Die letzte Blüte Roms. Peter Heather

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Название Die letzte Blüte Roms
Автор произведения Peter Heather
Жанр История
Серия
Издательство История
Год выпуска 0
isbn 9783534746620



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Welt die Bandbreite möglicher Vergleiche von vornherein einschränkte), sondern auch gegenüber jedem denkbaren politischen System. Grundlage dieser Behauptung war ein Mix aus Ideen und Konzepten, die größtenteils der Philosophie und dem politischen Denken des klassischen Griechenland entlehnt waren und die unter dem Dach des römischen Kaiserreichs eine neue Ideologie bildeten.

      Ausgangspunkt war ein spezifisches Verständnis des Menschen und seiner Rolle im Universum: Der Mensch steht an der Grenze zwischen der Welt des Spirituellen, die von überlegenen, vollkommen rationalen Wesen bevölkert ist, und der irrationalen, rein physischen Welt darunter, der alle anderen Lebewesen angehören. Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das zugleich eine rationale Seele und einen irrationalen physischen Körper hat, was bedeutet, dass er die inhärente Fähigkeit besitzt, entweder völlig rational zu werden, sodass die rationale Seele den irrationalen Körper kontrolliert (wie es die göttlichen Mächte vorgesehen haben), oder völlig irrational wie ein ausschließlich von seinen körperlichen Trieben gesteuertes Tier. Die überlegenen, komplett spirituellen Wesen sind zwangsweise rational und die minderwertigen, komplett physischen Wesen irrational. Allein der Mensch hat die Wahl, sich für eine der beiden Richtungen zu entscheiden.

      Dadurch erhielt auch der klassische, griechisch-römische Kulturbegriff eine ganz spezifische Bedeutung. Zivilisation – im Lateinischen civilitas – meinte eine bestimmte Art der sozialen Organisation, die es den Menschen ermöglichte, vollkommen rationale Wesen zu werden, so wie ihr göttlicher Schöpfer es sich wünschte. Konkreter ausgedrückt: Nach der klassischen Theorie gab es eine Reihe spezifischer kultureller Elemente, die der griechisch-römischen Gesellschaft ihre einzigartige zivilisatorische Kraft verliehen, auch wenn diese von verschiedenen Theoretikern unterschiedlich gewichtet wurden. Die charakteristische klassische Bildung der gesellschaftlichen Elite, die Grammatik, Rhetorik und Literatur (auf Griechisch oder Latein) umfasste, galt als wesentlicher erster Schritt. Die Grammatik lehrte Logik und brachte Ordnung ins Denken, die Rhetorik vermittelte die Fähigkeit, beides auszudrücken, und die Literatur lieferte eine Art moralische Datenbank, aus der sich wichtige Erkenntnisse über menschliche Verhaltensweisen und ihre wahrscheinlichen Folgen ziehen ließen. Von Alexander dem Großen etwa konnte man lernen, dass es wenig ratsam war, beim abendlichen Gelage so viel zu trinken, dass man seinen besten Freund mit einem Speer attackierte. Andere Erkenntnisse waren durchaus gehaltvoller. Die Barbaren waren in den Augen der Römer geradezu lächerlich emotional – beim geringsten Erfolg glaubten sie, sie hätten die Welt erobert, beim kleinsten Rückschlag fielen sie in sich zusammen und degenerierten zu einem jämmerlichen Häufchen Elend. Wer sich mithilfe der Literatur mit dem Leben und dem Charakter der Menschen auseinandersetzte, konnten beide Extreme vermeiden.

      Auch die Wichtigkeit ganz nüchterner verschriftlichter Gesetze wurde hervorgehoben, auch wenn sie je nach Kontext Ursache oder Wirkung sein konnten. Einige Theoretiker waren der Ansicht, dass die Gesetze das Individuum daran hinderten, seine eigenen Interessen über die aller anderen Menschen zu stellen. Anders formuliert: Die Bildung sorgte dafür, dass das Individuum vernünftig genug war, um seine persönlichen Interessen dem Wohl der Gemeinschaft unterzuordnen, indem es sich den geltenden Gesetzen unterwarf. Ein weiterer wichtiger Faktor waren selbstverwaltete Städte (civitates, Sg. civitas): Sich mit Gleichgesinnten zu treffen, um vernünftige Debatten zu führen und am Ende gemeinsam wichtige Entscheidungen zu treffen, half bei der Weiterentwicklung der eigenen Vernunft weit mehr, als zu Hause zu sitzen und nur mit Sklaven und Frauen zu interagieren. Wer Letzteres tat, war für Griechen und Römer ganz wortwörtlich ein »Idiot« (Lat. idiota, Griech. idiotes – jemand, der sich ins Privatleben zurückzieht, anstatt sich am öffentlichen Leben zu beteiligen, was zu Vernunft und civilitas führen würde).4

