SPES. Martin Creutzig

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Название SPES
Автор произведения Martin Creutzig
Жанр Научная фантастика
Серия
Издательство Научная фантастика
Год выпуска 0
isbn 9783934900554



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die Leichen der Demonstranten und die ihres Mannes zusammenschob und in das Grab in fünf Metern Tiefe beförderte. Die Toten klatschten in der Grube wie nasse Säcke aufeinander. Das Geräusch war widerlich.

      Die Hitze an diesem Tag war unerträglich und die feuchte Luft auch. Es stank. Die Leichen stanken – ein eklig süßlicher Geruch, der sich in die Schleimhäute einbrannte.

      Se stand neben ihr, hielt ihre Hand und wusste nicht, ob das Attentat nicht eigentlich ihr gegolten hatte. Aber war das nicht egal in diesem Moment? Se spürte eine unabweisbare Sicherheit, während sie dem ›Begräbnis‹ zusah, dass al-Baschirs Zeit abgelaufen war, und ihre irgendwie auch. Als ob ihr Schicksal mit dem al-Baschirs zusammenhing. Vielleicht hatte Se gar nicht bemerkt, wie sehr sie ihr Leben dem Kampf gegen den Diktator verschrieben hatte. Als al-Baschir stürzte, übernahm der Cholesterinspiegel die Macht über ihren Körper und beförderte sie in ihre eigene kleine Hölle.

       Aus eins mach zwei

      Als sie wieder aufwachte, erschien der neue Tag unbenutzt in der Morgendämmerung. Sie spürte, genug geschlafen zu haben, ausgeruht zu sein, und blickte sich um. Ein Tag am ganz frühen Morgen auf dem Dach des Reichstages, vier Uhr oder fünf, aber keinesfalls sechs. Der Himmel war noch dunkelgrau, aber es war warm. So warm, wie sie die Luft in Berlin so früh am Tag nicht kannte. Sie vermutete bereits fünfundzwanzig Grad. Sie sah sich den Himmel genauer an. Sie kannte diese Art von Himmel, den sie sich tagelang angesehen hatte im Winter in diesem Raum mit dem Bett aus dickem Metallrohr, beleuchtet von Kälte. Solche Himmel wussten sich nicht zu entscheiden, was aus dem kommenden Tag werden sollte; schienen nicht zu wissen, ob die Sonne scheinen oder das wenig entscheidungsfreudige Grau sich zu Schwarz verändern und danach Regengüsse fallen lassen würde. Jenny war es immer gleich, wie sich der Himmel entscheiden würde. Sie liebte den Sommer, obwohl sie nur zweiundzwanzig davon erlebt hatte, aber nass zu werden machte ihr nichts aus.

      Tückisch fand Jenny das Grau im Winter, wenn sie so darüber nachdachte. Denn dann fielen Schnee oder Regen. Den Schnee im Winter hatte sie immer gemocht, aber den Regen bei fünf Grad, der jede Haut durchnässte, nicht. Der graue Himmel im Winter war nicht kalkulierbar. Zum Fürchten konnte so ein Winter sein. Sie war in einem solchen nasskalten Winter gestorben.

      Auf einmal fiel es ihr wie Schuppen von den Augen, dass sie nicht auf dem Dach des Reichstages geboren worden war, auch wenn es sich im Moment so anfühlte. Sie sah an sich hinunter. Ihre pinkfarbene Jeans, ihr weißes Top. Es gab ein Leben, bevor sie auf dem Dach des Reichstages gelandet war. Wer eigentlich war sie? Sie musste sich erinnern, unbedingt, sie wusste, dass das alles in ihrem Kopf gespeichert war. Es würde sie viel Mühe kosten, etwas scheinbar tief Vergrabenes an das Tageslicht ihres Bewusstseins zu befördern, das nicht grundlos in den Untiefen ihres Seins versteckt schien. Da war sie sich sicher. Denn warum war sie zurückgekommen in diese Welt, obwohl sie doch schon tot war? Dass sie eigentlich schon tot war, bewies ihr häufig wiederkehrender Traum. Der Findling. Ob sie den Traum schon gehabt hatte, als sie noch lebte? Aber sie lebte ja. Oder? Ach, es war alles wirklich sehr verwirrend!

      In dieser Lage würde sie keine Antworten finden, sie musste einen anderen Weg suchen, am besten vom Dach des Reichstages herunter. Jenny lief eilig zu der Tür, die sie aber genauso verschlossen vorfand wie zuvor in der Nacht.

      Sie trottete zurück zur steinernen Balustrade. Eine der Türen würde sich bald öffnen für die Besucher, da war sie sich sicher. So lange konnte sie warten und hockte sich hin. Sie hatte immer noch keinen Durst und keinen Hunger. Seltsam war das. Aber sie hatte Lust darauf, etwas zu schmecken. Das war nicht ganz, aber fast so wie Hunger.

