Die Leben des Gaston Chevalier. André David Winter

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Название Die Leben des Gaston Chevalier
Автор произведения André David Winter
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783906907475



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      Im Geburtsregister des Pariser Stadtteils Montparnasse und dem Klinikprotokoll des Hôpital Cochin war zu lesen:

      Gaston Chevalier, Sohn der Albertine Chevalier, geboren am 16. Juni 1929, fünf Uhr morgens, Hôpital Cochin, Rue du Faubourg Saint-Jacques 27, in Abwesenheit des Vaters Yves Chevalier.

      Letzteres zumindest stimmte. Gastons Vater war meist abwesend. Sein unstetes Akrobaten- und Wanderleben führte ihn durch ganz Frankreich. Immerhin schickte er von Zeit zu Zeit etwas Geld, doch zum Leben reichte es nicht. Gastons Mutter tat, was sie schon vor seiner Geburt getan hatte, sie arbeitete als Modistin in der kleinen Herrenhutmanufaktur »Les beaux chapeaux pour les beaux« und brachte den Jungen einer Nachbarin, die sich mehr schlecht als recht um ihn kümmerte.

      Wenn sie ihn abends abholte, tingelten sie manchmal alle zusammen durch die Bistros und Cafés von Montparnasse. Sie tanzte mit Gaston im Arm zu den Klängen eines Accordéoniste zwischen anderen Nachtschwärmern oder setzte ihn einer Fremden auf den Schoß, die betrunken mitschunkelte.

      Immer fand sich einer, der sie zu einem Glas Gros rouge einlud. Die Einladungen zum Tête-à-Tête, die dem Gros rouge oft folgten, schlug sie zu Beginn alle aus, irgendwann nahm sie sie doch an, sie zwangen sie jedoch, Gaston zu Hause zu lassen. Zum Trost durfte er in ihrem großen Bett liegen. Ins Fläschchen, das sie ihm gab, hatte sie ein paar Tropfen Wein getan. Alle im Quartier taten das. Wein gab warm, Wein gab Kraft! Und der Junge schlief durch.

      Meist kroch sie erst im Morgengrauen zu ihm ins Bett. Manchmal musste sie aber auch zuerst in irgendeiner Absteige ihren Rausch ausschlafen.

      Gaston wurde älter, und es wurde schwieriger, ihn allein zu lassen. Sie überließ ihn den Kindern auf der Straße und steckte ihnen ein paar Karamellen zu. Wenn die fertig gelutscht waren, vergaßen die Kinder den Bub. Irgendeine Mutter fand den plärrenden Jungen und passte widerwillig auf ihn auf. Wenn Gastons Mutter zurückkam, fauchte die Frau sie an.

      »Hier, nehmen Sie ihren Balg, ich plage mich schon genug mit meinen eigenen.«

      Albertine packte den Jungen und brachte ihn ein paar Straßen weiter zu ihrer Tante und versprach, für ihre tägliche Ration Wein zu sorgen. Sie hatte lange gezögert, diesen Schritt zu tun, aber sie sah keinen anderen Ausweg. Sie brauchte Geld.

      Zu Beginn hatte Gastons Großtante Freude an dem Jungen, er brachte ein wenig Ablenkung in ihr tristes Leben. Aber schon bald ließ auch sie ihn alleine in ihrer schmutzigen Wohnung. Das bisschen Wein, das ihre Nichte ihr brachte, reichte nicht. Wein brauchte man, um zu vergessen. Und es gab viel, was sie vergessen wollte. So vergaß sie auch Gaston. Stundenlang lag oder saß er da, brabbelte etwas vor sich hin. Bald aber starrte er nur noch an die Decke. Manchmal lag ein Stück Brot neben ihm, manchmal nicht.

      Albertine wurde immer unzuverlässiger. Mal kam sie nur jeden dritten Tag mit den zwei Flaschen Gros rouge, dann verstrich sogar eine ganze Woche, bis sie wieder auftauchte. Gastons Großtante hatte genug von ihrer Nichte und deren Sohn, sie entschied, ihn zurückbringen. Als sie zum Haus kam, in dem Albertine wohnte, erklärte ihr die Concierge, Madame Chevalier wohne schon seit Tagen nicht mehr hier.

      »Einfach abgehauen ist sie, ohne die Miete zu zahlen, das Miststück.«

      Albertines Tante schaute die Concierge verdutzt an.

      »Wissen Sie, wo ich sie finden kann?«

      »Bien sûr, in Marseille, ist mit irgend so ’nem Großmaul dorthin abgehauen. Hat ihr wohl das Paradies auf Erden versprochen. Allen im Quartier hat sie es erzählt. Wussten Sie das denn nicht?«

      »Verdammtes Luder«, lallte sie.

