SPES. Martin Creutzig

Читать онлайн.
Название SPES
Автор произведения Martin Creutzig
Жанр Научная фантастика
Серия
Издательство Научная фантастика
Год выпуска 0
isbn 9783934900554



Скачать книгу

fesselten. Die Nervenkrankheit schlich von unten nach oben, bahnte sich immer mehr ihren Weg durch seinen Körper.

      Paps’ Krankheit kostete viel Geld, die Krankenversicherung sträubte sich, wo sie nur ein Schlupfloch sah, weshalb die Familie in Marzahn blieb. Das war nicht der Plan ihrer Mutter gewesen. Sie wollte eigentlich nichts wie weg, raus aus Marzahn! Jenny verstand sie, ihr war wie ihrer Mutter nichts lieber, als Marzahn den Rücken zu kehren. Aber sie verstand, dass es nicht ging.

      Schließlich war ihr Vater die meiste Zeit ans Bett gefesselt gewesen; er konnte sich kaum bewegen, wurde von einer Krankenschwester am Morgen notdürftig versorgt, sodass seine Frau sich nicht so sehr um ihn kümmern musste. Jenny kam nachmittags aus der Schule und Paps schlief. Er schlief, weil er mittags von den Schmerzen aufgewacht war. Dann nahm er die Schmerzmittel, die seinen Körper betäubten. Er nahm viel zu viel davon. Doch nur so wirkten sie, dass er seine Gliedmaßen nicht mehr spürte. Er hatte einen schmalen Zeitkorridor, in dem er sich ohne Pein rühren konnte, den er nutzte, um nach unten zu rollen bis ganz nach unten ins Erdgeschoss und dann fuhr er ein paar Meter bis zum Kiosk. Mit dem Fusel betäubte er nachmittags die Schmerzen in seinem Herzen und seinen Gliedmaßen. Eine große Flasche, selbst wenn der Beipackzettel der Medikamente vor Alkoholkonsum deutlich warnte. Dann rollte er wieder in die Wohnung, im Schlafzimmer ans Fenster, starrte hinaus und trank, bis er wieder ins Bett fiel und weiterschlief.

      Selbst wenn der Alkohol bis zum nächsten Morgen in seinem Körper abgebaut war, würde er noch von den Schwaden, die sich im Schlafzimmer ausgebreitet hatten, betäubt bleiben. Jenny bewunderte ihre Mutter, die Nacht für Nacht das Schlafzimmer mit ihm teilte. Andererseits hatte sie jedoch kaum eine andere Wahl, war die Wohnung doch ziemlich klein und ihre beiden Kinder sollten ein eigenes Zimmer haben.

      Jennys Mutter schien ihren Mann nicht zu verachten – ganz im Gegenteil. Wenn sie seine eigene Schlafmedikation missbilligte, verstand sie ihn. Denn oft bekam sie mit, wie er fühlen musste, sie spürte den Schmerz fast an ihrem eigenen Körper. Sie fühlte, welche Höllenqualen ihr Mann durchlitt, Stunde um Stunde und Tag für Tag. ›Ach, Jenny, die Schmerzen deines Vaters sind eine furchtbare Pein!‹, erinnerte Jenny sich an eine Aussage ihrer Mutter. Aber ihre Mutter blieb dennoch eine Realistin. Für die reinen Realisten jedoch war das Leben oft nur eine ›Truman-Show‹ – Jenny hatte den Film gesehen: Ihre Mutter führte dabei Regie, doch sie war eisig, es ging nur ums Überleben. Sie musste sachlich bleiben, sonst gab es kein Überleben. So einfach war das. Was die Krankenkasse nicht zahlte, finanzierte Jennys Mutter. Sie arbeitete für zwei und kam immer spät und ausgelaugt zurück, fünf Putzstellen waren schlicht zu viele.

      Jenny tat ihre kleine Schwester leid, die erst zehn Jahre alt war. Sie hatte kaum etwas von ihrem Papa gehabt in ihrem Leben. Die beiden Schwestern lagen zwölf Jahre auseinander und Jenny wunderte sich gelegentlich, dass ihr Vater der Erzeuger ihrer kleineren Schwester sein sollte. Denn schon zur Zeit ihrer Zeugung hatte er im Rollstuhl gesessen und ab mittags geschlafen. Ihre Schwester war auch irgendwie ganz anders als sie. Sie hatte blonde Haare und blaue Augen und sie war schon jetzt fast so groß wie sie. Doch letztlich war das gleichgültig, solange die Liebe blieb. Denn er hatte die Kleine immer geliebt, auch wenn er dabei immer ausdrucksloser zu werden schien. Die Liebe musste angeschlagen worden sein, denn die Krankheit war wie ein Boxer, der unaufhörlich auf ihre Familie eindrosch. Dennoch blieb ihr Vater das Zentrum der Familie. Und war sein Lächeln auch noch so farblos geworden, es blieb sein Lächeln, das die Familie zusammenhielt, auch wenn er nicht mehr tun konnte, als den Versuch zu unternehmen, sie anzulächeln.