      Sie blickte auf die Straße und auf den Vorhof des Reichstages. Es gab da etwas in ihrer Wahrnehmung, das sie von ihrer Lust auf Geschmack völlig abbrachte. Die wenigen Menschen, die sie beobachtete, waren so weit da unten. Eigentlich war es unmöglich, ihre Stimmen zu hören. Aber sie hörte Stimmen von Menschen, die vereinzelt unterwegs waren. Meist waren es Jogger oder Gassigeher, die vielleicht irgendwo in der Nähe wohnten. Was sich die Herrchen, Frauchen und Jogger zu erzählen hatten, war um diese Uhrzeit weniger interessant, meinte sie. Aber ihre Sehnsucht nach Menschen trieb sie, zu verstehen, was diese Leute da unten sagten. Sie spürte ihren Hunger auf Menschen. Jenny konzentrierte sich auf die, die sie erkannte.

      Interessiert beobachtete sie, wie der Verkehr zunahm. Von oben betrachtet sah der Straßenverkehr aus wie immer. Und wenn sie sich einen Jogger genauer ansah, hörte sie, was er nur für sich in Gedanken formulierte – es mussten seine Gedanken sein, denn es ergab überhaupt keinen Sinn und es gab ja keine Gesprächspartner. Völlig irre war das, fand sie. Konnte sie wirklich hören, was jemand anderes dachte? Oder sprach der Jogger vielleicht doch, während er lief? Doch die meisten Jogger waren zu schnell unterwegs, rangen um Atem und hatten nicht genug davon, um auch noch sprechen zu können. Sie konzentrierte sich auf andere Jogger und auf Gassigeher, und stellte fest, dass sie auch deren Gedanken hören konnte. Ja, das musste etwas Telepathisches sein oder so, denn für wirkliches Hören war sie doch viel zu weit weg!

      Nach einer Weile sah sich Jenny gelangweilt auf dem Flachdach um. Es würde noch ein paar Stunden dauern, bis sich eine Tür öffnete, die ihr einen Weg nach unten ermöglichte. So lange musste sie einfach nur aushalten.

      Inzwischen war es hell geworden, richtig hell und die Sonne schien. Jenny hielt ihr Gesicht in die Sonne, die sie schon zu früher Stunde intensiv wärmte, obwohl sie das Gefühl hatte, dass es zu viel von dieser Sonne gab. Gelegentlich sah sie sich um. Öffnete eine der Türen doch früher, als sie vermutete?

      Jenny wandte sich um zur anderen Seite der Balustrade und verharrte mit einem staunend offenen Mund und kleinen Wellen auf der hochgezogenen Stirn. Sie hatte einen Mann entdeckt, der ungefähr fünfzig Meter von ihr entfernt vor der Balustrade des Reichstages saß. Da in der Nähe hatte auch sie ein paar Stunden zuvor gesessen, kurz vor einem Absturz war sie gewesen, bevor sie sich hinter das Geländer gerettet hatte.

      Wie war er hier hergekommen? Die Türen zum Dach waren verschlossen. Und sie hätte ihn gesehen, sehen müssen, wenn er wie auch immer auf das Dach geklettert wäre. Doch warum sollte jemand auf das Dach des Reichstages klettern? Vielleicht wollte er sich umbringen und nun saß er da, unschlüssig, ob er es wirklich tun sollte.

      Jenny rannte los, um den Mann zu retten. Rutschte er nur dreißig Zentimeter nach vorn, und dreißig Zentimeter waren nicht viel, würde er nach vorn kopfüber fallen und dann wäre er tot. Noch während ihres Sprints, ihre Augen immer aufmerksam auf den Abgrund jenseits der Fassade gerichtet, erkannte sie, wie groß der Mann war. Seine Haut war so schwarz, dass er sich wie ein dunkler Fels vom Blau des Himmels abhob und die Sonne seinen Körper fast glänzen ließ. Er saß einfach da und seine Beine baumelten spielerisch in der Luft.

      Jenny erreichte ihn, er hatte sie nicht gesehen, sein Kopf bewegte sich nicht, er hätte ihre Schritte hören müssen, aber er sah starr in die Sonne. Sein Oberkörper schien aufgefaltet wie ein Sonnensegel, das Strahlung und Wärme tankte. Schon ein paar Meter vor ihm erkannte sie seine geschlossenen Augen.

      Er bemerkte sie erst, als sie ihn schon erreicht hatte. Sie zog an seinen Schultern, versuchte, ihn auf das Dach zu zerren, da blickten sie riesige weiße Augäpfel aus einem pechschwarzen Gesicht an. Er widersetzte sich ihrem Zug – er hatte Bärenkräfte, die ihn immer weiter zum Rand des Dachs und nach unten ins Verderben zogen.

      Jenny rief: »Stopp!« In diesem Moment neigte sich sein noch immer in die Sonne gerichteter Kopf nach unten, er musste die Tiefe des bevorstehenden Falls erkannt haben, denn er klammerte plötzlich seine Hände an ihre Arme. Er winkelte die Beine an und zog sich an ihren Armen festhaltend auf das Dach, bis seine Füße Halt fanden.

      Sie wunderte sich über ihre Kräfte. Hatte sie die Zeit, von der sie nicht wusste, wie lang sie eigentlich gewesen war, in einer Muckibude verbracht und nicht in einem Sarg? Dass ihr das Gehirn diese ironischen Gedanken zuspielte, verschaffte ihr Erleichterung, in ihrer Situation der völligen Ungewissheit.

      Als er endlich auf dem Dach lag und sie erleichtert ausatmete, betrachtete sie ihn, etwas nach hinten versetzt neben ihm liegend. Er war noch größer, als sie sich ihn vorgestellt hatte,