Die letzte Blüte Roms. Peter Heather

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Название Die letzte Blüte Roms
Автор произведения Peter Heather
Жанр История
Серия
Издательство История
Год выпуска 0
isbn 9783534746620



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Gesetze.

      In einer berühmt gewordenen Stelle bei einem römischen Autor verkündet der westgotische König Athaulf, er habe den Plan, das Römische Reich durch ein gotisches zu ersetzen, aufgegeben, weil seine Anhänger nicht in der Lage seien, sich an schriftlich fixierte Gesetze zu halten. Seine beste Option, fand er, bestand darin, das gotische Militär dazu einzusetzen, Rom zu unterstützen. Und bei einem anderen Autor bricht ein ehemaliger römischer Kaufmann, der inzwischen ein wohlhabender Hunne ist, in Tränen aus, als er sich daran erinnert, wie angenehm das Leben damals war, als sich die Menschen noch an das kodifizierte römische Recht hielten. Überhaupt kam das Erlassen von Gesetzescodices im poströmischen Westen einer Deklaration gleich, dass das eigene Gemeinwesen nun dem Club zivilisierter christlicher Nationen angehörte, selbst wenn diese Gesetze in der Praxis gar nicht zur Anwendung kamen.9 Gesetze eigneten sich dafür deshalb so gut, weil sie jeden Bürger, den Adligen wie den Bauern, innerhalb einer festgelegten Sozialstruktur verorteten. Das geschriebene Recht war eine Gabe Gottes, die dazu diente, allen Menschen den Platz zuzuweisen, der ihnen gebührte.

      Das Christentum hatte auch einen Einfluss auf die religiöse Komponente des Berufsbilds des Kaisers. Die römischen Kaiser hatten schon immer auch eine religiöse Funktion gehabt; seit Augustus gebührte allein dem Kaiser der Titel Pontifex Maximus, und als solcher trug er letztendlich die Verantwortung dafür, dass die Götter dem Imperium gewogen waren. Dazu hielt er beispielsweise bestimmte Sühne-Rituale ab, wenn Omina (Vorzeichen) oder Ereignisse darauf hindeuteten, dass die Unterstützung der Götter ausblieb. Da es im Christentum bereits die »Fachleute« gab, die für alle Rituale verantwortlich waren, wurde schnell klar, dass der Kaiser nicht länger als bloßer Priester gelten konnte. Als Gottes Stellvertreter hatte er nach wie vor eine einzigartige Beziehung zum Göttlichen und behielt eine allumfassende religiöse Autorität. Genau das aber machte seine Beziehung zur christlichen Priesterschaft so kompliziert – Kaiser und Bischöfe brauchten eine gewisse Zeit, allein um auszuhandeln, ob und wie der Kaiser an einer öffentlichen Messe teilnehmen konnte, ohne dass seine religiöse Autorität von den Priestern kompromittiert wurde, die ganz offensichtlich Dinge tun konnten, die dem Kaiser nicht möglich waren.10 Es gab auch immer wieder christliche Führungspersönlichkeiten, die die religiöse Autorität des Kaisers in bestimmten Situationen hinterfragten. So sind mehrere Darstellungen von Heiligen und Bischöfen überliefert, die den Inhaber des kaiserlichen Throns zurechtwiesen. Ende des 5. Jahrhunderts verwendete Papst Gelasius in einem Brief an Kaiser Anastasios I. in Konstantinopel eine Metapher von zwei Schwertern, die suggerierte, dass sich die kaiserliche Autorität nicht auf das Heilige erstrecke.11

      Zu diesem Zeitpunkt musste sich Gelasius zumindest vor Ort in Rom schon nicht mehr mit einem Kaiser auseinandersetzen, denn die westliche Hälfte des Römischen Reiches war eine Generation zuvor bereits Geschichte. Spätrömische Kirchenmänner, so prominent sie auch sein mochten, hätten aber ohnehin nicht gewagt, dem Kaiser offen ablehnend zu begegnen. In privaten Briefwechseln mit ihren Anhängern ließen sie sich manchmal zu unverschämten Bemerkungen über einzelne Kaiser hinreißen, mit denen sie unterschiedlicher Meinung waren, aber insgesamt übten die Kaiser von Konstantin bis Justinian de facto und de jure Macht über die Kirche aus.

      Tatsächlich setzte die Bekehrung Konstantins, was das Wesen und Wirken der christlichen Religion betrifft, eine Revolution in Gang, die mindestens ebenso umfassend war wie die Veränderungen, die die Strukturen und Ideologien des Imperiums durch das Zutun der Religion erfuhren. Man definierte wichtige Dogmen wie die Dreifaltigkeit, richtete neue Herrschaftsstrukturen ein, die die Rechte und Pflichten von Bischöfen, Erzbischöfen und Priestern definierten, und legte neue Regeln für religiöses und moralisches Verhalten fest.

      Die Kaiser spielten dabei eine zentrale Rolle. Sie beriefen große Konzilien ein, an denen theoretisch die Gesamtheit aller christlichen Kirchen teilnahm (daher der Begriff »ökumenisches Konzil«), führten dort den Vorsitz und legten sogar die Tagesordnung fest. Bei diesen Konzilien wurden viele der erwähnten Punkte beschlossen – die erste solche Zusammenkunft fand 325 in Nicäa statt.