      Noch tragischer wurde die Situation, als die Ärzte ihren Irrtum bemerkten. Sehr wohl litt ihr Vater an dieser Nervenkrankheit, die ihn zur Bewegungslosigkeit verdammte. Und sie hatten sich gewundert, warum die Medikation so schlecht anschlug, doch bei dieser Feststellung hatten sie es belassen. Bis ein junger Assistenzarzt, neu in der Klinik, weitere Tests veranlasste. Er war dem eigentlichen Grund der Krankheit auf der Spur und fand ihn schließlich auch. Ein Tumor im Gehirn war der Auslöser für die Fehlsteuerung der Nerven. Nur dass die Zeit inzwischen abgelaufen war, um ihn zu entfernen. Der junge Arzt war so freudestrahlend, als er das CT-Bild ansah, weil er den eigentlichen Bösewicht entlarvt hatte. Jenny, die wie der Rest der Familie hinter dem Arzt stand und auf den Bildschirm starrte, verstand ihn. Vom Hausarzt bis zu den spezialisierten Klinikärzten war niemand auf die eigentliche Ursache gekommen. Für ihn war das ein voller Erfolg. Aber für seinen Patienten nicht.

      Und kurz nach dem überbordenden Gefühl seines Erfolgs merkte auch der junge Arzt, dass er der vollständig anwesenden Familie erklären musste, dass der Tumor nicht operabel sein würde. Er druckste ziemlich herum, als es um diesen Punkt ging, die Augen ihrer Mutter waren starr auf den jungen Arzt gerichtet, während ihr Vater auf den Boden sah und Jenny seinem Blick folgte und ihre kleine Schwester Playmobil spielte. Der Arzt war sichtlich überfordert mit der Situation und stammelte, er war rot im Gesicht und dennoch war seine Haut im Grundton merkwürdig grau, als er dann ergänzend die Tatsache formulierte, dass Tumore dieser Art erblich sein konnten.

      Ihre Mutter hakte ein: »Wie viel Prozent, wie wahrscheinlich ist das?« Sie blickte ihre Töchter an.

      Der junge Arzt begriff sofort. »Fünfzig, vielleicht dreißig, die Forschung ist noch nicht so weit bei dieser Art von Tumoren …« Jennys Hand suchte die ihrer Mutter, um ihr das Gefühl zu geben, bei ihr zu sein.

      Doch da war ihre Mutter schon aufgestanden, griff nach dem Rollstuhl ihres Mannes, hatte Tränen in den Augen. Jenny folgte ihr nach draußen. Jennys Hand lag sanft auf seiner Schulter. Nur ihre kleine Schwester hing an den Playmobil-Figuren. Sie blieb sitzen, um weiterzuspielen.

      »Nur mit dem Alkohol …, das sollte er …«, der junge Arzt sprach nun wieder sicherer weiter, »… lassen.«

      Sie waren fast aus der Tür, hörten noch diesen letzten Satz und standen schließlich hilflos auf dem kalten Klinikflur. Sie warteten auf ihre kleine Schwester. Der junge Arzt hatte sich zu ihr gehockt, saß nun vor dem kleinen Mädchen, das gedankenverloren spielte, und wusste offenbar nicht so recht, was er tun sollte. Bis Jenny sie aus dem Behandlungszimmer holte, ihr über den Kopf streichend die kleinere Kinderhand in ihre nahm, sie anlächelte.

      Auch wenn in der Familie Liebe und Rücksicht herrschten, war die Liebe dabei eine Regentschaft, die das Elend kaschierte wie das Präsentpapier das darin liegende unerwünschte Geschenk. Jenny wollte heraus aus diesem jahrelang anhaltenden Schlamassel, in dem sie aufwuchs. Sie strengte sich daher in der Uni an. Das war für sie der ›Stairway to Heaven‹. In den letzten beiden Jahren musste sie oft weinen, wenn sie sich zu sehr anstrengte. Die Tränen versiegten bald wieder und ihr Erfolg gab ihr Recht und war die Rechtfertigung dafür, die Tränen nicht zu ernst zu nehmen, obwohl die Tränen von einem stechenden Schmerz in ihrem Kopf rührten. Aber ihre Schmerzen verschwanden stets schnell wieder. Es war sogar recht hübsch anzusehen, wenn die glasklaren gläsernen Perlen sich mit dem rötlichen Lidschatten am unteren Wimpernkranz vermischten. Seit einiger Zeit verschönerte sie sich mit dem rötlichen Lidschatten. Sie sah darin vor dem Spiegel einen wunderbaren Kontrast zu ihrem dunkelbraunen Haar und einen noch schöneren Kontrast zu ihren graugrünen Augen.

      Die Jungen mochten sie so. Jenny aber mochte die Jungen nicht. Jungen würden ihr bei keinem ihrer Probleme helfen können, ganz im Gegenteil. Sie würden ihr nur weitere Scherereien bringen, Liebesprobleme. Ihr Leben war an sich schon kompliziert genug. Ein ganzer Sack voller Schwierigkeiten bis zum Abwinken. Sie ahnte den Spaß und die Lust, die sie mit einem Jungen erleben könnte, sah das bei den anderen Mädchen ihres Alters. Aber es würde nicht funktionieren bei ihr, da war sie sich sicher. Niemals. Jedenfalls nicht, bis sie heraus war aus dem Ganzen und ihr eigenes Leben hatte. Das Harte ihres bisherigen Lebens hatte sie zu einer Realistin werden lassen. Die Realität erkennen, um zu überleben. Romantik war Quatsch aus dem Kino: Schön anzusehen, wenn sie mal Zeit hatte. Aber, wenn sie die Tür des Kinos nach draußen aufstieß, spürte sie den kalten Windzug ihrer Realität im Gesicht.

      Und dann war da dieser Morgen, an dem Jenny verschlafen hatte. Sie hatte zu lange bis in die Nacht für die Matheklausur an der Uni gelernt. Sie wachte auf und wunderte sich nicht darüber, fast eine Stunde zu spät zu sein. Kopfschüttelnd und schlapp und verschlafen zum Bad schlurfend, missbilligte sie ihre Disziplinlosigkeit und zunächst den Spiegel vor ihr an der Wand.