Die letzte Blüte Roms. Peter Heather

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Название Die letzte Blüte Roms
Автор произведения Peter Heather
Жанр История
Серия
Издательство История
Год выпуска 0
isbn 9783534746620



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eines Römischen Reiches, das sich immer noch nicht ganz daran gewöhnt hatte, dass es im Jahrhundert zuvor die gesamte westliche Hälfte seines Territoriums eingebüßt hatte. Das Römische Reich war das größte, das es im Westen Eurasiens je gegeben hatte, und noch dazu existierte es länger als alle anderen. Nach einem halben Jahrtausend – gegenüber einer solchen Zeitspanne sieht man die europäischen Empires des 19. und 20. Jahrhunderts mit ganz anderen Augen – hatte es nun, im dritten Viertel des 5. Jahrhunderts, erlebt, wie alle seine westlichen Provinzen unter die Kontrolle diverser fremder Militärmächte gerieten: Angeln und Sachsen übernahmen in Britannien das Ruder, Franken und Burgunden in Gallien, Westgoten und Sueben auf der Iberischen Halbinsel und Vandalen und Alanen im Westen Nordafrikas (dem heutigen Libyen, Tunesien und Algerien). Italien, das frühere Herz des Imperiums, und damit natürlich auch die Stadt Rom wurden von einem Exilfürsten der Skiren regiert, der nach Italien geflohen war, nachdem im Jahr 460 das Königreich seines Vaters zerstört worden war: Odoaker. Er hatte in Italien einen Staatsstreich angezettelt, bei dem im Sommer 476 Romulus Augustulus als letzter weströmischer Kaiser gestürzt worden war – Odoaker hatte dann die Insignien des Westkaisers nach Konstantinopel schicken lassen.

      Im Laufe des halben Jahrhunderts, bevor Justinian Kaiser wurde, durchlief Europa weitere Veränderungen: Vor allem konsolidierten die merowingischen Franken ihre Macht und expandierten von ihrer ursprünglichen Machtbasis im heutigen Belgien aus nach Süden und Westen, und zwischen 489 und 493 eroberte der Ostgote Theoderich Odoakers Königreich in Italien (Karte 1).

      Nicht erst seit der Zeit des großen britischen Historikers Edward Gibbon diskutiert die Fachwelt über die Ursachen dieses erstaunlichen Niedergangs der Hälfte eines Kaiserreichs. In den letzten Jahren wurden die Stimmen der Revisionisten immer lauter: Sie versuchen, bei den Ereignissen des 5. Jahrhunderts sowohl die Rolle fremder Völker als auch das Ausmaß der stattgefundenen Gewalt kleinzureden. Ihrer Ansicht nach waren es verschiedene römische Interessengruppen, die beschlossen hatten, sich nicht mehr an den organisatorischen Strukturen des Imperiums zu beteiligen, und für ihre Ziele teilweise romanisierte Außenstehende einsetzten (wie die Franken und Ostgoten), denen sie somit den Weg zu einer lokalen Autonomie ebneten. Ein Buch über Justinian und seine Zeit bietet leider keinen Platz für eine ausführliche Diskussion dieses umstrittenen Themas. Dennoch werden wir uns in den folgenden Kapiteln ein wenig eingehender insbesondere mit den Vandalen, den Alanen und den Ostgoten beschäftigen, weil sie ins Visier von Justinians Armeen gerieten. Auch wenn der revisionistische Diskurs in bestimmten wissenschaftlichen Kreisen eine beträchtliche Anziehungskraft hat: In einigen wichtigen Punkten lässt er sich nicht in befriedigender Weise in eine Gesamtdarstellung der Zersplitterung des westlichen Imperiums einfügen.

      Karte 1 Ostrom und die westlichen Nachfolgestaaten 525 n. Chr.

      Weströmische Provinzeliten führten intensive Verhandlungen mit aufstrebenden Mächten (wie den Westgoten und den Vandalen und Alanen), die bereits im dritten Viertel des 5. Jahrhunderts auf römischem Boden Fuß gefasst hatten. Aber das war nur die letzte Stufe eines Prozesses, der mehrere Generationen gedauert hatte und dessen frühe Phasen – als sich diese Gruppen auf römischem Boden etablierten – extrem von Gewalt geprägt gewesen waren. Westgoten und Vandalen/Alanen waren neue Koalitionen, entstanden auf weströmischem Territorium, und sie speisten sich aus zwei beispiellosen Migrationswellen über die Reichsgrenzen hinweg (zwischen 376 und 380 und zwischen 405 und 408). Ursprünglich waren sie Außenseiter des Imperiums; sie zwangen den römischen Staat durch eine ganze Reihe militärischer Siege, ihre dauerhafte Existenz auf römischem Territorium zu akzeptieren – man denke nur an den Sieg der westgotischen Koalition im August 378 in Adrianopel, bei dem an einem einzigen schrecklichen Tag Kaiser Valens den Tod fand und zwei Drittel seiner Armee vernichtet wurden. Dabei war der Tod vieler römischer Soldaten nur das unmittelbarste Problem, das diese Koalitionen von ihrem Entstehen bis zu ihrer Akzeptanz bescherten: Dadurch, dass Westrom ihnen einen Teil seiner Territorien überließ (die Westgoten durften sich in Südwestgallien niederlassen und die Vandalen und Alanen später in Nordafrika), büßte es auch einen Teil seiner regelmäßigen Einnahmen ein, und so wurde es immer schwieriger, in ausreichendem Maße militärische Streitkräfte zu unterhalten, die eine weitere gewaltsame Expansion seitens der neuen aufstrebenden Mächte im römischen Westen vielleicht hätten verhindern können. Und es waren nun nicht mehr nur Westgoten, Vandalen und Alanen, sondern auch Burgunden, Franken und andere, kleinere Gruppen, die sich im Zuge verschiedener politischer Krisen, die mit dem Aufstieg und Fall des Hunnenreichs Mitte des 5. Jahrhunderts zu tun hatten, auf dem Grund und Boden der Römer niederließen.