      Dieses Modell war ganz unverhohlen elitär. Nur Angehörige der vermögenden Elite konnten sich eine private klassische Bildung leisten, und dem Stadtrat einer griechischen oder römischen Gemeinde konnte nur angehören, wer über eine bestimmte Menge Grundeigentum verfügte. Außerdem war das Modell eindeutig patriarchalisch ausgerichtet. Zwar sah das Konzept rein theoretisch die Existenz vollkommen vernünftiger Frauen vor, aber in der Realität galten sie als absolute Ausnahme. Die allgemeine Überlegenheit der gesellschaftlichen Institutionen der Griechen und Römer indes war grenzenlos. Unter Bezugnahme auf die Philosophen Pythagoras und Ptolemaios hatten die Griechen und Römer ein Organisationsprinzip entdeckt, das den gesamten Kosmos durchzog und dafür sorgte, dass allen Dingen eine gewisse Ordnung zugrunde lag. Diese Ordnung spiegelte sich im Abstand der Planeten zur Erde genauso wider wie in der Harmonie in der Musik und in den Proportionen in der Architektur.5 Deshalb war die Vernunft so wichtig: Sie half den Menschen dabei, in die Tat umzusetzen, was der Schöpfer sich ausgedacht hatte. Das erklärt auch, wie die Römer – eine letzte, aber für unsere Zwecke entscheidende ideologische Wendung – zur Überzeugung gelangen konnten, das Göttliche habe ein einzigartiges Interesse an ihrem Staat und seinem Schicksal. Auch hier laufen wieder einige Gedankengänge zusammen: Erstens machte die kosmologische Ordnung auch vor der menschlichen Politik nicht halt; kein irdischer Herrscher konnte Macht ausüben, wenn die göttlichen Mächte dagegen waren. Zweitens war die kulturelle und gesellschaftliche Ordnung, die die römische Politik perfektioniert hatte, auf einzigartige Weise im Einklang mit den allgemeinen Zielen des Göttlichen für die Menschheit – nach dieser Logik war das Römische Reich Gottes Werkzeug zur Schaffung vollkommen vernünftiger Menschen; das Wohlergehen des römischen Staates und seine guten Absichten waren damit ein einzigartiges Zeugnis dafür, dass dieser Staat göttliche Unterstützung genoss.6

      Alle diese Gedankengebäude waren längst etabliert, als Konstantin seinen Traum hatte. Sie waren Teil der Ausbildung, die die römische Elite – von adligen Grundbesitzern aufwärts – genoss und die zu diesem Zeitpunkt im gesamten Römischen Reich einigermaßen einheitlich war. Von Schottland bis zum Irak wurden jungen Leuten diese Ideen und Konzepte vermittelt, und alle genossen sie eine sprachlich-literarische Bildung in Latein und/oder Griechisch. Ihre Lehrer waren Grammatiker, Privatgelehrte, wie es sie in jeder größeren Marktstadt des Reiches gab und deren Bildungsprodukt die Conditio sine qua non für eine Aufnahme in die kaiserliche Elite war, sprich: für eine Chance auf eine profitable Karriere innerhalb der politischen und administrativen Strukturen des Kaiserreichs. Es gab gute und nicht so gute Grammatiker, guten und nicht so guten Unterricht, aber alle Grammatiker vermittelten die gleichen Grundwerte und -konzepte; sie waren ein fester Bestandteil des römischen Ausbildungssystems und sorgten über viele Tausend Kilometer hinweg für ein überraschend hohes Maß an kultureller Einheit.7

      Auf den meisten Ebenen passte Konstantins neue Religion in diese Gedankengebäude auffallend gut hinein. Der erste wirklich christliche Theoretiker des Römischen Reiches, Bischof Eusebius von Caesarea, erklärte noch zu Lebzeiten Konstantins, es sei kein Zufall, dass Christus während der Herrschaft des ersten römischen Kaisers, Augustus, zur Welt kam. Das Christentum und das Reich seien im Geiste des Göttlichen miteinander verbunden, und mit der Ankunft der christlichen Kaiser sei es Roms Schicksal, die gesamte Menschheit zum Christentum zu bekehren. In der christianisierten Version der althergebrachten römischen Ideologie war der Kaiser nicht weniger als der Stellvertreter Jesu Christi, der bis zu dessen Wiederkunft an seiner Stelle auf Erden regierte, und der römische Staat war der irdische Ausläufer des Himmelreichs. Jedes staatliche Ereignis galt als direkte verbale und zeremonielle Ausdrucksform dieser zentralen christlichen Ideologie, und eine sakrale Aura umgab die Person des Kaisers und seine Untergebenen. Alles war »heilig«, vom kaiserlichen Schlafzimmer bis hin zum kaiserlichen Finanzamt.8

      Die Gottheit, der so viel am Wohlergehen des Römischen Reiches lag, zum Gott des Alten und Neuen Testaments umzudeuten, war nicht allzu schwierig, doch es gab durchaus auch einige weiter reichende Veränderungen. Im vorchristlichen Reich beispielsweise hatte keiner so recht gewusst, ob der göttliche Plan auch die armen Landbewohner der römischen Welt (85 bis 90 Prozent der Bevölkerung) betraf, die keinerlei Zugang zu jenen Strukturen hatte, die einen Menschen zum vernünftigen Wesen machten, wie Bildung, Stadträte usw. Die Lehre des Christentums hingegen stellte ganz kompromisslos klar, dass jeder Mensch eine Seele habe und dass vor Gott das Heil jeder einzelnen Seele gleich wichtig sei. Aus diesem Grund galten in den entsprechenden Debatten der postkonstantinischen Zeit, soweit sie uns überliefert sind, immer häufiger nicht mehr die Bildung und die Teilhabe an der städtischen Selbstverwaltung als entscheidendes kulturelles