Название | Die Leben des Gaston Chevalier |
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Автор произведения | André David Winter |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783906907475 |
»Hast du deshalb so einen roten Kopf?«, fragte Gaston.
»Nein, nein, wo denkst du hin. Das ist wegen deinen Couplets. Sag noch eines auf, bitte.«
»Du erzählst es nicht weiter?«
»Heiliges Ehrenwort.«
Und Gaston trug eines der Couplets vor, die ihm seine Schwestern beigebracht hatten:
Ein Hurenhaus geriet um Mitternacht in Brand.
Schnell sprang, zum Löschen oder Retten,
Ein Dutzend Mönche von den Betten.
Wo waren die? Sie waren -- bei der Hand.
Ein Hurenhaus geriet in Brand.
Schon blieben die ersten Gaffer stehen, lachten, stießen sich in die Seite.
»Noch ein letztes Mal«, bat Yves.
»Aber jetzt hat es Leute, die uns zuhören.«
»Bitte …«, winselte sein Vater und ließ die Zunge aus dem Mund hängen.
Gaston wiederholte die Verse und sprang danach auf die Beine. Er verneigte sich, und Papa begann mit seiner Darbietung.
Wenn Gaston, der Bär, oder Gaston, der Affe, nach einem langen Tag endlich auf seinem Strohsack lag und an die Couplets dachte, die er tagsüber vorgetragen hatte, bekam er oft Heimweh nach seinem Hurenhaus. Er nahm den Matrosenanzug und Paulettes Haarband aus dem Versteck und strich mit der Hand über den feinen Stoff, die falschen Perlen. Dann roch er daran und meinte, einen kleinen Rest von Paulettes Parfum zu riechen. Er schloss die Augen, sah sie und seine anderen grandes Sœurs in ihren seidenen Miedern, sah sie sich pudern und die Haare vor den großen Spiegeln mit Brenneisen zu Locken drehen. Er sah die roten Gesichter der Champagner trinkenden und Zigarre rauchenden Männer auf den breiten roten Fauteuils. Er drückte den Matrosenanzug an seine Nase, auch den Zigarrenrauch glaubte er noch zu riechen. Sogar an die frisch gewaschenen Laken von Madame Taillard konnte er sich erinnern. Er sah, wie sie sich auf der Wäscheleine im Wind blähten. Er hörte, wie die Wirtschafterin die Stare, die sich gesammelt hatten, um in die Reben einzufallen, mit ihrem lauten Rufen und erstaunlich präzisen Steinwürfen vertrieb. Er spürte Mémère im Bad hinter sich stehen, ihren kontrollierenden Blick und den nassen Kamm, mit dem sie versuchte, seine widerspenstigen Haare zu glätten. Fühlte ihre warme Hand über seine Wange streichen und den Kuss ihrer trockenen Lippen auf seiner Stirn, wenn sie ihn zu Bett brachte.
Wie gerne wäre er in diesen Momenten in Castillon gewesen. Bei ihr und den anderen. Bei Paulette. Würde er sie je wiedersehen? Papa hatte es versprochen. »Im Sommer werden wir sie besuchen«, hatte er gesagt. Bald war Sommer.
Nachts weinte Gaston oft im Schlaf. Sein Kopf rollte hin und her, seine Zunge schnellte im Mund vor und zurück. Dann nahm Yves Gaston in den Arm und sang ihm Il était un petit homme vor.
»Alles ist gut, mein Kleiner«, flüsterte er.
Doch das stimmte nicht. Papa sah nicht, was Gaston in seinen Träumen sah, roch nicht, was Gaston roch. Schorfige Hände krochen von allen Seiten auf ihn zu, griffen nach ihm. Legten sich auf seine Brust, um seinen Hals, drückten zu. Plötzlich verschwanden die Hände, der Schorf blieb, breitete sich auf seinem Körper aus. Veränderte seine Farbe, seine Form, war plötzlich überall, bildete Flecken an den Wänden, auf Tapeten. Aus den Flecken liefen Kühe auf ihn zu, riesige normannische Kühe mit enormen Eutern und mahlenden Zähnen. Aus den Eutern spritzte Milch. Der Boden war voll davon. Überall war sie. Gute, weiße, warme Milch. Er bekam Durst, solchen Durst. Doch bevor er die Milch auflecken konnte, war sie im Boden versickert, aus dem plötzlich Dämpfe stiegen, die nach Pisse stanken. Gastons eigener. Er erwachte und schlich aus dem Wagen, um Bettzeug und Kleider auszuwaschen.
Der Sommer kam. Gaston hatte viel gelernt – vor allem, weniger Fragen zu stellen. Dafür setzte es weniger Ohrfeigen ab. Auf die Frage, warum sie Mémère und die Mädchen nicht besuchten, bekam er eine.
