bisschen sah er auch aus wie ein Held aus ›Star-Wars‹, einer Serie, der sich Jenny mit Leidenschaft hingegeben hatte. Die Helden konnten von Sonnensystem zu Sonnensystem springen, sie beherrschten hervorragende Technologien, aber die Planeten, auf denen sie lebten, waren entweder ›High-End‹-gespickt mit merkwürdigen Abgründen oder sie waren so seltsam, primitiv, dass es sie bei dem Gedanken schauderte, dort leben zu müssen.

      Doch nicht er, dieser Punk oder Nicht-Punk, war das Besondere, sondern die anderen. Er stach nur heraus, weil die anderen so merkwürdig uniform waren. Denn zahlreiche der Leute trugen so etwas wie Funktionskleidung: Die Hose über und über mit Taschen besetzt, die Jacke in derselben Farbe. Jenny sah sich um. Viele der Besucher hier trugen solche Kleidung, wenn auch in unterschiedlichen Farben. Es gab Leute, die Jeans anhatten und ein Shirt darüber. Und noch andere waren mit Röcken, Blusen, Hosen und Sakkos bekleidet, ganz normal, wie sie es kannte. Das waren aber nur ein paar und die wirkten älter als die Funktionskleidungsträger – nicht richtig alt, ihre Gesichter, ihre Körper waren zwar nicht jugendlich, aber eben nicht wirklich alt. Und doch kamen ihr die Gesichtszüge wie ein Fake vor, eine Täuschung ihres wahren Alters.

      Der junge Mann blieb die richtige Wahl. Er war der Einzige in greifbarer Nähe, der auf den Bildschirm eines Smartphones starrte. Er hatte das Gerät gerade auseinandergefaltet und eingeschaltet, was Jenny etwas seltsam vorkam, denn faltbare Smartphones hatte sie noch nie gesehen. Doch es musste so etwas wie ein Smartphone sein, war sie sich sicher. Sie schaute Rocco fragend an, aber Rocco starrte auf das Ding, als sei es ein Ufo in der Hand des jungen Mannes.

      Dieser blieb derweil unbeeindruckt von Jennys Ansprache. Er hörte sie nicht und er sah sie nicht. Von was sollte er beeindruckt sein? Von einem Nichts, das vor ihm stand? Wäre ja seltsam gewesen, wenn sie durch die Leute hindurchgehen konnte, diese sie aber dennoch sahen. Dann hätten Rocco und sie schon vorher reichlich erstaunte Blicke geerntet. Und trotzdem war es einen Versuch wert: Sie griff nach diesem Smartphone-Ding und bekam es tatsächlich zu fassen. Der junge Mann mit der angedeuteten Punkfrisur staunte nicht schlecht, als sein Smartphone für einen Moment regungslos in der Luft hing und dann spurlos verschwand. Er konnte sich nicht erklären, was passiert war. Hektisch suchte er auf dem Boden, aber dort war sein Smartphone nicht. Es war einfach weg. Und doch war es da. Jenny hielt es in ihrer Hand. Aber er entdeckte es nicht, in der Annahme, dass es ihm heruntergefallen war, starrte er suchend auf den Boden.

      Jenny stand weiterhin direkt neben ihm und suchte Google auf dem Display, jeder hatte Google, und damit würde sie klarkommen, um zu finden, was sie brauchte. Aber Google fand sie nicht auf der Oberfläche. Überhaupt hatten fast alle Programme seltsam fremde Namen. Sie kam erst gar nicht zurecht. ›Commuelook‹ gab es, sie vermutete einen Nachfolger des ›Outlook.‹ ›Climate-Prognos‹ kannte sie noch nicht – aber es war klar, was sich dahinter verbarg. ›Guck an‹, dachte sie, als sie ›Vidtube‹ las, und: ›mal sehen, was ›Scribble‹ ist!‹ Scribble konnte passen. Eine Schmierskizze, etwas Dahingeschmiertes, schnell Eingegebenes, weil man etwas suchte, verband sie damit. ›Wobei‹, erinnerte sie sich, ›war das nicht ein Spiel, mit dem man irgendetwas zeichnete?‹ Sie versuchte es trotzdem und öffnete das Programm. Tatsächlich. Scribble gab ein Suchfeld frei und die Tastatur zeigte sich, so wie sie es von Google gewohnt war. Ob es Google nicht mehr gab? Oder, ob Scribble der Nachfolger war?

      Jenny googelte ›Jeansladen‹, obwohl es nun vermutlich ›scribbeln‹ hieß. Ein Geschäft namens Weekday war nicht weit entfernt. Den Weg zur Friedrichstraße kannte sie. ›Scribble-Go-To‹ berechnete etwas mehr als zwei Kilometer. In etwa vierzehn Minuten zu erreichen. Scribble bot auch gleich die schnellste Route zu Fuß an, denn es schien erkannt zu haben, dass sie zu Fuß unterwegs waren. Bei ›Maps‹ wählte man, ob man sich mit dem Auto, dem Zug oder zu Fuß bewegte. Aber egal: die Route stand! Ein Klacks – und für einen Engel sowieso.