      Gaston begann zu quengeln, als hätte er jedes Wort verstanden. Seltsam, dachte seine Großtante, er kann doch gar nicht sprechen. Einen Moment lang sann sie darüber nach, ihn ins Waisenhaus zu bringen, aber dafür steckte ihre Kindheit ihr noch zu sehr in den Knochen.

      Der Junge blieb und verwahrloste zunehmend. Im Alter von drei Jahren konnte er weder sprechen noch gehen. Auch schien er nicht mehr zu wachsen. Sein Kopf rollte hin und her, seine Zunge schnellte im Mund vor und zurück. Dann wieder lag er wie erstarrt da und betrachtete stundenlang die Flecken auf der Tapete oder die Krusten auf seiner Haut. Er schlappte Wasser, Wein oder in Milch eingelegte Brotbrocken aus einer Schüssel am Boden. Manchmal blickte seine Großtante zu ihm hin und fragte sich, wie dieses seltsame Tier in ihre Wohnung gekommen war.

      »Schttt, geh weg, scher dich fort«, zischte sie und scheuchte es fort.

      Aber das Tier blieb, schrie sie sogar an. Sie zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf.

      »So bleib halt, du dummes Vieh.«

      Als Gastons Vater wieder einmal in Paris war und sich nach seinem Sohn erkundigte, fand er ihn nach langem Suchen in der Wohnung der Alten. Gaston lag unter einem schmutzigen Leintuch und lallte vor sich hin. Seine geschlossenen Augen waren verklebt. Yves zog die Decke weg, Gaston war nackt. Sein abgemagerter Körper war über und über mit Kot und Krusten bedeckt. Es stank bestialisch. Yves Chevalier wurde übel.

      Mit Tränen in den Augen nahm er den Jungen hoch und barg ihn in seinem Mantel. Noch immer rollte der Kopf des Kleinen hin und her. Er hielt ihn fest und rannte mit ihm aus der Wohnung. Dabei stieß er einen Stuhl um, die Alte schrak aus ihrem benebelten Schlaf auf.

      »Halt«, keifte sie, »das ist mein Tier, gib es mir, gib es zurück, du verfluchter Dreckskerl«.

      Als Yves aus der Haustür trat, klatschte Wasser von oben auf ihn und seinen Sohn herunter. Die Alte schrie aus dem Fenster.

      »Haltet ihn, er hat es mir gestohlen.«

      Erschrocken blieben die Nachbarn stehen. Sie blickten nach oben und sahen die keifende Alte. In den Armen des Mannes erkannte eine Frau den Kleinen, den sie seit Monaten nicht mehr gesehen hatte.

      »Das ist Gaston, ihr Großneffe«, rief sie und zeigte mit dem Finger auf den abgemagerten Jungen.

      Ein paar Gaffer stellten sich dem Mann in den Weg, umringten ihn.

      Verzweifelt sah Yves den Jungen an, als könne er ihm helfen. Seine Augen waren noch immer geschlossen. Plötzlich öffnete er sie und schaute seinen Vater an. Gaston, sein Sohn, er war noch da.

      »Vergib mir, mein Kleiner, bitte vergib mir.«

      Mit Tränen in den Augen hielt Yves ihn hoch:

      »Schaut, was passiert, wenn ein Vater sein Kind im Stich lässt. Schaut ihn euch an, meinen Sohn.«

      Angewidert blickten die Gaffer auf den verschorften Körper des Kleinen und traten zurück. Sie ließen den Mann vorbei und schüttelten die Köpfe. Sie hatten schon viel gesehen, aber an so etwas konnten sie sich nicht erinnern.

       II

      Yves wusste, den Kleinen konnte er nicht, noch nicht auf seine Tourneen mitnehmen. So brachte er ihn in die Normandie, nach Castillon zu seiner Mutter Yvonne, die dort eine Maison de passe betrieb. Sie war nicht sehr erfreut, als sie das Telegramm las:

      »Komme Montag – bringe Sohn mit – geht ihm schlecht – weiß sonst nicht wohin – Yves«

      Bis dahin hatte sie gar nicht gewusst, dass sie einen Enkel hatte.

      Mein Haus ist ja nun wirklich nicht der richtige Ort für ein Kind, dachte sie. Als sie jedoch den elenden Zustand des Kleinen sah, klatschte sie entsetzt in die Hände und war bereit, Gaston aufzunehmen.

      »Aber nur, bis wir etwas Passenderes für ihn gefunden haben.«

      »Mais bien sûr, Maman«, stimmte Yves ihr zu.

      »Du schickst mir Geld für ihn.«

      »Immer, wenn ich welches habe.«

      »Du kommst ihn regelmäßig besuchen.«

      »Ich verspreche es.«

      Die jungen Frauen, die im Etablissement arbeiteten, waren entzückt,