SPES. Martin Creutzig

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Название SPES
Автор произведения Martin Creutzig
Жанр Научная фантастика
Серия
Издательство Научная фантастика
Год выпуска 0
isbn 9783934900554



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Seit 2013 war er dabei, wenn auch damals das Militär zweihundertzwanzig Zivilisten tötete und dadurch die Proteste zunächst erstickte. Das war das Jahr, in dem die Ärzte aus Protest gegen das Regime landesweit streikten und damit begannen, die Demonstrationen zu organisieren. Als Arzt hatte er von Anfang an mitgemacht. Seinen klaren Verstand machte er sich hierbei zunutze wie auch seine tiefe, sonore Stimme, die in Verbindung mit seinem logischen Denken die Fallstricke jeder komplizierten Diskussion binnen Sekunden entflocht und Überblick verschaffte. Er strahlte eine in sich ruhende Autorität aus, die ihren Ausgangspunkt in seiner Größe nahm; selbst für einen Mann war er überdurchschnittlich groß.

      Diese Debatten über Anträge für Genehmigungen bei Behörden und die beste Vorgehensweise, die scheinbar kein Ende nehmen wollten, hatte es unter den Ärzten zuhauf gegeben, wenn es um die Vorbereitung weiterer Demonstrationen ging oder um die Frage, welchen Pressevertretern man wirklich trauen konnte. In einer Gruppe von Menschen meist etwas abseits stehend, verschaffte er sich stets einen Überblick, bevor er eingriff oder zu Hilfe gerufen wurde. Se, die Anführerin der Opposition, rief nach ihm: »Rocco, wir brauchen dich hier mal bitte! Die einen können mit den Vorgaben der Behörden für die nächste Demonstration leben und die anderen sehen darin eine inakzeptable Einschränkung ihrer Meinungsfreiheit.« An der Wand lehnend und konzentriert zuhörend drängte er sich sanft in den streitenden Kreis. Menschen vor ihm drehten sich um, sahen zu ihm auf, wenn er mit ruhiger, tiefer Stimme die Kontroversen der Debatten befriedete. Er nahm den Argumenten die sie begleitende Emotion und zeigte, wie weit die Pro- und Contrapunkte wirklich auseinanderlagen. Dann machte er einen Vorschlag, oft ein Brückenschlag zwischen nur zentimeterweit auseinanderliegenden Positionen. Diese seine Besonnenheit brachten ihm nicht nur den Ruf des Streitschlichters ein, sondern auch Respekt und Ansehen, von denen er zwar Kenntnis hatte, jedoch ohne dass er sie ausnutzte. Ihm ging es um die Sache und die war verheerend.

      Seit dem Jahr 2013 hatte sich die Lage im Land dramatisch verschlechtert, vor allem die wirtschaftliche, weil drei Viertel aller Ölfelder sich im abgespaltenen Süd-Sudan befanden. Die Preise stiegen und die Arbeitslosigkeit auch. Je schlimmer es wurde, desto menschenverachtender regierte Diktator al-Baschir.

      Doch Rocco kannte Schlimmeres, weitaus Schlimmeres als das, was sich im Sudan gerade abspielte. Doch mit niemandem hatte er diese Erfahrung seines Lebens jemals geteilt, bis er seine Frau kennenlernte und er sich sicher war. Sicher um jeden Satz, den er ihr erzählte; sicher, dass sie ihn verstehen würde. Aber verstand sie wirklich Arianhdhit, den Sudanesen, oder musste ihr Rocco nicht näher liegen? Würde sie die Situation im Land wirklich begreifen?

      In seinen Papieren stand ›Arianhdhit‹. Aber alle nannten ihn nur ›Rocco‹, denn seine Frau war Italienerin. Sie liebte Afrika und die afrikanischen Völker. Es war eine hingebungsvolle und auch romantische Liebe an diesen Kontinent und seine Menschen – vielleicht auch eine idealistische. Sie war als Entwicklungshelferin in Afrika weit gereist. Bevor sie in den Sudan kam, war sie in Uganda gewesen. Sie hatte dort die Berggorillas in ihren Reservaten bewundert, seltene, vom Aussterben bedrohte Tiere in den Bergen des Urwalds. Doch dann waren neue Aufgaben an sie herangetragen worden, die in einem Land, in dem sie sich nie zuvor aufgehalten hatte, dem ›Land der Schwarzen‹, auf sie warteten. Der Sudan bezauberte sie nicht so sehr – aber Arianhdhit, der junge engagierte Arzt, tat es. Ende zwanzig musste er sein, als sie ihn in einer Klinik kennenlernte und sich in ihn verliebte – und ihn einige Zeit später heiratete. Er war schon damals ein Sprachrohr des Protestes, eine Rolle, die er gar nicht angestrebt hatte. Sie aber bewunderte und unterstützte ihn dafür. Nur seinen Namen ›Arianhdhit‹ benutzte sie nicht. Für sie war er von Anfang an Rocco, weil er sie mit seinem muskulösen Oberkörper an Rocky und Sylvester Stallone erinnerte. Mit der Zeit war ihr besonderer Spitzname für ihn von seinen Kollegen übernommen worden: ›Rocco‹ war kraftvoll und rebellisch. Und was zunächst nur als Spaß gemeint war, wurde mit der Zeit sein gängiger Rufname. Seine Frau Gianna freute sich darüber, dass ›ihr starker Rocco‹ nun auch von anderen mit der martialisch um das Recht kämpfenden Filmfigur verbunden wurde. Außerdem musste sie jedes Mal, wenn sie diesen Namen hörte, an ihre italienische Heimat denken, die sie immer mehr vermisste, je mehr sie Rocco liebte. Beide Wahrheiten waren ehrlich. Denn in einem fremden Land zu leben war anders, als in einem fremden Land nur zu arbeiten, egal, wie sehr sie es liebte.