      Die zentralisierte Kontrolle der westlichen Provinzen ging im Zuge dieser Entwicklungen verloren, und die Steuereinnahmen des Weströmischen Reiches wurden geschmälert. Und nicht nur das: Bei dieser neuen politischen Großwetterlage hatten die römischen Provinzeliten keine andere Wahl, als mit den neuen Königen um sie herum Geschäfte zu machen. Der Reichtum dieser Eliten rührte von ihrem Grundbesitz her, und genau das machte sie verwundbar – sie konnten ihre wichtigste Einnahmequelle schlichtweg nirgendwohin mitnehmen. Wenn plötzlich ein fränkischer oder gotischer König der wichtigste Herrscher in der Umgebung war, dann musste man sich wohl oder übel mit ihm arrangieren, oder aber man riskierte, alles zu verlieren. Solche Arrangements brachten so gut wie immer finanzielle Einbußen mit sich, aber solange die Gefahr bestand, dass man alles verlor (wie die römischen Eliten in Britannien und im Nordwesten Galliens, die den Zusammenbruch des 5. Jahrhunderts nicht überlebten), verabschiedete man sich lieber nur von einem Teil seines Reichtums. Wer diesen Prozess insgesamt als weitgehend friedlichen und freiwilligen Niedergang eines Imperiums charakterisiert, der klammert sich meines Erachtens zu sehr an das letzte Puzzleteil der Geschichte und sieht nicht das große Ganze, das sich aus all den relevanten Fakten ergibt.3

      Während der Westen im 5. Jahrhundert nicht zuletzt aufgrund groß angelegter Attacken von außen im Chaos versank (insbesondere in den 440er-Jahren, der großen Zeit Attilas und seines Hunnenreichs), blieb die östliche Hälfte des Römischen Reiches stabil. Aus Gründen, die ich in Kapitel 1 näher untersuche, war es Ende des 3. Jahrhunderts und im 4. Jahrhundert zur Regel geworden, dass die riesige römische Welt von zwei Kaisern regiert wurde: Der eine herrschte von Konstantinopel aus über den Osten, der andere von Trier an der Mosel bzw. nicht allzu weit vom Rhein oder Mailand bzw. Ravenna in Norditalien aus über den Westen. Der Ost- und der West-Kaiser gerieten oft aneinander und führten zeitweise sogar Krieg gegeneinander, aber das Römische Reich blieb dennoch ein geschlossenes Imperium, wie sich daran zeigt, dass die übergreifenden rechtlichen und kulturellen Strukturen durch den Aufstieg und Fall diverser kaiserlicher Regimes nie ernsthaft bedroht waren.4 Und während die zentrale kaiserliche Macht im Westen schließlich am Ausbleiben von Steuereinnahmen aus den Provinzen zugrunde ging (insbesondere nachdem die Vandalen und Alanen in den 440er-Jahren die reichen nordafrikanischen Provinzen übernommen hatten), blieben Konstantinopel seine Territorien mit den höchsten Steuereinnahmen größtenteils erhalten: Ägypten, Syrien, Palästina und der Westen Kleinasiens (der heutigen Türkei) waren der wirtschaftliche Motor Ostroms. Und so brutal und erfolgreich Attilas Armeen auf dem Schlachtfeld auch waren, es gelang ihnen nie, den Balkan hinter sich zu lassen und Gebiete jenseits von Konstantinopel zu erobern.

      Der Staat, den Justinian im Jahr 527 erbte, wies somit in kultureller und institutioneller Hinsicht die charakteristischen spätrömischen Strukturen auf (auch wenn es sich um den östlichen Mittelmeerraum handelte, der weitgehend von griechischsprachigen Eliten gelenkt wurde). Die Herrschaftsinstrumente und Mechanismen wirtschaftlicher Organisation in der überlebenden östlichen Hälfte der römischen Welt waren im Großen und Ganzen dieselben wie jene, die schon vor den katastrophalen Ereignissen des 5. Jahrhunderts im gesamten Römischen Reich am Werk gewesen waren. Ganz eindeutig verfügte der Kaiser auch über weitaus mehr Macht und größere Ressourcen als die neuen Königreiche im Westen. Dies sollte sich erst im 7. Jahrhundert ändern, als das Oströmische Reich ein ähnliches Schicksal erlitt wie zuvor Westrom: Zwischen zwei Drittel und drei Viertel seiner Territorien fielen in die Hände der unbezwingbaren Armeen des aufstrebenden Islams, der dem Sand der arabischen Wüste entstieg und sich explosionsartig verbreitete. Was vom Oströmischen Reich übrig blieb, war gezwungen,