      Sie merkte sich, die Paul-Löbe-Allee entlangzulaufen, und zwar in Richtung des Platzes der Republik, nach rechts abzubiegen, um zum Reichstagsufer zu kommen, um dann wieder nach rechts in die Friedrichstraße abzubiegen. Es war einfach. Scheinbar hatte sich hier nichts geändert. Die Straßennamen waren immer noch die, die sie kannte, auch wenn sich das Auftreten der Leute, die Technik und das Klima verändert zu haben schienen. Jenny fand das interessant. Und sie fragte sich, wie weit sie wohl in der Zukunft gelandet war.

      Rocco stand an einer Sandsteinsäule gelehnt, dort, wo sie ihn abgestellt hatte. Hinter ihm klebte ein Plakat, das Jenny kaum beachtete. Ein weißer Untergrund und darauf nur vier Buchstaben in fetter roter Farbe: ›SPES.‹

      Das war ja spannend, stellte sie für sich fest, als sie zu ihm trat. Obwohl sie Rocco nicht sahen, machten die meisten Menschen einen Bogen um ihn. Vielleicht ging etwas von ihm aus, das sie einen Abstand wahren ließen. Wahrscheinlich, so mutmaßte sie, war das sein durchdringender Geruch, den er verbreitete. Irgendetwas aus der Welt der Engel kam also doch bei den Menschen an. Jenny spürte eine kleine Hoffnung auf einen Weg zurück in die Welt der Lebenden.

      Der junge Mann, dessen Smartphone sie geklaut hatte, hatte sich einige Meter entfernt. Doch er war sofort zu erkennen, denn die Hände des vermeintlichen Kopfgeldjägers aus Star-Wars gestikulierten wild einer Ordnungskraft gegenüber herum, seine Augen waren gerötet und er schien so abgrundtief verzweifelt, dass Jenny fast lachen musste, so lächerlich wirkte er, wäre er wirklich ein Kopfgeldjäger. Dabei war er doch gar nicht gestorben, nicht einmal verletzt, keine Gliedmaße war ihm im Reichstag abhandengekommen, obwohl er so am Boden zerstört wie nach einer Amputation wirkte. Seine linke Hand wies immer wieder auf seine rechte, die ja noch da war, aber die Verlängerung der rechten Hand fehlte. Dabei hatte er doch nur sein Smartphone verloren. – Na ja, sie hatte es ihm geklaut.

      Sie sah Rocco an. Seine Augen waren in erstaunter Missbilligung weit offen und sein Blick klebte abschätzig auf dem jungen Mann. Als ob er sich festhalten musste, griff Rocco nach Jennys Arm.

      »Was hat er für ein Problem? Sein Handy ist seit vielleicht zwei Minuten verschwunden! Er verhält sich, als ob er Mutter und Vater verloren hätte, nein schlimmer!« Rocco sah ihr in die Augen, doch sie war ebenso ratlos wie er und gab ihm keine Antwort. Stattdessen sandten ihre Augen ihm eine andere Botschaft, von der sie selbst nichts wusste. Da sah er Jenny ganz genau an, ohne selbst zu bemerken, wie er sie anstarrte. Er musterte sie: Schlank war sie und von mittlerer Größe, es war das erste Mal, dass ihm ihre braunen, wunderbar glänzenden langen Haare auffielen und ihre grünen Augen mit ein wenig Grau darin. Der Glanz ihrer Augen war ein weicher Glanz, ein empfindsamer Blick, ein feines Radar, um kleinste Impulse aufzunehmen. Ihre schmalen Lippen, die Entschiedenheit und Gewissheit ausstrahlten, ihre hohe Stirn, die ihm Intelligenz vermittelte, sie aber auch etwas kindlich wirken ließ. Wie alt sie wohl war – oder gewesen war?

      »Ich muss es ihm wiedergeben. Er dreht sonst ganz durch!«, sagte Jenny schließlich, um dem Leiden des jungen Mannes ein Ende zu bereiten. Das aber war gar nicht so einfach. Er war nun in Tränen ausgebrochen und zappelte unkoordiniert suchend. ›Wo ist mein Handheld, wo ist mein Handheld?!‹, las Jenny aus seinen Gedanken.

      Jenny stutzte. ›Warum heißt das Gerät Handheld?‹, fragte sie sich. Sie zögerte nun, ihm das Gerät zurückzugeben, und beschloss, noch schnell den Begriff ›Handheld‹ zu suchen. ›Europädia‹ las sie auf dem Startbildschirm, was wie ›Wikipedia‹ klang und etwas Ähnliches war, und sie gab ›Handheld‹ ein. Sie überflog