Die Leben des Gaston Chevalier. André David Winter

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Название Die Leben des Gaston Chevalier
Автор произведения André David Winter
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783906907475



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verraten, nicht wahr, Monsieur Gaston.«

      »Kein Sterbenswörtchen.«

      Manchmal stellten ihn seine grandes Sœurs, nachdem sie ihn fein herausgeputzt hatten, auf einen der Sessel im roten Salon und ließen ihn vor den Zigarre rauchenden Männern ein Gedicht aufsagen. Dafür bekam er jedes Mal ein paar Centimes.

      »Was für ein Prachtkerlchen. Wie heißt du denn, mein Kleiner?«, fragte einer der Männer.

      »Ich bin Gaston, der Bär«, brummelte er.

      Er fletschte die Zähne, zeigte seine Krallen und rollte mit den Augen, wie es die Mädchen ihm beigebracht hatten.

      Der Mann hob seinen Champagnerkelch.

      »Auf Gaston, den Bären.«

      Und Gaston bekam noch ein paar Münzen. Vom selben Herrn und einem anderen mit gezwirbeltem Bart, die sich beide lachend die Bäuche hielten.

      Am Abend, wenn die Mädchen ihrem Gewerbe nachgingen, spähte er gelegentlich durch die Schlüssellöcher und sah die Männer sich auf ihnen wälzen. Manchmal schrien oder stöhnten sie und Gaston wollte ihnen zu Hilfe eilen. Wenn Mémère ihn erwischte, schimpfte sie und schickte ihn in sein Zimmer. Nach einer Weile schlich er in ein leeres Boudoir, setzte sich in einen Sessel und übte vor einer Poudreuse die Grimassen, die seine grandes Sœurs ihm beigebracht hatten.

      »Ich bin Gaston der Affe, schaut nur, wie ich gaffe«, murmelte er.

      Oder – und wieder fletschte er die Zähne: »Ich bin ein Löwe und fresse eine Möwe.« Dazu flatterte er mit den Armen.

      Wenn er vom Faxenmachen müde war, saß er manchmal vor dem Spiegel und schaute sich lange an, bis er sich nicht mehr sah. Seltsam – er sah seine Augen, aber sich selbst nicht mehr. Auch niemand anderen. Er wurde ernst und still, sein Blick leer, er selber leer. Er war nicht mehr, niemand war mehr da.

      Seine Augen füllten sich mit Tränen.

      »Maman«, sagte er, und »Papa«, und schlief weinend ein.

      Wenigstens Papa kam manchmal, wenn auch nicht oft, zu Besuch. Er zeigte Gaston die Plätze, wo er als Kind gespielt hatte, oder sie machten einen Ausflug zum Schloss von Balleroy. Sein Vater kaufte ihm einen kleinen weißen Bären und, wenn er genug Geld hatte, eine Waffel zur Lait au chocolat. Nachts schlief der Vater bei ihm im Bett und wurde zu seinem großen weißen Bären. Wenn er dachte, Gaston schlafe, schlich er zu einem der Mädchen. Gaston wartete voller Angst, bis er wieder kam.

      Am nächsten Tag präsentierte Yves seinem Sohn im Hof die neuesten Kunststücke und zeigte ihm das Plakat. Er jonglierte mit seinen Schuhen, wie aus dem Nichts kamen immer mehr dazu.

      »Damit werde ich berühmt, du wirst sehen, alle werden es sehen.«

      »Yves Chevalier – le céphalopode« stand darauf. Die Bilder zeigten ihn auf dem Kopf gehend oder in den unmöglichsten Verdrehungen. Yves erzählte seinem Sohn vom Grand Cirque Milano, in dem er auftrat und der in Wahrheit ein kleiner Wanderzirkus war, der oft nicht genug Geld hatte, um seine Artisten zu bezahlen. Er berichtete ihm von den Berühmtheiten, mit denen er zusammenarbeitete. Von Marlène etwa, der Fledermaus, die durch die Zirkuskuppel schwebte.

      »Sie hängt an den Beinen ihres Mannes am Trapez, der sich nur mit den Zähnen festhält.«

      Gaston hörte mit großen Augen zu, wenn sein Vater von Alceste, der menschlichen Kanonenkugel, Mireille, der Frau mit Bart, oder dem traurigen Clown Pierrot erzählte. Er sah den Mann sich mit den Zähnen am Trapez festhalten und Marlène, seine Fledermausfrau, durchs Zelt fliegen. Besonders beeindruckte ihn, dass eine menschliche Kanonenkugel ein Loch durch die Zeltwand schießen konnte.