      Rocco war auf den staubigen Nebenstraßen der Hauptstadt Khartoum zu Fuß unterwegs. Er war zu spät dran, er hatte sich zuvor um sein Jüngstes kümmern müssen, das fieberte. Es war eine der Demonstrationen geplant, die in den letzten Monaten immer häufiger von den Ärzten organisiert worden waren. Nur da, wo es unbedingt nötig war, nutzte er die Hauptstraßen, um zum Green Yard zu gelangen, einem prominenten, großen Platz mitten in der City von Khartoum. So war es sicherer. Möglicherweise hatte sie ihn schon lange unter Beobachtung, aber bemerkt hatte er nichts. Wobei, was machte er sich vor? Sicher hatten sie ihn auf ihrem Schirm! Immer hatte er auch ein wenig Angst dabei, zu den Demonstrationen zu gehen. Angst zu haben war klug und besser als ein dümmlicher Mut. Er erreichte den Platz zu spät, wie er feststellte, denn Tausende waren bereits dort und skandierten laut: »Freedom, Peace, Justice.« Auf die anderen Parolen hörte er schon gar nicht mehr. Er sah die Menge an Menschen mit Befriedigung. Denn wieder waren mehr Teilnehmer gekommen als beim letzten Mal. Das war das eigentliche Ziel der häufigen Demonstrationen: das Volk gegen seinen Diktator zu mobilisieren. Aus einer Welle gleichzeitig gebrüllter Forderungen wurde eine Woge, eine mächtige akustische Woge, die weithin zu hören war. Ihn durchströmten Freude und ein gewisser Stolz. Dies war groß!

      Rocco konnte zum verabredeten Treffpunkt des Organisationskomitees der Ärzte nicht vordringen – es war bei den Menschenmassen schier aussichtslos. Er sah auf seine Armbanduhr. Was würde die Polizei tun, wenn sich die Demonstration weiter hinzog, wenn mehr Menschen dazustießen?

      Als die Polizei und später die Armee eingriffen, wie zu erwarten gewesen war, passierte etwas noch nie Dagewesenes: Die Demonstranten ließen sich zerstreuen – die Demonstration löste sich zeitweilig auf, doch nur, um sich an anderer Stelle wieder zu versammeln! Der Green Yard leerte sich rasch unter dem Druck der Ordnungshüter, Rocco stellte sich in einen Hauseingang, um den Abzug der Bürger zu beobachten. Dann folgte er ihnen und sah, dass sie ganze Straßenzüge in der Nachbarschaft besetzten! Rocco konnte sich nicht vorstellen, dass diese neue Variante eine Idee des Organisationskomitees war. Andererseits war er außerstande zu erklären, wie die Kommunikation unter den Demonstranten funktionierte, die zu diesem Katz-und-Maus-Spiel geführt hatte. Sie agierten wie ein riesiger Schwarm, als gäbe es eine kollektive Intelligenz! Er war beeindruckt. Und er sah dieses Spiel mit großer Sorge, denn die Soldaten würden sicherlich – mit ihren Nerven am Ende – bald schießen, scharf schießen, gezielt töten oder zutreffender – wahllos umbringen.

      Immer wieder flüchteten Demonstranten in Straßenzüge, versammelten sich dort erneut, skandierten lauter und lauter und provozierender. Immer mehr Menschen drängten von außen in die Seitenstraßen, beteiligten sich an der Demonstration. Die Ohnmacht des Militärs angesichts der schieren zahlenmäßigen Übermacht lag greifbar in der Luft wie auch die Anspannung der Offiziere. Sie durften das Heft des Handelns nicht aus der Hand geben.

      Dieses Spiel endete so, wie es Rocco befürchtet hatte: Mit den Schreien der zahlreichen Getroffenen während des Großeinsatzes der Armee. Al-Baschir war ein Diktator und Diktatoren hatten ungerechte Armeen, die sich – und das war der eigentliche Frevel – gegen das eigene Volk richteten.

      Es war nun eine andere Woge, die durch die Straßenzüge hallte. Die Rufe nach Freiheit und Gerechtigkeit hatten dumpf, tief und bedrohlich geklungen. Die Massen hatten rhythmisch mit den Füßen gestampft, als träten sie mit ihren Füßen die Diktatur in den Boden, bis sie endlich verschwunden war, wie in einem tiefen Grab und mit ihr die Waffen und das unnötige Verrecken.

      Die Schreie der Verletzten dagegen waren Schreie der Verzweiflung, hohe Töne, schrille Töne, kaum auszuhalten. Dazwischen krachte das Stakkato der Salven von Maschinenpistolen – und es krachte von allen Seiten. Untermalt wurde das Konzert des Schreckens vom Bass der Sterbenden, die ihre letzten Züge atmeten. Diese dunklen Laute waren die Melodie, die letzten Laute vor dem sicheren Tod. Diese Woge war es, die Rocco ins Mark fuhr und sich unauslöschlich in seine Gene eingrub wie ein Stempel, gestempelt mit bleibender Farbe eines