      Die ranghöchsten Kirchenmänner der spätrömischen Zeit waren die fünf Patriarchen: die Bischöfe von Rom, Alexandria, Antiochia, Jerusalem und Konstantinopel. Vier dieser fünf Bischofssitze waren jeweils von einem der Apostel Christi gegründet worden (Konstantinopel war Bischofssitz, weil es als »neues Rom« dem alten Rom in nichts nachstehen sollte). Rom sah sich selbst als prestigeträchtigste dieser fünf Städte, aber die anderen vier teilten diese Ansicht nicht, und eine päpstliche Autorität, wie sie im Hochmittelalter entstand, existierte noch nicht. Dass nur der Kaiser ein ökumenisches Konzil einberufen konnte und die Patriarchen lediglich für regionale Konzile zuständig waren, zeigt noch einmal deutlich, welche religiöse Autorität der Kaiser besaß. In der Praxis erzwangen Kaiser auf den Konzilien Entscheidungen, ernannten hochrangige Kirchenmänner, und die Gesetze, die sie erließen, enthielten viele wichtige formelle Anordnungen für die Kirche. Der ambitionierteste formale Anspruch auf Autorität über die westliche Kirche aus spätrömischer Zeit unterstreicht diesen Punkt; es handelt sich um einen im Jahr 445 verfassten Text, der erklärt: »Nichts darf gegen oder ohne die Autorität der römischen Kirche getan werden.« Dass dies in der Praxis aber völlig ignoriert wurde, ist ein ganz wesentlicher Punkt – es sollte noch einmal siebenhundert Jahre dauern, bis diese Anordnung Wirkung zeigte; ein anderer ist, dass sie aus der Gesetzgebung des weströmischen Kaisers Valentinian III. stammt. In der Realität fungierte der spätrömische Kaiser als Oberhaupt der sich rasch entwickelnden christlichen Kirche (wie es die Auffassung des Kaisers vom göttlichen Ursprung seiner Autorität ja bereits nahelegt), und die Kirche selbst war im Großen und Ganzen eine Unterabteilung des römischen Staates. Mit anderen Worten: Die meisten Reichsbewohner, nicht nur kirchliche Amtsträger, akzeptierten nach wie vor, dass der Kaiser das Recht hatte, eine allumfassende religiöse Autorität auszuüben.12

      Gegenüber dieser Neudefinition seiner religiösen Autorität blieben die meisten anderen Elemente des kaiserlichen Amtes im Wesentlichen unverändert. Was die Zivilgesellschaft betraf, so galt es als Pflicht des Kaisers, die wichtigsten Institutionen der civilitas zu schützen, indem er Vorgaben machte, wie der Verwaltungsapparat und die Beamten, aus denen dieser Apparat bestand, das Reich zu regieren hatten. Laut Themistios, einem politischen Berater des Kaisers im 4. Jahrhundert, war die wichtigste kaiserliche Tugend in diesem Zusammenhang die Philanthropie: die Liebe zu den Menschen (und zwar zu allen Menschen, nicht zu ein paar Auserwählten oder Gruppen). In den ideologischen Konstrukten der Griechen und Römer war dies die göttliche Tugend schlechthin; sie ermöglichte es dem Kaiser, für alle seine Untertanen zu sorgen, indem er die wichtigsten gesellschaftlichen und kulturellen Institutionen förderte, die die civilitas stützten. In der Praxis bedeutete es, dass der Kaiser in einer ganzen Reihe wichtiger Bereiche angemessen handeln musste (oder zumindest so tun musste, als handelte er so). Was das Rechtssystem betraf, so musste er die juristischen Strukturen aufrechterhalten, die die Römer immer häufiger als zentrales Merkmal wahrnahmen, durch das sich ihre zivilisierte Gesellschaft von all den barbarischen Nachbarvölkern unterschied. Ab dem ausgehenden 3. Jahrhundert waren in der römischen Welt größtenteils die Kaiser für die Gesetzgebung zuständig; sie galten für gewöhnlich als »lebendiges Recht« – auf Griechisch nomos empsychos.13 Sie konnten Gesetze erlassen (und manchmal auch brechen), wie es ihnen beliebte, doch da das Recht in ideologischer Hinsicht eine so wichtige Rolle spielte, mussten sie stets in der Lage sein zu demonstrieren, dass das, was sie taten, die Ideale der vernünftigen civilitas unterstützte, auch wenn es sich in Wirklichkeit – wie nicht selten der Fall – ganz anders verhielt.

      Eine zweite wichtige zivile Funktion des Kaisers bestand darin, alle hohen Beamten zu ernennen, die in ihrer Gesamtheit den Herrschaftsapparat bildeten. Der Kaiser war der oberste Autokrat, aber wie jeder Autokrat, der über riesige Gebiete mit eingeschränktem Bürokratieapparat herrscht, erledigten de facto seine Beamten die Regierungsgeschäfte; diese besaßen ein hohes Maß an Autonomie. Die ersten Phasen seiner Regierungszeit war ein Kaiser folglich mit der Ernennung neuer Beamter beschäftigt und damit, Beziehungen zu einer ganzen Reihe lokaler Lobbyisten herzustellen, um sich so ein funktionierendes Regime aufzubauen. Wiederum wurde viel von dem, was da geschah, von der Realpolitik diktiert, doch wie Themistios es ausdrückte, formte ein Kaiser den Charakter seines Regimes durch die persönlichen Qualitäten seiner