      »Nimmst du mich mit, Papa?«

      »Später, Gaston, später. Zuerst wartet ein anderer Zirkus auf dich, mit vielen Clowns.«

      »Wie heißt er?«

      »Schule, mein Junge. Dort wirst du lernen, mit Buchstaben und Zahlen zu jonglieren. Erst dann kann ich dich mitnehmen.«

      »Ich kann schon lesen.«

      »Ist das wahr? Und schreiben?«

      Gaston schüttelte den Kopf.

      »Siehst du. Du wirst dort schreiben und auch noch anderes lernen, das du später brauchen kannst.«

      »Was denn?«

      »Nun, zum Beispiel, wo die Eisbären wohnen.«

      Er nahm Gastons kleinen Bären, steckte ihn in die Manteltasche und zog ihn aus einem der Hosenbeine wieder heraus.

      Gaston lachte.

      »Außerdem gibt es dort noch andere Kinder. Du wirst viel Spaß haben, du wirst sehen.«

      Mémère und seine Sœurs erzogen Gaston zu einem artigen Jungen. Zwei Jahre nach seiner Ankunft trat er in die Schule ein. Er bekam ein Heft und Stifte und lernte Buchstaben und Zahlen schreiben. Sie zu jonglieren lernte er nicht. Aber schon bald, schien ihm, jonglierten sie in seinem Kopf. Sie purzelten darin herum wie lustige Clowns. Es war ein drolliges Spiel. Er sah, wie sie zuerst kurze Wörter bildeten. Wörter, die er irgendwo gehört oder gelesen hatte. Manchmal verstand er sie, manchmal nicht. Später kamen komplizierte, lange Wörter dazu. Er schrieb sie in sein Heft.

      ANAL.

      WAFFELN.

      DALADIER.

      FEIGWARZE.

      CUNNILINGUS.

      GALGENMÄNNCHEN.

      DAMPFLOKOMOTIVE.

      Als der Lehrer die Wörter sah, bekam er einen roten Kopf.

      »Wo hast du das her?«

      »Aus meinem Kopf.«

      Er gab ihm eine Ohrfeige.

      »Lüg nicht! Das hast du von den Männern in eurem Sündenpfuhl. Dort hast du es gehört.«

      »Was ist ein Sündenpfuhl?«

      »Ein Bordell.«

      »Was ist ein Bordell?«

      Noch eine Ohrfeige. Mémère brauchte das Wort manchmal, er verstand es aber nicht. Auch nicht, weshalb er dafür eine Ohrfeige bekam.

      Am nächsten Tag legte ihm der Lehrer ein dickes Buch hin.

      »Nimm das und schlag darin jeden Tag fünfzig Wörter nach, das wird dir die anderen schon austreiben. Du schreibst nur noch diese Wörter auf, hast du gehört. Und jeden Tag wirst du mir zeigen, was du aufgeschrieben hast.«

      Gaston bat Mémère, ihm ein neues Heft zu kaufen, und schrieb darin die Wörter des Lehrers auf. Seine eigenen Wörter schrieb er in sein Heft und versteckte es. Darauf musste er nun gut achtgeben.

      Es war nicht so, wie Papa gesagt hatte. Schule war nicht lustig, Gaston musste oft weinen. Auf dem Pausenhof spielte niemand mit ihm. Viele Eltern hatten es ihren Kindern verboten. Wer es dennoch tat, wurde verspottet oder gehänselt. Ein paar Jungen aus seiner Klasse lauerten ihm auf dem Heimweg auf und riefen ihm »Hurenbalg« nach. Einmal schubsten sie ihn in den Bach, ein andermal warfen sie ihm Steine nach. Sie stahlen seine Stifte und zerbrachen sie. Gaston hatte keine Ahnung, weshalb.

      Er wusste auch nicht, dass der Lehrer mit dem Pfarrer geredet hatte.

      »So kann es nicht weitergehen, Euer Hochwürden. Wir müssen den Jungen retten und ihn da rausholen, sonst gerät er auf die schiefe Bahn. Er ist sehr intelligent, den Stoff der ersten Klasse hatte er in wenigen Wochen intus. Gehen Sie und holen Sie ihn aus diesem Teufelshaus. Als Vorsteher des Waisenhauses werden Sie doch noch einen Platz für ihn haben.«

      Hochwürden faltete die Hände über dem Bauch.

      »Die alte Chevalier wird ihn nicht einfach so rausrücken, das wissen Sie so gut wie ich.«

      »Ihnen wird schon etwas einfallen. Stürmen Sie dieses Hurenhaus meinetwegen mit ihren himmlischen Heerscharen. Schließlich