SPES. Martin Creutzig

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Название SPES
Автор произведения Martin Creutzig
Жанр Научная фантастика
Серия
Издательство Научная фантастика
Год выпуска 0
isbn 9783934900554



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nicht zu sehen und nicht zu hören. Das Volk wurde auf den Straßen zurückgelassen. Für einen kleinen Moment stand Rocco bewegungslos auf der Straße, wusste sich keinen Rat und hasste seine Hilflosigkeit. Es war ein Dilemma. Denn er schwor auf seinen Eid als Arzt, aber es war ihm klar, dass es an Selbstmord grenzen würde, in diesem Moment helfend einzugreifen. Schließlich ging der Selbstschutz vor Fremdschutz und er trug eine gehörige Verantwortung auch gegenüber seiner Familie. Und es wäre niemandem in der Bewegung gedient, wenn er sich jetzt umbringen ließe. Rocco ging weiter, die Schreie der Verletzten so gut es ging ignorierend, während sein Herz sich zusammenkrampfte.

      In diesem Moment hätte Rocco am liebsten Pazifist werden wollen. Allein die Grundfesten seiner humanistischen Bildung, die er während seines Studiums in Frankreich erfahren hatte, hinderten ihn daran. Aber er hätte al-Baschir persönlich umgebracht, wenn er ihn in die Finger bekommen hätte.

      Rocco hatte sich von dem Platz abgewandt, er musste sich nicht einmal umdrehen, um zu sehen, was er sowieso schon wusste. Der Platz war leergefegt, aber ein kurzer Blick in die Seitenstraßen bestätigte seine Befürchtungen. Auch aus den Seitenstraßen waren die Demonstranten geflohen und wer dort noch auf dem Asphalt lag, war tot. Und der Tod lag da mannigfach.

      So wie er lebte, lebte er ziemlich gefährlich. Es war Zeit, sich zurückzuziehen, sich nicht noch mehr zu gefährden, denn Rocco sorgte sich um seine Familie. Die Angst um seine Familie war seine größte Angst, seit er mit dabei war bei der Protestorganisation. Sechs Jahre waren das schon. Da war sein Jüngstes noch gar nicht geboren. Starb er, verhungerte seine Familie nicht. Aber nahe am Elend war sie dann schon, fiele er als Ernährer der Familie aus. Denn Gianna kümmerte sich um die Kinder. Der Sudan als Sozialstaat war mit Italien überhaupt nicht vergleichbar, das wusste Rocco. Seine Frau hatte aus freien Stücken die sudanesische Staatsbürgerschaft angenommen. Rocco hatte versucht, sie davon abzuhalten. Allein die schwachen Sozialleistungen in seinem Land konnten einen Notfall zum Desaster werden lassen. Zudem kannte er ihre Sehnsucht nach Italien, einem Land, das er nie besucht hatte. Andererseits, hätte er ihr Bekenntnis zu ihm ablehnen, bekämpfen sollen? Denn ihr Bekenntnis zum Sudan meinte eigentlich ihn und nur ihn.

      Als er in eine Nebenstraße abbog, traf er auf Se. Se war ihr Pseudonym für die internationale Presse, seit sie die Führung im Ärztekomitee übernommen hatte. Sie war alleinstehend und hatte keine eigene Familie. Sie war jung, klein und etwas dicklich. Es sah lustig aus, als die beiden, er der Hüne und sie die kleine Runde, nebeneinander herliefen. Sie war mit kurzen Beinen geboren worden, die zueinander standen wie ein X. Doch das machte ihr nichts aus. Denn sie verzauberte die Menschen mit ihrem gewinnenden Lächeln und ihrem lauten fröhlichen Lachen. Rocco mochte sie. Sie war straight und zupackend und eine wertvolle Kollegin.

      Weil sie den gleichen Weg hatten, hatten sie beschlossen, gemeinsam zur Demonstration zu gehen. Aber Rocco war am verabredeten Punkt nicht rechtzeitig erschienen, daher freute er sich, auf dem Rückweg auf sie zu treffen. »Meine Jüngste hat Fieber«, sagte er etwas tonlos als späte Erklärung. Se nickte nur. Sie beide hatten die Vorfälle während der Demo mitgenommen. Ses kurzes lockiges Haar stand zu allen Seiten ab, sie hatte Spuren von Dreck im Gesicht und Rocco hatte einen aufgeschürften Arm, weil er von einer fliehenden Menschenmasse ein paar Meter mitgerissen und gegen eine Wand gepresst worden war. Dieser Tag war kein Erfolg für ihre Bewegung im Sudan.

      Schweigend schlurften die beiden Aktivisten über die staubigen Straßen. Rocco sah Se an. Sie ahnte, welche Frage er stellen wollte, und sie schüttelte nur ihren Kopf. Sie hatte das Katz-und-Maus-Spiel nicht geplant und wie es hatte passieren können, erfuhr auch sie nicht. Es war beeindruckend gewesen, doch das Ende war so schockierend, dass sie beide keine Lust hatten zu sprechen, Spekulationen auszutauschen, Meinungen einzuholen oder das Desaster schönzureden. Weswegen Schweigen eine gute Einigung war.

      Sie bogen in die Straße ein, in der Rocco mit seiner Familie wohnte. Es war kein kleines Haus, auch das Grundstück war recht groß. Eine hohe Mauer schützte die Liegenschaft und die Familie, die darin wohnte, vor Dieben, Entführern, Mördern. Die Mauer krönten Stacheldraht und Kameras. Er lächelte. Wieder einmal geschafft, zurück in seiner Zuflucht.