Der Sommer ging, Gaston fragte nie mehr.
Wenn sie länger an einem Ort blieben, schickte Yves ihn in die Schule. Dort holte Gaston den verpassten Stoff in kürzester Zeit nach. Verstand er etwas nicht, half oft das Lexikon des Lehrers.
Wenn sie weiterzogen, fragte Papa ihn auf dem Kutschbock über die Geschichte Frankreichs ab:
»Wer sagte, wer nicht zu täuschen weiß, weiß nicht zu herrschen?«
Gaston schrieb die Antwort auf einen Zettel – so übte er auch zu schreiben – und zeigte sie seinem Vater.
Louis-quatorze.
Der nickte nur.
»Wer war der erste Bourbonenkönig?«
Gaston schrieb es auf und hielt Yves den Zettel hin.
Henri Quatre.
Wieder nickte er.
»Was waren die letzten Worte Jeanne d’Arcs?«
Für Gott und den König, schrieb er.
Diesmal gab es eine Ohrfeige.
IV
Die Jahre gingen ins Land. Gaston wurde älter und glich seinem Vater immer mehr, nur an Größe übertraf er ihn bald. Yves spürte sein Alter, die vielen Pernods, die Gauloises. Nicht alle Verdrehungen gelangen ihm noch schmerzlos. Einmal stürzte er und brach sich das Schlüsselbein sowie ein paar Rippen. In dieser Zeit schlossen sie sich dem Cirque Ancienne an, einem kleinen, schäbigen Wanderzirkus, in dem nur alte Artisten auftraten. Den meisten fehlten ein paar Zähne, manchen alle. Der Feuerschlucker spuckte manchmal Blut, die Jongleure fingen nicht mehr jede Keule, die Clowns brachten das Publikum kaum noch zum Lachen. Am schlimmsten war der Löwe, der in den Vorstellungen einschlief. Die Alten versuchten sich zu helfen. Alle traten sie in Clownkostümen auf, um ihre Fauxpas gewollt wirken zu lassen. Doch trotz dieses »genialen« Einfalls des Direktors war der Zirkus nie mehr als halb voll. Was sich von den Artisten nicht sagen ließ.
Yves war deutlich jünger als die anderen, aber der »Knochenlose« spürte seine gebrochenen Knochen so sehr, dass er nicht auftreten konnte. Gaston musste für ihr Einkommen sorgen. Er riss Billets ab, mistete den Löwenkäfig aus, machte den Ausrufer oder Claqueur, hing Plakate auf, ging überall zur Hand, wo man ihn brauchte. Und die alten Künstler brauchten ihn. Manche konnten sich nicht mehr die Schuhe binden, anderen zündete er den Ofen oder die Zigarette in ihren zittrigen Händen an oder wusch ihnen den Rücken.
»Ah, was für eine Wohltat, mein Kleiner«, schwärmten sie und gaben ihm noch einen Sou. Trotzdem hatte er am Abend oft nicht mehr als ein paar Münzen. Es reichte kaum fürs Essen, denn das halbe Geld ging für Yves’ Gros rouge drauf, Pernod war inzwischen zu teuer geworden.
Als sie eines Abends gar nichts zu essen hatten, wankte Yves zum Direktor und trug ihm sein Leid vor.
»Eh bien, Chevalier, meinst du, du bist der einzige Hungerleider hier? Wenn du weniger trinkst, könnt ihr morgen was essen. Wenn es dir nicht passt, ich halte euch nicht zurück. Und einen Gaston habe ich in zwei Minuten, ohne besoffenen Vater.«
Das war zu viel für Yves. Das konnte er nicht auf sich sitzen lassen. Nach der Rangelei mit dem Direktor drohte der ihm, die Polizei zu rufen.
Schon ein wenig nüchterner stapfte Yves davon und warf alle Flaschen aus dem Wagen. Gemeinsam mit Gaston spannte er das Pferd an, und sie fuhren noch in der gleichen Nacht los. Ihr Lager stellten sie neben einem Bächlein auf und aßen, was Yves aus dem Wagen des Direktors hatte mitgehen lassen. Sie schliefen wunderbar. Am nächsten Morgen badeten sie im kalten Wasser des Bachs. Danach ließ Yves Gaston alles blitzblank schrubben und begann mit schmerzverzerrtem Gesicht seine alten Nummern zu üben.
Am Abend kam Nebel auf, sie nutzten die Gelegenheit und schlichen im Schutz der Dämmerung zu einem nahe gelegenen Bauernhof. Als sie die Anhöhe erreicht hatten, von der aus