      Noch zehn Meter bis zu Hause. Er nahm Se in seine Arme, drückte sie. Sie wohnte ein paar Straßenzüge weiter entfernt. Ein kurzer Weg. Er konnte sie ungefährdet gehen lassen. Rocco wandte sich ab und seinem Heim zu. Er freute sich auf seine Frau und seine beiden Kinder, dann trat er auf die Eingangstür zu und auf etwas, das aussah wie eine plattgetretene Dose Cola, aber von silbriger Farbe. Die Straße war sandig, nur deshalb fiel es ihm auf, es fühlte sich nicht mehr sandig unter seinem rechten Fuß an, da war etwas Festes.

      Rocco sah nach unten auf seine Schuhe. Das Ding war nicht länglich, es war rund, kreisrund, es glänzte und er war darauf getreten. Er wusste, was das bedeutete. »Se, lauf!«, schrie er und in diesem Moment, er hatte den Fuß leicht anheben wollen, explodierte die Tretmine.

      Se war schon einige Meter vorausgelaufen, als er rief, warf sie sich auf den Boden. Sie bekam nichts ab, doch Rocco spürte einen plötzlichen Ruck durch seinen Körper fahren. Eben noch hatte er die Freude, es weitgehend unverletzt von der Demonstration nach Hause geschafft zu haben, verspürt sowie die Vorfreude darauf, seine Frau, seine Kinder im Arm zu halten und ihnen von den schrecklichen Geschehnissen zu erzählen. Er spürte den Schmerz nicht, als er von den Füßen gerissen und durch die Luft geschleudert wurde. Er landete einige Meter entfernt, noch bevor er realisierte, dass er nicht mehr stand. Der Schreck ließ ihn nur starr werden und mit Mühe richtete er seinen Blick an sich nach unten auf sein Bein, er sah ungläubig seinen Unterschenkel an seinem Knie baumeln, als gehörte er nicht zu ihm. Dass sich ein Stück seines Körpers ohne seinen Willen pendelnd bewegte, hielt ihm all die Fassungslosigkeit vor Augen, die mit der Starre seines Körpers gut harmonierte, denn er war zu einem tragischen Denkmal seiner selbst geworden.

      Als nächstes schweifte sein Blick nach oben und er spürte einen beißenden Schmerz im rechten Arm. Durch den leicht zerfetzten Ärmel hindurch konnte er ihn nicht sehen, denn sonst hätte er bemerkt, dass nur die Röhre des Ärmels seinen zerstückelten Arm noch zusammenhielt.

      Und dann kam er. Unter der darauf folgenden Welle des Schmerzes wurde er begraben wie ein untergehender Surfer.

      Was dann folgte, erlebte er wie in einem Zeitraffer. Se lief zurück, erkannte sofort, was passiert war, und stoppte die Blutung des Beins notdürftig, indem sie sich ihre Jeans von ihren massigen Oberschenkeln quälte und mit einem Hosenbein seinen Oberschenkel abband, während sie Roccos Frau instruierte, die wegen des Knalls herausgehastet war, den Stumpf seines Arms mit seinem abgerissenen Hemdsärmel abzubinden. Seine beiden kleinen Kinder starrten ihren Papa mit weit aufgerissenen Augen von der Tür in der Grundstücksmauer an, als hätte er sich heute ein besonders bizarres Abenteuer für sie einfallen lassen.

      Se rief die Ambulanz, die erstaunlich schnell kam. Andererseits war es nicht so erstaunlich, waren doch keine Rettungswagen bei der Großdemonstration gesehen worden. Die Krankenhäuser waren nicht überlastet, denn auf der Demo hatte man einfach sterben lassen.

      Doch auch Rocco starb, kaum war er im Krankenhaus angekommen. Der Blutverlust war zu groß. Er war kurz bei Bewusstsein, während er panisch keuchend nach Sauerstoff schnappte, der ihm durch den Blutverlust im Körper fehlte. Se schrie die Kollegen in der Notaufnahme an und lief los auf der Suche nach Blutkonserven. Irgendjemand drückte ihm eine Atemmaske aufs Gesicht und presste Hände auf seine zuckenden Gliedmaßen. Er sah, wie seine Frau zur Seite gedrängt wurde, mit tränenüberströmtem Gesicht die Arme nach ihm ausstreckte, und er zog mit der unverletzten Hand die Maske herunter, lächelte sie an und flüsterte: »Ich liebe dich! Sag unseren Kindern, dass ich sie immer geliebt habe! Ich glaube, ich werde wieder …« Er brachte seinen Satz nicht zu Ende, denn sein Kopf fiel schlaff zur Seite, als ob er in dem fensterlosen Raum der Notaufnahme nach draußen in einen Himmel schaute.

      Se stieß einen Schrei aus, als sie mit zwei Blutkonserven zurückkam, und boxte alle zur Seite, um eine Herzmassage zu beginnen. Die Kollegen ließen sie machen. Sie wussten, dass es sinnlos war. Rocco hatte sich verabschiedet. Nun kämpfte der Rocky des sudanesischen Volkes nicht mehr.

      Gianna traf eine schmerzliche, aber gute Entscheidung. Rocco wurde zwei Tage später in einem anonymen Grab der Regierung beigesetzt,